Kapitel Neunundzwanzig

E in Ächzen drang an mein Ohr und verdrängte das Bild aus meinem Kopf. Gleichzeitig kehrten meine restlichen Sinne zurück, sodass ich mein rasendes Herz sowie den Stoff meiner Klamotten wahrnahm, der schweißgetränkt an meiner Haut klebte. Ich lag bäuchlings auf einem harten Untergrund, der sich sachte bewegte, fast so, als wäre ich Kate Winslet in der Abschlussszene des Titanic-Films.

»Scheiße! Lollipop!«, rief Phoenix mit einer Mischung aus Schmerz, Gereiztheit und unterschwelliger Sinnlichkeit aus, und ließ mich meinen vorherigen Gedanken umgehend vergessen. »Ich wusste doch, dass du dich auf mich stürzen würdest. Aber musst du dabei so rabiat vorgehen?« Phoenix’ Arm schlang sich um meine Taille und vertrieb die Kälte aus meinem Rücken.

In meinem Kopf ratterte es. Doch bevor ich mich fragen konnte, was hier los war, kippte die Welt um mich herum und mit einem Schlag lag ich nicht länger auf dem Bauch, sondern auf der Seite.

»So ist es besser.« Phoenix atmete erleichtert auf. »Es gibt wirklich schlechtere Arten, als von einer Frau mit vollem Körpereinsatz geweckt zu werden. Nur deine Ellbogen hättest du mir nicht in den Magen rammen müssen.«

Der Redeschwall des Schützen ergab in meinem noch immer latent vernebelten Verstand keinerlei Sinn, weshalb ich die Lider hob. Es dauerte, bis ich trotz der Dunkelheit um uns herum etwas sah. Aber dann erkannte ich Phoenix, dessen Gesicht nah vor meinem schwebte. Er sah mich mit einem lasziven Lächeln an und zu meiner Überraschung musste ich zugeben, dass es sich verdammt gut anfühlte, auf diese Weise an ihn geschmiegt zu liegen. Allein unsere Beine zogen meine Missgunst auf sich. So ineinander verhakt, wie sie waren, presste sich mein Becken viel zu dicht an Phoenix’ Schritt.

Ach du heilige Scheiße! Er trägt nur eine Boxershorts.

Und was ich da wahrnahm, war garantiert kein Traumgespinst.

»Also, Lollipop? Was war dein Plan, als du zufällig auf mich gefallen bist?«, fragte Phoenix und sein Grinsen wurde noch eine Spur verruchter. Obwohl er meine Gedanken nicht lesen konnte, schien er genau zu wissen, woran ich gerade gedacht hatte.

Anstatt Phoenix zu antworten, orientierte ich mich. Links von mir entdeckte ich das Fußende eines Bettes und auf der anderen Seite, hinter dem Rücken des Schützen, stand ein vertrautes Sofa.

Ich schälte mich aus Phoenix’ Griff und setzte mich aufrecht hin. Mein Nacken war steif, in meinem Kopf pochte es und ich konnte dringend eine Dusche gebrauchen.

Seufzend rieb ich mir mit beiden Händen über das Gesicht.

»Ist alles okay?« Phoenix folgte meinem Beispiel und setzte sich ebenfalls hin. Er zog die Beine an die Brust und lehnte seine Unterarme locker auf die Knie.

Zu gern hätte ich Phoenix geantwortet, aber ich war nicht in der Lage dazu. Stattdessen sah ich auf sein Kissen. Drake ruhte dort und schien nichts von unserer Unterhaltung mitzubekommen. Jackson und Olly erging es im Bett ähnlich, und als mein Blick in Richtung des Sofas glitt, entdeckte ich eine weggestrampelte Wolldecke. Jemand – etwa Phoenix? – musste mich zugedeckt haben.

»Hey!« Der Schütze ergriff mit sanften Fingern mein Kinn und drehte meinen Kopf zu sich herum. Seine bernsteinfarbenen Iriden wirkten dunkel vor Sorge und über seiner Nase prangte eine steile Falte. »Entweder du sagst mir, was mit dir los ist, oder ich mache solchen Radau, dass Ward dich auf der Stelle zurück nach New Haven schleppt und ich allein weiterfahre. Denn in deinem aktuellen Zustand weiß ich nicht, ob ich länger das Risiko tragen will, dich mitzunehmen.«

Wow! Ich wusste nicht, ob ich den Schützen jemals so viele Worte am Stück hatte von sich geben hören. Vermutlich nicht. Ein warmes Gefühl breitete sich in meiner Brust aus, das der Kälte in meinem Inneren den Kampf ansagte. Auch mein Puls beruhigte sich ein wenig.

»Ich hatte einen Albtraum.« Ich folgte Phoenix’ Beispiel und zog ebenfalls die Beine an die Brust und umschlang sie mit meinen Armen. Dabei verdrängte ich den Gedanken, dass ich keinen BH trug, der Stoff meines dunklen T-Shirts feucht an mir klebte, und ich bis gerade eben genau so auf Phoenix gelegen hatte.

»Du hattest einen Albtraum?« Die Sorgenfalten bei meinem Gegenüber vertieften sich. »Schon wieder?«

Ich zuckte mit den Schultern und wandte verlegen den Blick ab. Es war merkwürdig, gemeinsam mit Phoenix hier unten auf dem Boden zu sitzen, verborgen zwischen den Möbelstücken, als wären wir Kinder, die sich vor ihren Eltern versteckten. Es wirkte seltsam magisch und vertraut.

»Ich kann mich nicht erinnern«, gestand ich. »Aber welche Erklärung sollte es sonst dafür geben, dass ich nass geschwitzt bin, mein Puls rast und ich wortwörtlich vom Sofa gefallen bin?« Von dem Druckgefühl hinter meinen Rippenbögen ganz zu schweigen.

Anstatt mich mit einem anzüglichen Kommentar aufzuziehen – immerhin hatte ich dem Schützen eine Steilvorlage geliefert –, blieb er ernst.

»Als du im Auto eingeschlafen bist, hast du auch schon so komisch gezappelt. Ich dachte, du hättest keine bequeme Position gefunden und wärst zu feige, etwas zu sagen. Deswegen habe ich dich einfach an meine Seite gezogen. Aber wenn du jetzt schon wieder so schlecht geschlafen hast … Hast du Jackson oder Olly davon erzählt?«

»Ich erzähle doch dir gerade davon, Partner .« Ich grinste Phoenix an, um die Stimmung zu lockern. Doch mein Plan ging nicht auf, deshalb schob ich mit einem leisen Seufzen nach: »Ich will die beiden nicht mit meinen Problemen belästigen. Außerdem ist doch nichts dabei. Jeder Mensch hat mal Albträume. Und ich denke, in Anbetracht dessen, was mir in den letzten Tagen widerfahren ist, wäre es bedenklicher, wenn ich keine Albträume hätte.«

Phoenix sah mich fest an, erwiderte jedoch nichts. Er drängte mich auch nicht, weiter über das Thema zu reden, wofür ich ihm aufrichtig dankbar war.

Lange saßen wir einfach so da und ließen einander nicht aus den Augen. So sicher und beschützt hatte ich mich, seit dem Moment, als mein Leben völlig aus den Fugen geraten war, nicht mehr gefühlt.

»Jetzt bereust du es vermutlich, mir das Sofa überlassen zu haben, nicht wahr?« Ich versuchte mich an einem vorsichtigen Lächeln. Sosehr ein Teil von mir diese Geborgenheit auch genoss, machte sie mir auch Angst. Der Schütze war mir in kurzer Zeit viel zu nah gekommen – und zwar auf die wohl gefährlichste Art. Emotional.

»Wieso sollte ich es bereuen, dir das Sofa überlassen zu haben?« Mein abrupter Themenwechsel hatte Phoenix sichtlich verwirrt.

»Na ja … Weil ich auf dich gefallen bin und dich dadurch geweckt habe.«

»Mach dir mal deswegen keine Sorgen, Lollipop. Ich schlafe schon seit Tagen nicht mehr richtig. Die anderen vergessen es zwar gern, weil Arizona und ich nicht immer ein Herz und eine Seele waren. Aber sie ist und bleibt meine Zwillingsschwester.« Er zuckte mit den Schultern und senkte den Blick auf seine Arme. »Sie ist meine Familie und bedeutet mir die Welt. Ich würde alles tun, um sie zu retten.«

Mein Herz geriet ins Stolpern und ich wollte Phoenix am liebsten in den Arm nehmen. Niemals hätte ich mit so viel Aufrichtigkeit von ihm gerechnet. Aber wenn ich eine Sache über den Schützen gelernt hatte, dann, dass er selten das tat, was ich von ihm erwartete. Er war stets für eine Überraschung gut.

Da ich jedoch nicht wusste, wie viele solcher Phoenix-Wundertüten ich in dieser Nacht noch verkraften würde, lenkte ich unser Gespräch in hoffentlich weniger gefährliche Gefielde.

»Sag mal, wie kann es eigentlich sein, dass du und Arizona Zwillinge seid, aber unterschiedliche Sternzeichen besitzt?«

Phoenix sah auf und seine Lippen kräuselten sich. »Meinst du die Frage ernst?« Als ich nur hilflos mit den Schultern zuckte, lachte er. »Du kennst dich ja wirklich großartig mit Astrologie aus.« Er überging mein sarkastisches Grinsen und erklärte: »Arizona ist vier Minuten vor mir geboren. Und zwar am zweiundzwanzigsten November, kurz vor Mitternacht – der letzte Tag des Skorpion-Sternzeichens. Ich bin am dreiundzwanzigsten November geboren. Kurz nach Mitternacht. Dem ersten Tag des Schützen-Sternzeichens.«

Verdutzt starrte ich ihn an. Einerseits fühlte ich mich blöd, weil ich nicht selbst auf diese Lösung gekommen war, andererseits wurde mir bewusst, wie willkürlich das ganze Leben war. Wäre Arizona nur wenige Minuten später, oder Phoenix wenige Minuten früher geboren worden, hätten sie auch dasselbe Sternzeichen erhalten. Dann wäre nur einer von ihnen – oder vielleicht auch gar keiner – zum Lunaris berufen worden und wir würden jetzt nicht gemeinsam in diesem Hotelzimmer sitzen.

Phoenix schien mein Schweigen zu missdeuten, denn er drehte sich mit einem Räuspern zur Seite, und ich konnte förmlich sehen, wie er seine Mauer aus Arroganz wieder aufbaute – Stein um Stein.

»Wie auch immer. Du solltest noch etwas schlafen. Ward wird uns auf keinen Fall länger als bis zum Morgengrauen in Ruhe lassen. Und dann heißt es, Sachen packen und weiter geht’s.« Er klopfte ein wenig zu fest auf sein Kissen, was Drake aufwachen und protestieren ließ, ehe er sich wieder zusammenrollte.

»Danke für den Rat.« Ich erhob mich von dem Deckenlager. Meine Glieder waren hart wie Holzbalken, weshalb ich mich erst einmal ausgiebig reckte. »Aber ich kann jetzt auf keinen Fall wieder einschlafen. Ich werde mich wohl auf den Balkon verziehen und ein wenig frische Luft tanken. Du kannst also gern auf das Sofa wandern.« Im Vorbeigehen schnappte ich mir die Wolldecke. Normalerweise würde ich niemals derart durchgeschwitzt nach draußen gehen. Aber Anthony hatte gesagt, dass Lunaris immun gegen Krankheiten waren. Und selbst wenn ich eine Ausnahme bilden sollte, würde mich ein kleiner Schnupfen schon nicht gleich umbringen.

Ich hatte gerade den Griff der Balkontür umfasst, als mich ein Impuls innehalten ließ. Auf der anderen Seite lockte mich die himmlische Ruhe einer einsamen Nacht.

Doch das war es nicht, was ich wollte.

»Draußen stehen zwei Stühle«, hörte ich mich sagen, ohne mich herumzudrehen. »Wenn dich Drakes Schnarchen vom Einschlafen abhalten sollte, dann … na ja … du weißt schon.«

Schnell, ehe ich zu einer Pfütze zerfließen konnte, öffnete ich die Balkontür und schlüpfte in die kühle Oktobernacht.