Kapitel Einunddreißig
A ls du fragtest, ob ich dir vertraue, hätte ich Nein sagen sollen.«
»Hast du aber nicht. Und weißt du, wieso du das nicht getan hast? Weil du tief in deinem Inneren weißt, dass du mir vertrauen kannst. Du brauchst keine Angst zu haben, Lollipop. Ich bin bei dir.«
»Ich hab keine Angst«, motzte ich und verschränkte bockig die Arme vor der Brust, gleichwohl mir seine letzten Worte einen wohligen Schauder über den Rücken jagten.
Wie hatte es der Schütze geschafft, mich zu diesem Blödsinn zu überreden. Und das ausgerechnet nach meinem Gefühlsausbruch. Denn anstatt sich zurückzuziehen und mir aus dem Weg zu gehen, wie ich es insgeheim erwartet hatte, benahm sich Phoenix auf einmal seltsam gelöst, ja, fast schon befreit , als hätten meine Worte ein Schloss in seinem Inneren geknackt.
»Komm schon, das wird lustig.« Im Schein der Straßenlaterne, unter der wir standen, leuchteten seine Zähne auf. »Oder bist du noch nicht bereit für dein erstes Mal?« Seine Worte trieben mir die Röte ins Gesicht. Idiot!
»Ich enttäusche dich ja nur ungern«, erwiderte ich mit einem übertriebenen Augenaufschlag. »Aber für mein erstes Mal bist du ein wenig zu spät dran.«
»Ach, ja? Erzähl mir gern ein paar Details. Hattest du damals auch schon mit einem so großen Gerät zu tun?« Phoenix senkte die Stimme zu einem sinnlichen Raunen, was das Klopfen in meiner Brust und das Sirren in meinem Kopf intensivierte. Verdammt – sein Plan ging auf.
Ein Teil von mir sehnte sich tatsächlich danach, endlich loszulegen, um es hinter mich zu bringen. Doch der Rest stand kurz vor einem Nervenzusammenbruch.
»Komm schon, Lollipop«, lockte mich Phoenix weiter und beugte sich dabei ein Stück in meine Richtung. Sein Duft nach regenfeuchtem Waldboden stieg mir zu Kopf. Das hier war nicht gut. Ganz und gar nicht. »Ich seh dir doch an, dass du es kaum erwarten kannst. Trau dich. Fass ihn an und sag mir, wie es sich für dich anfühlt.«
Ich funkelte ihn an.
»Mir ist bewusst, dass du jede Sekunde hiervon genießt und mich am liebsten vor Scham im Erdboden versinken sehen möchtest. Aber diesen Gefallen werde ich dir nicht tun.« Mit einem zuckersüßen Lächeln schoss meine Hand zielstrebig hervor und packte grob den zwischen dem Schützen und mir stramm in die Höhe aufragenden Stab. Wäre ich nicht derart angespannt, hätte ich vielleicht das warme und weiche Material unter meinen Fingerspitzen zu würdigen gewusst. Doch so war mein gesamter Körper stocksteif.
»Oh, Lollipop!« Phoenix biss sich auf die Unterlippe und stöhnte sinnlich. »Wenn du willst, dass dieser Spaß hier länger als nur wenige Sekunden andauert, musst du sehr viel feinfühliger werden.«
»Lass die blöden Sprüche und sag mir lieber, was ich jetzt tun soll«, grollte ich mit zusammengebissenen Zähnen. Schweiß rann mir den Nacken hinab und das Zittern meiner Finger breitete sich langsam auf meine Arme und Beine aus. »Immerhin will ich nicht schuld sein, dass der Wagen explodiert und wir für alle Ewigkeit hier feststecken.«
Phoenix’ Grinsen wich einem herzlichen Lachen, ehe er sich pflichtbewusst zurück auf den Beifahrersitz sinken ließ.
»Keine Sorge. Das Schlimmste, was du dem Wagen antun kannst, ist, den Motor abzuwürgen. Aber versprochen, ich werde mich ab sofort benehmen.«
Ich nickte dankbar, wenn auch wenig überzeugt, und machte es mir ebenfalls auf meinem Sitz bequem. Nachdem Phoenix mich auf dem Balkon herausgefordert hatte, ihm zu folgen, hatten wir uns Schuhe und Jacken angezogen und waren zum Auto gegangen. Zu diesem Zeitpunkt hatte ich noch keine Ahnung gehabt, was der Schütze plante. Doch als er nach einer kurzen Fahrt auf einem verlassenen Supermarktparkplatz zum Stehen gekommen war und mir befohlen hatte, mit ihm die Plätze zu tauschen, hatte es mir gedämmert. Leider war es für einen Rückzieher zu spät gewesen. Phoenix hatte urplötzlich über heftige Kopfschmerzen geklagt, die es ihm unmöglich machten, den Wagen zurück zum Hotel zu steuern. Wenn ich also nicht die restliche Nacht mit ihm auf diesem gruselig verlassenen Parkplatz verbringen wollte, blieb mir nichts anderes übrig, als den Wagen selbst zurückzufahren.
»Atme erst einmal tief durch«, sagte Phoenix ruhig. »Du kannst das. Ich weiß es. Du hast schon sehr viel größere Gegner in die Knie gezwungen. Da sollte ein Schaltwagen ein Klacks für dich sein.« Sein linker Mundwinkel hob sich leicht, der rechte folgte. »Ich glaube an dich«, schob er leise nach und mein Herz setzte einen Schlag aus.
Obwohl ich diese Worte nicht zum ersten Mal hörte, bedeuteten sie mir aus Phoenix’ Mund besonders viel. Vermutlich sogar mehr, als ich mir selbst eingestehen wollte.
Ich folgte der Anweisung meines temporären Fahrlehrers und holte tief Luft. Der Duft nach feuchter Erde umhüllte mich, und ich würde lügen, wenn ich behauptete, dass mich dieser Umstand nicht zusätzlich nervös machte.
»Okay, was muss ich tun?« Geräuschvoll stieß ich die Luft wieder aus. Ich musste mich konzentrieren – und zwar nicht auf den Schützen!
»Das Einzige, worin sich Autos mit Automatikgetriebe von Schaltwagen unterscheiden, ist, dass du allein entscheidest, wann du in den nächsten Gang schaltest. Dir obliegt die volle Kontrolle.«
Ich schluckte hart. Um nicht all zu gründlich darüber nachzudenken, auf wie viele nicht-jugendfreie Art und Weisen ich Phoenix’ Worte auslegen konnte, umklammerte ich mit den Fingern meiner freien Hand das Lenkrad und sah gebannt auf die Windschutzscheibe vor mir.
»Gut«, sagte Phoenix. »Dann drück jetzt mit dem linken Pedal die Kupplung durch, stell den Schalthebel in den Leerlauf und starte den Motor.«
Ich tat wie mir geheißen und der Wagen sprang schnurrend an. Mir entfloh ein Schrei.
»Was ist los, Lollipop? Du tust ja gerade so, als säßest du zum ersten Mal hinter dem Steuer. Dabei dachte ich, du hättest einen Führerschein.«
»Den habe ich auch«, merkte ich an. »Trotzdem war ich nicht darauf vorbereitet, dass es so schnell geht.«
»Wenn ich jetzt sage ›That’s what she said‹, wirst du mich dann schlagen?«
Gegen meinen Willen zuckten meine Mundwinkel. »Riskiere es und finde es heraus.«
»Ein anderes Mal vielleicht. Jetzt habe ich versprochen, mich zu benehmen. Also, zurück zum Thema. Das Vorspiel hast du mit Bravour gemeistert. Jetzt musst du das Schätzchen nur noch auf Touren bringen. Als Erstes löst du die Handbremse und schaltest in den ersten Gang.« Er zeigte mir in einer knappen Handbewegung, wie das ging, dann war ich an der Reihe.
»Gut. Nun hebst du deinen Fuß langsam von der Kupplung und gibst gleichzeitig sanft Ga–«
Der Schütze hatte seinen Satz noch nicht beendet, da hatte mein Bein bereits gezuckt und ich war viel zu schnell von der Kupplung gegangen. Das Gaspedal hatte ich völlig vernachlässigt.
Der Wagen machte einen kläglichen Sprung vorwärts, dann erstarb der Motor mit einem Gurgeln. Überall im Cockpit leuchteten Symbole auf, und meine vorherige Freude war wie weggeblasen.
»Wow, jetzt verstehe ich, wieso du ständig so rot wirst, wenn man dich mal ein wenig neckt. Du bist steifer als ein Besenstil. Du musst dich entspannen.« Er legte mir behutsam eine Hand auf den Oberschenkel. Vermutlich war es eine unbewusste Geste. Doch ich zuckte so heftig zusammen, als hätte man mich geohrfeigt.
Sofort ließ Phoenix mich los. Doch sein Blick bohrte sich weiter in meinen.
»Du sagtest, das hier ist nicht deine erste Fahrstunde mit einem Schaltwagen. Erzähl mir davon.« Es war keine Bitte. Es war eine Aufforderung, die keinen Widerspruch duldete.
Meine Lippen teilten sich, doch nicht, um dem Schützen eine rüde Bemerkung entgegenzuschleudern, sondern um ihm jenes Geheimnis anzuvertrauen, das ich bisher nicht einmal meinen Eltern verraten hatte. Es war die Sorge und das Mitgefühl in seinem Gesicht, die mich dazu verleiteten.
»Wegen der Arbeit meiner Eltern mussten wir früher oft umziehen, was es mir nicht gerade leicht gemacht hat, meinen Führerschein zu machen. In jedem Bundesstaat wechselten die Voraussetzungen, und ich musste einige Zeit warten, bis ich mich endlich zur praktischen Fahrprüfung anmelden konnte. Als es dann so weit war, wurde mir ausgerechnet ein Schaltwagen zugeteilt, den ich zuvor noch nie gefahren hatte. Ich bat darum, mit einem Automatikwagen fahren zu dürfen, aber das war nicht möglich. Mein Prüfer bot mir an, mich die Prüfung bestehen zu lassen, ohne dass ich dafür vom Parkplatz herunterfahren müsse. Ich sollte ihm nur beweisen, wie dringend ich meinen Führerschein wollte.«
Phoenix, der während meiner Erzählung eisern geschwiegen hatte, stieß ein Knurren aus. Seine Hände waren zu Fäusten geballt und die Zähne so fest aufeinandergebissen, dass sein Kiefer hervortrat.
»Es ist nichts passiert«, beeilte ich mich zu sagen. »Ich bin ohne Führerschein nach Hause gegangen und habe es später noch mal versucht. Es ist echt halb so wild gewesen. Nur hatte ich seitdem eben nicht das Bedürfnis, mich erneut hinter das Steuer eines Schaltwagens zu setzen.«
»Halb so wild? «, knurrte Phoenix und stieß einen so derben Fluch aus, dass ich zusammenzuckte.
Es dauerte ein paar Sekunden, bis er sich wieder im Griff hatte. Doch in seinen Iriden blitzte es zornig.
»Nichts an dem, was du mir gerade gesagt hast, ist halb so wild! Aber ich bin froh, dass du dich mir anvertraut hast. Jetzt will ich umso dringender, dass du lernst, wie man mit einem Schaltwagen fährt. Dieses Arschloch soll dir nicht für alle Zeit die Freude an neuen Erfahrungen nehmen. Denn wirklich verloren hat man erst dann, wenn der letzte Atemzug ausgehaucht ist.«
Perplex starrte ich Phoenix an. Ich hatte damit gerechnet, dass er verlegen wirken und sich entschuldigen würde, ehe er vorschlug, zurück zum Hotel zu fahren. Doch natürlich wusste mich Phoenix abermals zu überraschen.
»Du meinst das ernst, oder?«, hakte ich nach, als mich der Schütze einige Sekunden lang entschlossen ansah. Nicht der geringste Zweifel war seinem Gesicht abzulesen.
Phoenix antwortete nicht, aber das war auch nicht nötig. Er hatte seinen Standpunkt deutlich gemacht.
Ich schluckte gegen den Kloß in meiner Kehle an, doch er wollte nicht weichen. Stattdessen prickelte es, als das Eis in meinen Adern taute. »Okay«, hörte ich mich sagen. »Lass es uns tun.«
Dass Phoenix bei diesen Worten auf einen anzüglichen Kommentar verzichtete, zeigte, dass er mehr war als seine arrogante Fassade.
Und – Verdammt! – das war verflucht heiß.