Kapitel Fünfunddreißig
P hoenix! Was machst du hier?«
»Ich Idiot habe mir Sorgen um dich gemacht, weil du so lange weg warst. Und als ich dich auf der Toilette nicht finden konnte, habe ich mich auf die Suche nach dir begeben. Ich hatte ja nicht ahnen können, dass ich dich bei einer geheimen Besprechung mit deinem Spionage-Kollegen störe. Sorry, mein Fehler! Ich dachte, ich könnte dir vertrauen.« Er wandte sich zum Gehen, das Gesicht vor Wut verzerrt.
»Phoenix, warte!« Ich eilte ihm nach und ergriff seine Hand. »Es –«
»Wenn du mir jetzt mit dieser ›Es ist nicht so, wie es aussieht‹-Scheiße kommst«, fiel er mir zischend ins Wort, den Kopf über die Schulter zu mir herumgedreht. »Dann garantiere ich dir, wirst du das bereuen!« Er riss sich los und ging ein paar Schritte weiter, ehe er erneut stehen blieb und sich ruckartig zu mir herumdrehte. »Ich muss zugeben, du hast deinen Job wirklich gut gemacht! Mich hast du jedenfalls ordentlich hinters Licht geführt! Die ganze Zeit dachte ich, der Drang, mich dir anzuvertrauen, rührt von unserer Partnerverbindung her. Dabei war das in Wahrheit deine Gabe. In dem Punkt bist du kein bisschen besser als Ward. Und erst dieser Kuss … Wow! Ich glaubte wirklich, dass da was zwischen uns wäre.« Er ballte die Hände zu Fäusten, die Lippen zu einer schmalen Linie zusammengepresst. »Verrat mir nur eins: War auch nur ein Satz, den du seit deiner Ankunft bei uns von dir gegeben hast, echt, oder war alles Teil deiner Performance?« Er gab mir keine Chance, etwas zu erwidern. »Ach vergiss es! Ich will es gar nicht wissen. Ich komme mir auch so wie der größte Vollidiot vor.«
»Ich weiß, wie die Sache auf dich wirken muss. Aber bitte gib mir die Gelegenheit, um dir alles zu erklären.«
»Wozu? Damit du mir noch mehr Lügenmärchen auftischen kannst? Danke, aber ich verzichte!«
Panik stieg in mir auf. Olly und Jackson waren fast in Hörweite. Wenn ich jetzt nichts unternahm, würde Phoenix die beiden einweihen, und sämtliche Mühen, die sich Drake mit seiner Tarnung gegeben hatte, wären vergebens gewesen – egal, ob die beiden etwas mit dem Maulwurf zu tun hatten oder nicht.
Ich nahm all meinen Mut zusammen und sprintete an Phoenix vorbei, um mich vor ihn zu stellen. Er war stinksauer, keine Frage. Aber noch hatte er mich nicht gänzlich abgeschrieben. Und an diesen winzigen Funken musste ich nun appelieren.
»Ja, ich war nicht zu einhundert Prozent ehrlich zu euch, das gebe ich zu.« Ich hielt die Arme demonstrativ vor mir ausgestreckt, um den Schützen am Weitergehen zu hindern. »Aber das liegt nicht daran, dass ich eine verkappte Spionin bin oder mit irgendeiner Mission zu euch geschickt wurde. Ich war schlichtweg überfordert und wusste nicht, wem ich trauen konnte. Ich musste mich erst einmal zurechtfinden.«
»Dann ist es unsere Schuld, dass du uns belogen hast?«
»Das habe ich nicht gesagt und das meine ich auch nicht. Aber …« Ich wusste nicht, was ich sagen konnte, um ihn zu überzeugen. »Du rühmst dich doch immer damit, dass du immer ins Schwarze triffst. Also, los!« Ich streckte meine Arme zu beiden Seiten aus, ohne den Blick abzuwenden. »Prüfe mich, Phoenix! Schau mir bis tief in meine Seele und sag mir, was du siehst! Vielleicht glaubst du mir dann, dass ich euch nichts vorgespielt habe. Denn ich war die ganze Zeit ich selbst. Latent verstört, sarkastisch und bis auf die Knochen von dir genervt.«
Obwohl ich es nicht beabsichtigt hatte, entlockte ich dem Schützen ein widerwilliges Zucken seiner Mundwinkel.
»Ich meine es ernst«, sprach ich nach einigen hektischen Atemzügen weiter, bemüht, meinen rasenden Herzschlag unter Kontrolle zu bringen. »Alles, was ich zu dir gesagt habe – insbesondere seit wir dich am Straßenrand aufgegabelt haben –, war die Wahrheit. Das musst du mir glauben! Mir hat der Kuss ebenfalls etwas bedeutet. Du bedeutest mir etwas.«
Phoenix sah mich an. Lange. Vermutlich erwartete er, dass ich einknickte. Doch das tat ich nicht.
»Entweder bist du eine verflucht gute Schauspielerin und kannst sogar meine Gabe umgehen, oder …« Er musterte mich prüfend. »Oder du sagst wirklich die Wahrheit.«
Eine gefühlte Ewigkeit dauerte es, bis er seine Entscheidung traf.
»Waren das wenigstens alle Überraschungen, oder muss ich mich auf noch mehr gefasst machen – wobei ich ehrlich gesagt nicht wüsste, wie du das noch toppen willst?«
»Heißt das, du glaubst mir?« Wie in der Nacht zuvor überkam mich eine Erleichterung, die mich schwindeln ließ. Am liebsten wäre ich dem Schützen erneut um den Hals gefallen, aber ich unterdrückte den Drang. Ich wollte mein Glück nicht überstrapazieren.
»Im Zweifel für den Angeklagten, Lollipop. Aber freu dich nicht zu früh. Ich behalte dich im Auge! Solltest du mir auch nur den geringsten Grund geben, erneut an deiner Aufrichtigkeit zu zweifeln, werde ich die Samthandschuhe gegen Boxhandschuhe tauschen. Deswegen überleg gut, ob es noch etwas gibt, von dem ich wissen sollte. Denn das ist deine letzte Chance.«
In meiner Brust klopfte es vor Aufregung. Dass Phoenix mir tatsächlich eine weitere Chance gab, ließ in meinem Magen Schmetterlinge flattern. Vielleicht lag das aber auch an seinem Geständnis, dass unser Kuss auch ihm etwas bedeutet hatte.
»Drake hat mir gerade ein paar echt heftige Dinge um die Ohren gehauen, die ich erst einmal verarbeiten muss.« Ich ließ die Arme sinken. »Das Ding ist nur, dass ein Großteil davon mich nicht persönlich betrifft. Deshalb kann ich dir nicht alles anvertrauen. Aber ich verspreche dir, dass sich nichts an dem geändert hat, was ich im Auto zu dir gesagt habe. Es ist immer noch meine oberste Priorität, uns alle mit heiler Haut aus dieser Nummer zu bringen.« Leider hatte sich die Umsetzung in Arizonas Fall durch Drakes Beichte drastisch verkompliziert. Aber solange Phoenix nichts von dem bereits begangenen Selbstmord seiner Schwester wusste – sonst würde er nicht derart ruhig hier stehen –, würde ich es ihm auch nicht auf die Nase binden. Diesen Schmerz wollte ich ihm so lange wie möglich ersparen.
Phoenix sah mich zweifelnd an, nickte jedoch schließlich. »Gut, wenn du mir meine Fragen nicht beantworten kannst, frage ich eben den Drachen.« Er kehrte mir den Rücken und stiefelte auf direktem Weg zurück hinter das Gebäude.
Unentschlossen sah ich über meine Schulter. Jackson und Olly standen am Wagen und schauten in unsere Richtung. Sie schienen nichts von unserem hitzigen Streit gehört zu haben, fragten sich aber zweifelsfrei, worum es gegangen war.
Seufzend folgte ich dem Schützen zurück zu Drake. Ich hatte die beiden noch nicht ganz erreicht, da flog der Drache bereits auf mich zu.
»Du hast es ihm erzählt?«, fauchte er, die Schuppen grell Pink leuchtend. »Hast du mir denn überhaupt nicht zugehört, Mädchen? Ich sagte dir –«
»Ich habe ihm gar nichts erzählt! Wie dir entgangen ist, hat Phoenix unser Gespräch belauscht. Und wenn du nicht willst, dass die anderen auch noch Wind von der Sache bekommen, solltest du leiser sein.«
In Drakes verengten Augen stürmte es.
»Du«, begann er, wurde jedoch von Phoenix unterbrochen, der sich soeben zu uns gesellt hatte.
»Lollipop hat recht. Sie hat keinen Ton gesagt. Und jetzt hör auf, unsere Zeit zu verschwenden und erzählt mir stattdessen im Schnelldurchlauf, was ich wissen muss. Dass das Götterkind tatsächlich existiert und gemeinsam mit jemandem aus unserem Team mit den Shadows in Verbindung steht, habe ich mitbekommen. Ich kann es zwar noch immer nicht begreifen, geschweige denn glauben, dass ein Verräter unter uns ist, aber das ist ein anderes Thema.«
»Du willst, dass ich noch einmal alles wiederhole, was ich dem Mädchen hier erzählt habe?« Drake, der seine kurzen Ärmchen ähnlich wie Phoenix vor der Brust verschränkt hatte, deutete mit dem Kopf in meine Richtung. »Was glaubst du, was ich bin? Eine Anrufbeantworteransage? Du kannst nicht einfach fünf-fünf-fünf-Drache wählen und dir den Text so oft anhören, wie du willst.« Er schnaubte und seine Flügel schlugen vor Aufregung schneller. »Sorry, Loverboy. Ich mag dich zwar, aber nur weil der Skorpion deinem Charme nicht widerstehen kann und dir jedes Detail aus ihrem Tagebuch verrät, bedeutet das ni– Argh! Was machst du da?« Drake zappelte wie wild. Phoenix hatte seine Flügel mit Daumen und Zeigefinger gepackt und den Drachen somit flug- und kampfunfähig gemacht. Ich hatte den Schützen seine Gabe noch nie einsetzen sehen, doch nun verstand ich, was er meinte, wenn er sagte, dass er stets ins Schwarze traf. Vermutlich würde es ihm sogar gelingen, einen Floh mit einer Nähnadel genau zwischen die Augen zu treffen.
»Was ich mache? Ich zeige dir, wer hier die Ansagen macht.« Phoenix klang so ruhig, dass mich schauderte. »Und jetzt noch einmal, um jegliches Missverständnis auszuräumen: Ich frage dich nicht, ob du mir liebenswürdigerweise verraten würdest, worüber du und Lollipop bei eurem Kaffeekränzchen getratscht habt. Ich fordere von dir, mir zu erzählen, was du über das Verschwinden meiner Schwester weißt. Ansonsten sorge ich dafür, dass du für mindestens weitere fünfhundert Jahre von der Bildfläche verschwindest.«
Die Farbe um Drakes Nase verblasste, bis nur noch ein zartes Rosé zurückblieb. Das Lichtwesen mochte vielleicht so tun, als wäre es mutig, aber die Wahrheit sah anders aus. Doch egal, wie nervig Drake machmal auch war, eine solche Behandlung hatte er nicht verdient.
»Genug ihr zwei!« Ich stemmte die Arme in die Hüften. »Jetzt ist wirklich nicht der richtige Zeitpunkt, um euch gegenseitig das Leben schwer zu machen.« Ich sah Phoenix an. »Lass ihn los. Drake weiß auch so, dass du ihm hauchhoch überlegen bist. Und wenn du mir wirklich vertraust, dann bitte ich dich zu akzeptieren, dass es Dinge gibt, die du zum aktuellen Zeitpunkt nicht erfahren kannst.« Mein Blick glitt weiter zu Drake. »Und du …« Ich schüttelte den Kopf. »Ernsthaft, was stimmt nicht mit dir? Glaubst du etwa, das hier ist so eine David-gegen-Goliath-Begegnung? Du hast keine Chance gegen Phoenix. Also hör bitte auf, ihn zu provozieren. Und überhaupt: Ich verstehe zwar, wieso es dir wichtig ist, dass die Wahrheit nicht in falsche Hände gerät. Aber selbst dir muss klar sein, dass diese Mission für dich – für uns – allein viel zu groß ist. Die Shadows laufen zielstrebig auf das Ziel zu, während du noch überlegst, mit welchem Fuß du das Rennen starten willst. Du kannst also jede Hilfe gebrauchen, die du kriegen kannst. Und da wir alle im selben Boot sitzen – denn ich vertraue Phoenix und weiß tief in meinem Herzen, dass er nicht der Maulwurf ist –, sollten wir zusammenarbeiten, anstatt uns gegenseitig fertigzumachen.«
Meine kleine Ansprache hatte die beiden zumindest insoweit beeindruckt, dass sie kurz innehielten, ehe Phoenix Drake abrupt losließ. Dieser sackte ein ganzes Stück dem Boden entgegen, ehe er sich fing und mit der Kraft seiner Flügel zurück auf eine Höhe mit uns stieg. Demonstrativ strich er sich mit den Pfoten über die Brustschuppen.
»Danke«, sagte ich an Phoenix gewandt und atmete tief durch. »Jetzt sollten wir besprechen, wie es weitergeht. Bisher hatte ich nämlich nicht die Gelegenheit, Drake zu fragen, ob wir mit unserer Reise nach Aguascalientes überhaupt in die richtige Richtung unterwegs sind.«
Der Drache hob den Kopf, als wäre ihm ein unangenehmer Geruch in die Nase gestiegen.
»Du willst hören, wo sich das Götterkind in Aguascalientes befindet? Woher zur heiligen Drachenkralle soll ich das wissen? Glaubst du, wir telefonieren jede Woche miteinander und tauschen den neuesten Tratsch aus?« Drake zog eine Schnute. »Vor fünfhundert Jahren wurde es in der Nähe von Thailand eingesperrt. Aber glaub bloß nicht, dass es sich noch immer dort befindet. Lockenbubi hat die Sache mit dem Schleier erstaunlich gut auf den Punkt gebracht. Das Jenseits gleicht tatsächlich einem Paralleluniversum, das neben unserer Welt existiert. Das heißt, das Götterkind kann sich binnen eines Wimpernschlages von einem Ende der Erde zum anderen bewegen.«
»Klasse!« Ich stöhnte frustriert. »Das heißt, wir fahren nach Aguascalientes, ohne zu wissen, was wir dort machen sollen. Wenn das mal nicht der Inbegriff von Ressourcenverschwendung ist.«
»Egal, ob sich das Götterkind dort befindet oder nicht, wir fahren nach Aguascalientes«, entschied Phoenix. Als er zu einer Erklärung ansetzte, lag erneut dieses grimmige Lächeln auf seinen Lippen. »Offenbar will jemand unbedingt, dass ich dorthinkomme. Und ich bin verdammt neugierig, wer das ist und wieso das sein Wunsch ist.«