Kapitel Siebenunddreißig

D a niemand etwas einzuwenden hatte, machten wir uns auf den Weg. Kurz überlegte ich, ob ich Drake hätte mitnehmen sollen. Aber da der Drache offenkundig ein noch schlechterer Kämpfer war als ich, entschied ich mich dagegen. Ich wollte ihn nicht unnötig in Gefahr bringen und sein unentwegtes Geblubber würde mich nur ablenken, was in einer Nacht wie dieser tödliche Folgen haben könnte.

Je näher wir der Plaza kamen, desto voller wurden die Wege. Menschen in farbenfroher Kleidung tanzten und sangen auf den Straßen oder schlenderten gemütlich durch die Gegend, ihre Gesichter zu Skelettschädeln geschminkt. Kinder rannten mit brennenden Wunderkerzen in den Händen umher und wurden dabei von streunenden Hunden umtollt. Lautstarke Musik dröhnte von überallher.

Nicht zum ersten Mal in den letzten Minuten fragte ich mich, ob meine Fähigkeit, hinter die Fassade der Shadows sehen zu können in diesem Fall wirklich von Vorteil war. Formlose schwarze Schatten wären aktuell sicherlich leichter auszumachen gewesen als Kreaturen, die mit bleichen Gesichtern, schwarzen Augen und grauen Lippen herumliefen. Denn zurzeit traf diese Beschreibung auf etwa fünfundneunzig Prozent aller Menschen um mich herum zu.

»Und jetzt?«, fragte Olly, als wir den Rand der Plaza erreichten. Viel konnte ich von unserem Standort aus nicht erkennen. Nur eine Steinstatue auf einem hoch in die Luft ragenden Sockel, eine unter einem gigantischen Pavillon aufgebaute Bühne, auf der gerade eine Mariachiband spielte, und einige mit Lichterketten geschmückte Bäume, die aussahen, als würden Glühwürmchen zwischen den Blättern sitzen. Die Parade, von der Phoenix erzählt hatte, würde vermutlich erst morgen – zum großen Finale der Feierlichkeiten – stattfinden. Zum Glück. Ich wollte mir nicht vorstellen, wie viele Menschen dann unterwegs sein würden.

»Wo müssen wir hin?« Olly musste regelrecht schreien, damit wir sie verstehen konnten. Dass sie, nachdem sie die letzten Minuten ungewohnt still gewesen war, nun nervös klang, war wenig überraschend.

»Keine Ahnung.« Jackson hielt den Fokus stur auf sein Telefon gerichtet und hob die Schultern. »Entweder hat sich mein Handy aufgehängt oder ich habe kein Netz mehr. Jedenfalls reagiert die App nicht.«

»Klasse! Mein Handy liegt mit plattem Akku im Auto.« Olly sah Phoenix an. »Was ist mit dir?«

Der Schütze schüttelte den Kopf, ehe er ein »Muss es irgendwo im Hotel verloren haben« von sich gab.

Das war gelogen, das wusste ich. Es steckte in seiner Jackentasche. Aber offenbar wollte er dieses kleine Geheimnis für sich behalten.

»Prima. Das heißt, wir befinden uns ohne jegliche Möglichkeit, Hilfe zu rufen, in einer der größten Shadow-Hochburgen westlich des Atlantischen Ozeans. Das kann ja nur gut werden.«

Würde ich nicht wachsam unsere Umgebung nach Gefahren absuchen, hätte ich Ollys Zynismus geteilt. Doch eine junge Frau lenkte mich ab, die mit einem Typen in Lederjacke und blondem Undercut unterwegs war. Ihr platinblondes Haar reichte ihr bis zum Kinn und ihr Gesicht war ebenfalls zu einem Totenschädel geschminkt. Da ihre Iriden blaugrün schimmerten und keine schwarzen, zum Leben erwachten Schatten sie umwaberten, ging ich nicht davon aus, dass sie ein Shadow war. Dennoch konnte ich meine Aufmerksamkeit nicht von ihr lösen. Da war dieses schwache Flackern. Als würden wir ein ähnliches Schicksal miteinander teilen. Und so verrückt dieser Gedanke auch war, gab er mir merkwürdigerweise Kraft. Fast so, als würde mir eine unsichtbare Macht leise Hoffnung zuflüstern.

»Los, kommt!«, rief Jackson und riss mich damit aus meinen Gedanken. »Ich weiß nun, wo wir hinmüssen.«

Gemeinsam mit den anderen folgte ich dem Löwen, der sich zielstrebig einen Weg durch die Menschenmasse am Rand der Plaza bahnte. Dabei passierten wir einige Personen, die mir verdächtig vorkamen. Doch da niemand der anderen die potenziellen Shadows wahrzunehmen schien – oder wahrnehmen wollte – hielt auch ich den Mund. Da wir haushoch in der Unterzahl waren, war es vermutlich das Schlauste, sich bedeckt zu halten.

Unser Weg führte uns immer weiter von der Plaza weg, sodass sich die Menschenmassen nach und nach lichteten. Eigentlich sollte es mir deswegen leichter fallen, Luft zu holen, doch das Gegenteil war der Fall. Mein Puls hämmerte mir in den Ohren, meine Brust war wie versteinert und dass mich meine Beine überhaupt noch trugen, war bei den Pudding-Knien wahrlich ein Wunder.

Phoenix, der dank seiner Gabe natürlich genau wusste, wie nah ich einer Panikattacke war, griff nach meiner Hand und verschränkte seine Finger mit meinen. Im Gegensatz zu meiner Haut fühlte sich seine warm an, und die Frequenz meines Herzschlages normalisierte sich.

Dankbar lächelnd legte ich den Rest unseres Marsches selbstbewusster zurück.

Nach einer kleinen Ewigkeit erreichten wir unser Ziel: Eine Ruine inmitten eines Parks voller Laubbäume. Die ergrauten Steinbrocken lagen verteilt auf dem Boden und ließen nur vage erahnen, wie die Kapelle früher ausgesehen haben musste. Der Torbogen bestand nur noch aus zwei in die Luft ragenden Säulen, der hintere Bereich der Familienkirche war kaum noch existent, und die kläglichen Reste der Mosaikfliesen wurden von Sand und Unkraut begraben.

Beklommen dachte ich an die Geschichte über die Kapelle. Bereits zuvor hatte mich ihr Schicksal betroffen gemacht. Doch nun, da wir tatsächlich davorstanden, wurde mir erst bewusst, wie tragisch das Ganze wirklich war.

Jackson stieg über eine kleine Steinmauer und begab sich ins Innere der Kapelle – beziehungsweise in das, was davon noch übrig war. Dabei schaute er sich um, als suchte er etwas.

Phoenix verstärkte den Druck seiner Finger. Die Augen zu schmalen Schlitzen verengt, lag seine freie Hand auf dem Griff seines Schwertes und jeder Muskel seines Körpers war angespannt. Die Wachsamkeit, die der Schütze ausstrahlte, bewies, dass er auf alles vorbereitet war.

Olly hatte sich unterdessen zum Kirchhof vorgearbeitet und verharrte vor einem Grabmal, das in dem von Moos und Dornenranken überwucherten Bereich aufragte.

Doch Unkraut war nicht das Einzige, was es dort zu entdecken gab. Trotz der Entfernung, die mich von der Ruhestätte trennte, konnte ich das prachtvolle Farbenmeer ausmachen, das sich inmitten der grünen Wüste erstreckte. Pflanzen, die vage an Sonnenblumen erinnerten, jedoch nicht so hoch, aber dafür mit sehr viel größeren Blüten wuchsen, erstrahlten in einem so intensiven Rubinrot, als wären sie frisch mit Blut übergossen worden. Kobaltblaue Lilien von der Größe meiner Faust schimmerten wie mit Silberpuder überzogen, und der zuckersüße Geruch der Rosen, deren Blüten in der Dunkelheit fluoreszierend leuchteten, war so intensiv, dass er selbst Phoenix’ Duft aus meiner Nase verdrängte.

»Wunderschön, nicht wahr?«, erklang es hinter uns, und Phoenix und ich wirbelten auf dem Absatz herum. Unsere Finger lösten sich dabei voneinander und sofort kroch unangenehme Kälte meine Fingerspitzen empor.

»Zu eurem Glück seid ihr früher gekommen, als ihr erwartet wurdet. So konntet ihr diesen Ort genießen, ehe er in Blut ertrinkt und zur heiligen Stätte der Wiedergeburt des Götterkindes wird.«

Eine junge Frau trat hinter einem Baum hervor. Sie trug einen schwarz-weiß karierten Faltenrock, eine weiße Bluse mit einem schwarzen Blazer sowie kniehohe Strümpfe samt schwarzen Lackschuhen. Ihre dunklen Haare hatte sie wie bei unserer letzten Begegnung zu einem hohen Pferdeschwanz gebunden, und auch die schwarzen Schatten schlängelten sich wieder wie lebendige Wesen um sie.

»Hast du gesagt, dass wir bereits erwartet wurden?«, hakte Phoenix mit arroganter Miene nach und griff in aller Seelenruhe nach seinem Bogen und einem Pfeil. »Falls ja, solltest du dringend an deiner Aussprache arbeiten. Dein Akzent ist noch ätzender als der deiner stinkenden Freunde. Und überhaupt! Was soll das für eine Party sein? Ein einzelner Shadow für vier Lunaris? Geht’s noch erbärmlicher?«

Pferdeschwanz-Barbie legte den Kopf leicht schräg, wobei ihre silbernen Schlangenpupillen gefährlich aufblitzten.

»Ich muss sagen, deine scharfzüngigen Sprüche waren auch schon mal weniger nervig gewesen.« Sie verzog die Lippen zu einem Grinsen und schnippte mit den Fingern. Auf ihr Kommando lösten sich weitere Shadows aus den Schatten. Sie traten hinter den Bäumen hervor, die Bewegungen fließend wie Wasser und still wie der Tod, und waren dabei allesamt ähnlich gekleidet wie ihre Anführerin. Fast schien es, als trügen sie eine Art Uniform.

»Deinen Wunsch nach einer Party erfülle ich dir jedoch herzlich gern.« Ihr Grinsen ähnelte immer mehr dem eines Serienkillers, und ich musste mich nicht umdrehen, um zu wissen, dass wir umzingelt waren. Wir hatten geahnt, dass es sich hierbei um einen Hinterhalt handelte, und waren dennoch hergekommen. Nun war die Falle zugeschnappt, und wir hatten kein Recht uns zu beschweren.

Mein Kopf ruckte hin und her, und obwohl ich kaum Gelegenheit hatte, mir jedes Detail einzuprägen, registrierte ich zwei Dinge: Zum einen trugen die Shadows keine sichtbaren Waffen bei sich, was mich zu gleichen Teilen beruhigte wie verunsicherte. Zum anderen war Pferdeschwanz-Barbie nicht das einzige vertraute Gesicht. Unmittelbar neben ihr standen – wenig überraschend – Zombie-Matt, der sich mittlerweile deutlich zivilisierter benahm als bei unserem letzten Wiedersehen, sowie Christina und Nate.

Das Bild meiner Kommilitonen, die mich mit hasserfüllten Mienen fixierten, als könnten sie es kaum erwarten, sich auf mich zu stürzen, traf mich schmerzhaft. Denn obwohl ich bereits damit gerechnet hatte, dass Matt ihnen ihre Seelen ausgesaugt und sie dadurch in emotionslose Hüllen verwandelt hatte, deren Existenz allein darin bestand, wahllos Menschen zu töten, hatte ein winziger Teil von mir auf ein Wunder gehofft.

Doch es war nicht dieser Anblick, der mich zurücktaumeln ließ, als hätte mich eine Abrissbirne getroffen. Es waren die Gestalten meiner Eltern, die mich aus schwarz-silbernen Schlangenpupillen anschauten und dabei nicht den geringsten Funken des Erkennens zeigten.

Ich geriet in Luftnot und in meiner Brust bildete sich ein Druck, als steckte eine Faust zwischen meinen Rippenbögen fest und zerquetschte langsam, aber sicher mein Herz. Meine Knie drohten nachzugeben, und die Erkenntnis, dass meine Eltern ebenfalls zu Shadows geworden waren, explodierte zwischen meinen Schläfen.

»Nun, das Ganze wird jetzt wie folgt ablaufen.« Pferdeschwanz-Barbie verschräkte locker die Arme vor der Brust, was mir erneut irrwitzig vertraut erschien. Fast glaubte ich mich in einem Déjà-vu. »Wir opfern den Skorpion und töten euch anschließend. Kurz waren wir versucht, euch die Wahl zu lassen, unserem König ebenfalls ewige Treue zu schwören, aber wir haben uns dagegen entschieden – ich hoffe, ihr versteht das. Das Risiko, dass ihr uns früher oder später in den Rücken fallt, ist einfach zu groß.« Ein Schmunzeln zierte ihr Gesicht und brachte ein Grübchen zum Vorschein, das mich wie ein Stromschlag traf.

Mit einem Mal wusste ich verflucht genau, wieso sie mir so vertraut erschien. Die Form ihrer Augen, die vollen Lippen, dieses Grübchen.

Trotzdem weigerte sich mein Bewusstsein, das mehr als Offensichtliche wahrhaben zu wollen.

Denn, das konnte unmöglich wahr sein.

Ich musste mich täuschen.

Ich musste einfach!

Doch dann blitzte etwas auf, als das Licht des Mondes sie erfasste. An ihrer Hand prangte, in einer goldenen Fassung, ein protziger dunkelgrüner Edelstein.

Ich kannte mich nicht sonderlich gut aus, doch diesen Stein erkannte ich auf Anhieb wieder.

Es war ein Malachit.

Der Geburtsstein der Skorpione.