Kapitel Vierzig

P hoenix’ Schwester stand, den goldenen Dolch in der Hand und ein überhebliches Grinsen im Gesicht, hinter dem Grabstein des mit Blumen übersäten Babygrabes. Reste von getrocknetem Blut klebten ihr schwarz an Mund und Wange.

Zu ihrer Rechten stand ein Koloss von Shadow und hielt eine blutüberströmte und durch Schatten-Schlangen an seine breite Statur gebundene Olympia gefangen. Ollys Lider waren gesenkt und sie machte nicht den Eindruck, als bekäme sie irgendetwas von dem mit, was um sie herum geschah. Doch ihre Brust hob sich leicht, was mir einen Felsbrocken vom Herzen rollen ließ.

»Tu auf keinen Fall, was sie von dir verlangt!«, hörte ich Jackson undeutlich rufen. »Du darfst das Götterkind nicht befreien! Ganz egal –«

»Genug!«, bellte Arizona in Jacksons Richtung. Sein Gesicht war von Schlägen völlig verschwollen, sein Körper mit blutenden Wunden überzogen und von Arizonas Schlangen bewegungsunfähig gemacht. »Wir wissen alle, dass du dich und dein gesamtes Team, ohne mit der Wimper zu zucken, opfern würdest, um das deiner Meinung nach Richtige zu tun. Aber heute geht es nicht darum, wie du entscheiden würdest, sondern, welche Wahl unser kleiner Skorpion hier treffen wird.« In ihren Augen blitzte es aufgeregt. »Du hast die Wahl: Wie du bereits richtig erkannt hast, reicht es nicht, dein Blut zu vergießen. Du musst es freiwillig tun. Und damit du einen Anreiz hast, mache ich dir ein Angebot. Sowohl du als auch deine Freunde habt euch mindestens einen Schatten-brand zugezogen. Was das bedeutet, weißt du. Unbehandelt werdet ihr alle binnen weniger Stunden sterben – die einen früher als die anderen.« Zwinkernd deutete sie auf Olly.

»Lass mich raten«, hörte ich mich sagen und zwang mich zitternd auf die Beine. Ich durfte jetzt auf keinen Fall an Phoenix denken, sondern musste mich auf Arizona konzentrieren. »Du bietest mir an, die anderen freizulassen, wenn ich mich dafür im Gegenzug selbst umbringe.«

Arizonas Grinsen wurde breiter, jedoch kein Grad wärmer. »Wir wissen beide, dass ich das niemals tun würde, selbst wenn ich es sage. Stattdessen biete ich dir an, deine Freunde schnell und schmerzlos zu töten. Das ist doch auch etwas, nicht wahr?! Also? Wie entscheidest du dich? Bedenke jedoch, kleiner Skorpion: Solltest du mit dem Gedanken spielen, mein Angebot auszuschlagen, wirst du den Zorn des Schattenkönigs auf dich ziehen. Und dann wirst du nicht einmal mehr im Tod sicher sein.«

»Oh Mann, Schwesterchen! Ich wusste ja, dass du einen Hang zum Dramatischen hast. Aber findest du nicht, dass du dieses Mal übertreibst?« Der tiefe samtig-weiche Bariton durchfuhr mich wie ein Elektroschock und brachte mein Herz völlig aus dem Rhythmus. Holpernd purzelte es durch meine Brust, bis ich mich zu der Quelle herumdrehte.

Und erstarrte.

Die Arme locker vor der Brust verschränkt, stand der Mann, der mir in kürzester Zeit tiefer unter die Haut gegangen war als jeder andere zuvor, ein paar Schritte von uns entfernt. Seine Lederjacke war intakt, die Haare fielen ihm lockig um das Gesicht, und seine Wunden waren verschwunden. Sogar das vertraute amüsierte Lächeln lag auf seinen vollen Lippen, das mich normalerweise Luftsprünge machen ließ.

Doch Luftsprünge waren gerade das Letzte, woran ich denken konnte.

»Phoenix … was hast du getan?«, presste ich tonlos hervor, den Blick entsetzt auf sein farbloses Gesicht geheftet. Silberfarbige zu Schlitzen verzogene Pupillen starrten mich an. Dunkler Rauch umwaberte ihn und erstickte selbst den allerletzten Funken Zweifel.

»Was hast du getan?«, wiederholte Arizona meine Frage kreischend.

Dabei war die Antwort mehr als offensichtlich.

Phoenix hatte sich selbst getötet und war zu dem Monster geworden, das er einst gejagt hatte.

Er war ein Shadow.