Ichi-Go, Ichi-E – Genieße den Augenblick

Sloane

Als Serienmörder Serienmörder zu jagen, ist ein großartiges Hobby.

Bis man eingesperrt in einem Käfig sitzt.

Drei Tage lang.

Mit einer Leiche.

Im Sommer in Louisiana.

Ohne Klimaanlage.

Finster starre ich auf die von Fliegen umschwärmte Leiche jenseits der verschlossenen Tür meines Käfigs. Schon bald werden die Knöpfe von Albert Briscoes Hemd abspringen, das sich über seinem geblähten, grünlich grauen Leib spannt. Albert Briscoe ist tot, doch sein Körper bewegt sich, denn die dünne Haut wellt sich unter den aufsteigenden Gasen und Maden, die sich durch sein Fleisch fressen. Der Verwesungsgeruch, das Summen der Insekten, der Gestank von Scheiße und Pisse, die er unter sich gelassen hat, sind verflucht ekelig. Dabei bin ich nicht zimperlich. Aber ich habe Standards. Ich bevorzuge meine Leichen frisch. Ich will nur meine Trophäen ergattern, meine Szenerie arrangieren und gehen  – und nicht dabei zusehen müssen, wie sie sich verflüssigen.

Wie aufs Stichwort höre ich ein leises Geräusch, als würde feuchtes Papier reißen.

»Nein …«

Fast meine ich, Albert aus dem Grab zu hören: Doch.

»Oh, nein, nein, nein …«

»Aber ja doch! Dafür, dass du mich gekillt hast, verdammte Bitch.«

Die Haut platzt auf, und heraus quillt eine weiße Masse, die aussieht wie ein Haufen Hörnchennudeln. Nur dass sich eine beträchtliche Menge dieser Nudeln auf mich zuschiebt, langsam wie ein Gletscher, auf der Suche nach einem stillen Plätzchen, um das nächste Stadium ihres Lebenszyklus als Maden zu vollenden.

»Gottverdammt.« Ich rutsche mit dem Hintern über den schmutzigen Boden meines Käfigs, um mich in einer Ecke zusammenzurollen. Drücke die Stirn so fest gegen meine Knie, dass ich Kopfschmerzen kriege. Fange an, zu summen, um die Geräusche um mich herum zu übertönen, die mit einem Mal viel zu laut geworden sind. Ich summe immer inbrünstiger, bis meine rissigen Lippen hier und da ein Wort formen. No one here can love or understand me … Blackbird, bye, bye … , summe und singe ich, bis erst die Worte verstummen und dann die Töne.

»Ich widersage meinen sündigen Neigungen«, sage ich, als sich der Song zwischen Staubpartikeln und dem Sirren durchsichtiger Insektenflügel auflöst.

»Wie schade! Ich wette, mir würden Ihre sündigen Neigungen gefallen.«

Ich schrecke zusammen, als ich die tiefe, warme Männerstimme höre. Durch den Hauch eines irischen Akzents wirkt sie noch weicher.

Ein Mann schlendert in den Lichtstreifen des schmalen, mit Fliegendreck bedeckten Fensters. Hastig rutsche ich noch weiter zurück, schlage mit dem Kopf gegen eine der Eisenstangen meines Käfigs und zische einen Fluch.

»Mir scheint, Sie befinden sich in einer misslichen Lage«, bemerkt er und verzieht den Mund zu einem schiefen Grinsen. Der Rest seines Gesichts bleibt im Schatten. Er tritt ein paar Schritte weiter in den Raum, beugt sich über die Leiche und betrachtet sie eingehend. »Wie ist Ihr Name?«

Dies ist mein dritter Tag ohne Kaffee. Ohne Essen. Wahrscheinlich ist mein Magen mittlerweile implodiert und hat andere Organe mit ins Vakuum gezogen. Ein lauter Chor verzweifelt hungriger innerer Stimmen versucht, mich zu überzeugen, dass es wirklich kleine Hörnchennudeln sind, die auf mich zukriechen, und dass sie vielleicht essbar sind.

Ich hab keine Nerven für diesen Scheiß.

»Ich glaub nicht, dass er Ihnen antworten wird«, sage ich.

Der Mann lacht leise. »Sicher nicht. Außerdem weiß ich schon, wer das ist. Albert Briscou, die Bestie des Bayou.« Der Blick des Mannes verweilt noch ein wenig auf der Leiche, bevor er sich mir zuwendet. »Aber wer sind Sie

Ich antworte nicht und rühre mich auch nicht, während der Mann langsam und bedächtig um den Käfig herumgeht, um mich besser im Schatten sehen zu können, wo ich mich zusammengekauert habe. Dicht vor den Gittern lässt er sich in die Hocke sinken. Ich versuche, mich hinter meinen wirren Haaren und verschränkten Gliedmaßen zu verstecken, und biete ihm nur meinen Blick.

Und bei meinem Pech sieht er natürlich umwerfend aus.

Braune, kunstvoll zerzauste Haare. Markante, aber nicht strenge Gesichtszüge. Ein durchtriebenes Lächeln, das perfekte Zähne und eine Narbe zeigt, die seine Oberlippe durchschneidet – überhaupt Lippen, die für meinen momentanen Zustand als Gefangene viel zu einladend sind: die untere ein bisschen voller als die obere. Ich sollte mir nicht vorstellen, wie gern ich daran knabbern würde. Ganz und gar nicht.

Doch ich kann nicht anders.

Dabei bin ich momentan einfach widerlich .

Verknotete Haare. Blutbefleckte Klamotten. Und in der gesamten Geschichte des Atems wurde noch nie ein üblerer Atem geatmet als meiner.

»Sie passen gar nicht in Alberts typisches Beuteschema«, bemerkt er.

»Was wissen Sie denn darüber?«

»Sie sind viel zu alt dafür.«

Er hat recht. Nicht dass ich mit meinen gerade mal dreiundzwanzig Jahren alt wäre. Aber dieser Typ weiß genauso gut wie ich, dass ich für Alberts Geschmack viel zu alt bin.

»Und woher wollen Sie das so genau wissen?«

Der Mann blickt hinüber zur Leiche, und ein Anflug von Abscheu huscht über sein umschattetes Gesicht. »Weil ich es mir zur Aufgabe gemacht habe, so etwas zu wissen.« Er blickt wieder zu mir und lächelt. »Vermutlich haben Sie sich das ebenfalls zur Aufgabe gemacht, wenn ich über die Qualität des Jagdmessers urteilen soll, das in seiner Kehle steckt. Handverlesener Damaststahl. Woher haben Sie das?«

Ich seufze. Mein Blick verweilt kurz auf der Leiche und meinem Lieblingsmesser, bevor ich die Wangen an meine hochgezogenen Knie presse. »Etsy.«

Wieder lacht der Typ leise. Ich hebe einen kleinen Kieselstein auf und werfe ihn aus dem Käfig.

»Ich bin Rowan«, sagt der Mann und schiebt seine Hand durch die Gitterstäbe.

Ich starre sie an und werfe ein weiteres Steinchen.

Er streckt mir weiterhin seine Hand entgegen, obwohl ich keinerlei Anstalten mache, sie zu ergreifen. »Sie kennen mich vielleicht als Boston Butcher

Ich schüttle den Kopf.

»Oder als Massenmördermassaker

Erneut schüttle ich den Kopf.

»Als Rächer der Ostküste

Ich seufze.

Natürlich hab ich all diese Namen schon gehört, aber das werde ich ihm nicht auf die Nase binden.

In meinem Inneren jedoch pumpt mein hämmerndes Herz rasend schnell Blut durch meine Adern. Ich bin nur froh, dass er nicht sehen kann, wie sehr meine Wangen glühen. Ich kenne die Namen, mit denen er belegt wurde, ganz genau und weiß auch, dass er so etwas ist wie ich: ein Jäger, der am liebsten den schlimmsten Abschaum jagt, den die Gesellschaft aus den Tiefen der Hölle heraufbeschworen hat.

Schließlich zieht Rowan doch seine Hand aus meinem Käfig zurück, und sein Lächeln wirkt leicht frustriert. »Schade, ich dachte, Sie würden meine kleinen Spitznamen kennen.« Er schlägt sich mit den Händen auf die Knie und steht auf. »Tja, dann gehe ich mal besser. Es hat mich gefreut, Sie fast kennenzulernen, namenlose Gefangene. Viel Glück.«

Mit einem letzten flüchtigen Lächeln dreht Rowan sich um und strebt mit großen Schritten zur Tür.

»Halt! Warten Sie! Bitte. « Gerade als er die Türschwelle erreicht, rapple ich mich auf und umklammere die kalten Gitterstäbe. »Sloane. Mein Name ist Sloane. Der Augenfädler

Daraufhin tritt Stille ein. Das einzige Geräusch stammt von den umherschwirrenden Fliegen und den Maden, die sich unbeirrt durchs verrottende Fleisch fressen.

Rowan wendet den Kopf und wirft einen Blick über die Schulter.

Und auf einmal ist er wieder da, direkt vor mir, mit einer einzigen schnellen Bewegung, die mich so erschreckt, dass ich zurückweichen will, doch da hat er schon meine Hand gepackt und schüttelt sie heftig.

»O mein Gott. Ich wusste es. Verdammt, ich wusste es, dass sie falschlagen. Es musste eine Frau sein. Augenfädler! So ein cooler Name. Die raffiniert geknüpfte Angelschnur mit den gottverdammten Augäpfeln ! Einfach wunderbar. Ich bin ein riesiger Fan.«

»Äh …« Rowan schüttelt mir weiterhin die Hand, obwohl ich versuche, sie ihm zu entziehen. »Tja dann … danke …?«

»Haben Sie den Namen erfunden? Augenfädler?«

»Also … ja …« Ich reiße meine Hand zurück, um mich ein Stück von diesem absonderlich begeisterten Iren entfernen zu können. Er grinst mich ehrfürchtig an und würde sicher bemerken, dass mir ein zweites Mal die Röte in die Wangen schießt, hätte ich keinen zentimeterdicken Schmutzfilm auf meiner Haut. »Sie finden ihn nicht blöd?«

»Nein, im Gegenteil, großartig. Massenmördermassaker ist blöd. Augenfädler ist der Wahnsinn!«

Ich zucke die Achseln. »Ich finde, es klingt nach einem ziemlich lahmen Superhelden.«

»Viel besser, als wenn die Behörden einen Namen für Sie erfinden. Glauben Sie mir.« Rowans Blick gleitet zur Leiche und wieder zu mir zurück. Er legt den Kopf schräg und mustert mich. Dann ruckt er einmal mit dem Kopf Richtung Albert. »Mönche, Mäuse, Ratten, Maden scheiden selten ohne Schaden. Kapiert? «

Wieder breitet sich Stille zwischen uns aus, unterlegt nur vom Brummen der Fliegen.

»Äh, nein …?«

Rowan wedelt abwehrend mit der Hand. »Ist nur ein Sprichwort, aber ich finde, das hat unter diesen Umständen ziemlich gut gepasst«, erklärt er mit stolzgeschwellter Brust und weist mit dem Daumen zur Leiche. »Bleibt trotzdem die Frage: Wie sind Sie in dem Käfig gelandet, wo er doch mit Ihrem Messer in der Kehle da drüben liegt? Haben Sie ihn durch die Gitterstäbe erdolcht?«

Ich werfe einen Blick auf mein ehemals weißes Hemd und den schmutzigen Stiefelabdruck, der von Blutspritzern überdeckt ist. »Man könnte wohl sagen, dass es schlechtes Timing war.«

»Hmmm«, äußert Rowan und nickt weise. »Das ist mir auch schon ein-, zweimal passiert.«

»Sie meinen, Sie waren mit einer Leiche in der Nähe in einen Käfig gesperrt und eine kleine Armee Hörnchennudeln marschierte auf Sie zu?«

Rowan blickt sich um und runzelt die Stirn.

»Nein. Könnte ich nicht behaupten.«

»Das dachte ich mir«, murmle ich seufzend. Ich wische mir die Hände an meinen schmierigen Jeansshorts ab, trete noch einen Schritt zurück und schiebe eine Hüfte vor. Langsam nervt mich dieser Eindringling, der anscheinend nicht mehr zu tun gedenkt, als meinen Hungertod in die Länge zu ziehen. Er ist sicher leicht durchgeknallt und lässt mich hier nicht raus.

Da muss ich ihm wohl auf die Sprünge helfen.

»Nun …?«

»Die kleinen Nudeln kommen ganz gut voran«, sagt Rowan mehr zu sich selbst und starrt auf die Parade winziger weißer Würmer, die auf mich zustreben. Als sich sein Blick vom Boden löst und zu mir gleitet, lächelt er eifrig. »Wollen wir was essen gehen?«

Ich mustere diesen Fremden mit ungerührter Miene und zeige auf mein blutiges Hemd mit dem Stiefelabdruck. »Nein? Es sei denn, Sie wollen, dass wir beide in den Knast kommen?«

»Stimmt ja«, sagt er stirnrunzelnd und geht zu Alberts Leiche. Er durchsucht seine Taschen, findet aber nichts. Dann blickt er hoch zu seinem aufgeblähten Hals, stößt einen leisen, triumphierenden Laut aus, zieht erst das Messer aus der Kehle und holt dann mit einem Ruck eine silberne Kette hervor, die unter seinem Griff reißt. Lächelnd dreht er sich zu mir um, steht auf und präsentiert mir auf seiner Handfläche einen kleinen Schlüssel.

»Duschen Sie erst mal, und ich suche Ihnen ein paar Klamotten. Danach brennen wir das Haus nieder.«

Rowan schließt die Tür auf und streckt eine Hand in meinen dunklen Käfig.

»Kommen Sie schon, Blackbird. Ich hab Lust auf Grillfleisch. Was sagen Sie?«