Ventrikulär
Sloane
Ein Jahr später …
Dieses Bedürfnis.
Es beginnt wie ein Juckreiz, ein Kribbeln unter der Haut. Und nichts erlöst mich von dem ununterbrochenen Flüstern in meinem Innern. Es kriecht bis in meinen Kopf und lässt mich nicht mehr los.
Irgendwann wird es schmerzhaft.
Je länger ich es leugne, desto tiefer zerrt es mich in den Abgrund.
Ich muss es beenden. Dafür tue ich alles.
Und es gibt nur eins, was das bewirkt.
Töten.
»Reiß dich zusammen, verdammt«, murmle ich, als ich zum fünfzigsten Mal an diesem Tag auf mein Wegwerfhandy starre. Ich gleite mit dem Daumen über den glatten Touchscreen und scrolle durch meinen kurzen SMS -Austausch mit dem einzigen Kontakt.
Butcher steht unter dem Foto, das ich für Rowans Profil ausgewählt habe: eine dampfende Bratwurst, aufgespießt von einer Grillgabel.
Ich weigere mich, über die verschiedenen Gründe für meine Wahl nachzudenken, und stelle mir lieber vor, ich würde ihm mit der Gabel in den Schwanz stechen.
Wetten, sein Schwanz ist so hübsch wie der Rest von ihm?
»Gott, ich brauche wirklich Hilfe«, zische ich.
Der Mann auf meinem Edelstahltisch reißt mich aus meinen Gedanken, als er gegen die Fesseln ankämpft, die ich um Hand- und Fußgelenke, Kopf und Rumpf und seine Arme und Beine gebunden habe. Ein dicker Knebel in seinem klaffenden Fischmaul erstickt sein Betteln und Flehen. Vielleicht war es übertrieben, ihn so gründlich zu fesseln. Schließlich kann er nirgendwohin. Aber zappelndes Fleisch auf Stahl reizt mich bis zur Weißglut, weil es sich anfühlt wie Krallen, die über meine grauen Zellen kratzen.
Ich wende mich mit dem Handy in der Hand ab und scrolle noch mal durch die wenigen Nachrichten, die Rowan und ich uns seit dem Tag im letzten Jahr geschickt haben, als wir uns kennenlernten und uns auf diesen zugegeben irren Wettstreit einigten. Vielleicht ist da ja etwas, das ich in unserer spärlichen Kommunikation der letzten zwölf Monate übersehen habe? Gibt es irgendeinen Hinweis, wie genau dieses Spiel laufen soll? Einen Weg, wie ich mich besser vorbereiten könnte? Ich habe nicht die geringste Ahnung, und das bereitet mir heftige Kopfschmerzen.
Ich schlendere zum Waschbecken, nehme eine Schachtel Ibuprofen aus dem Regal, lege das Handy ab, drücke zwei Tabletten in meine latexgeschützte Hand und schaue mir noch mal die Nachrichten von dieser Woche an, obwohl ich sie wahrscheinlich auswendig hersagen könnte.
Ich schick dir die Einzelheiten am Samstag.
Woher weiß ich, dass du nicht nur einen Vorsprung willst, um diese Runde zu gewinnen?
Da wirst du mir wohl einfach vertrauen müssen …
Hört sich blöd an.
Und nach Spaß! Oh, du weißt doch, wie man Spaß hat, oder?
Ach, halt doch den Mund!
Meinen HÜBSCHEN Mund, meinst du?
…
Samstag! Halte dein Handy bereit!
Und genau das habe ich getan. Fast den ganzen Tag halte ich schon mein Handy in der Hand, und mittlerweile ist es 20:12 Uhr. Das Ticken der riesigen Wanduhr, die ich ehrlich gesagt nur gegenüber dem Tisch angebracht habe, um meine Opfer noch mehr zu quälen, quält nun mich . Jedes Ticken hallt in meinem Schädel nach. Jede Sekunde durchzuckt meine Adern mit einem brennenden Stromstoß gespannter Erwartung.
Mir war gar nicht klar, wie sehr mir an diesem Spiel gelegen ist, bis sich immer mehr Vorfreude in meine Gedanken schlich.
Der Mann auf meinem Tisch zuckt zusammen, als ich den Hahn aufdrehe und das Wasser ins Edelstahlbecken rauscht. »Reg dich ab«, rufe ich über die Schulter und fülle mir ein Glas. »Wir sind noch nicht mal annähernd zum spaßigen Teil gekommen.«
Jammern, Winseln und ersticktes Flehen. Seine ängstliche Bettelei erregt und frustriert mich gleichermaßen, als ich die Ibuprofen einwerfe, das Wasser runterkippe und das leere Gefäß mit einem lauten Knall auf der Arbeitsfläche abstelle.
Wieder checke ich das Wegwerfhandy. 20:13 Uhr.
»Verfickt noch mal!«
Da summt mein Privathandy in der Tasche, und ich hole es heraus, um zu gucken, wer sich meldet. Lark. Ihre Nachricht besteht nur aus einem Messer-Emoji und einem Fragezeichen. Statt zurückzutexten, stecke ich mir Airpods in die Ohren, damit ich die Hände frei habe, und rufe sie an.
»Hey, Süße«, meldet sie sich beim ersten Klingeln. »Schon was von diesem Butcher gehört?«
Ich erfreue mich eine Sekunde an Larks sonniger Stimme, seufze dann aber tief auf. Abgesehen von meinem sündigen Treiben ist Lark Montague die Einzige in dieser Welt, die mir Klarheit bringt, wenn mein Geist in eine neue Dimension der Finsternis hinabsinkt.
»Noch nichts.«
Lark gibt einen nachdenklichen Ton von sich. »Und wie fühlst du dich?«
»Kribbelig.«
Wieder höre ich Larks nachdenkliches Summen, aber sie sagt nichts. Weder drängt sie mich, noch rät sie mir, was ich tun oder nicht tun sollte. Sie hört einfach zu – hört richtig zu, wie sonst keiner.
»Ich weiß nicht, ob das eine wahnsinnig blöde Idee ist, verstehst du? Schließlich kenne ich ihn ja gar nicht. Vielleicht ist das nur ein völlig impulsgesteuertes, leichtsinniges Ding.«
»Was ist falsch an impulsgesteuert?«
»Es ist gefährlich.«
»Aber auch spaßig , oder nicht?«
Ich schürze die Lippen und entlasse einen dünnen Luftfaden. »Vielleicht …?«
Larks glockenhelles Lachen erfüllt meinen Kopf, während ich zu den polierten Gerätschaften auf der Arbeitsfläche gehe, den Messern und Skalpellen, den Schraubenziehern und Sägen, die im Neonlicht blinken.
»Deine aktuelle Vorstellung von … Spaß …«, setzt Lark an und verstummt, als könnte sie sehen, dass ich ein Skalpell nehme und prüfend betrachte. »Reicht dir das noch?«
»Ja, schon«, erwidere ich achselzuckend und lege das scharfe Messer neben eine Operationsschere, eine Packung Verbandsmull und ein chirurgisches Nahtset. »Aber es ist, als würde etwas fehlen, verstehst du?«
»Liegt das daran, dass das FBI nichts mit den Hinweisen anfangen kann, die du im Netz hinterlässt?«
»Nein, die kommen schon noch drauf, und wenn nicht, schicke ich ihnen einen anonymen Brief. Seht euch die Netze genau an, ihr Trottel! «
Lark kichert. »Die Dateien sind im Computer« , zitiert sie Zoolander . Sie hat ständig irgendein passendes Filmzitat parat.
Ich stimme in ihr Gelächter ein. Larks strahlendes Licht dringt in die kühlen Wände meines umgebauten Lagercontainers, als hätte sie sich in den Stromkreis eingeschaltet. Doch die Leichtigkeit zwischen uns verblasst, als ich den Rollwagen mit dem Tablett voller Instrumente zu meinem Gefangenen rolle. »An diesem Wettstreit ist irgendwas, das … mich inspiriert. Es ist wie ein Abenteuer. Seit sehr langer Zeit hat mich nichts mehr so in Aufregung versetzt wie das hier. Und ich glaube – oder hoffe –, dass Rowan längst versucht hätte, mich umzubringen, wenn er das wollte. Keine Ahnung, wieso, und vielleicht ist das auch das Leichtsinnigste an der ganzen Sache, aber ich glaube, er empfindet so wie ich und sucht nach irgendwas, um diesen Drang zu lindern, der immer schwerer zu stillen ist.«
Wieder summt Lark, doch diesmal dunkler, fast knurrend. Wir reden nicht zum ersten Mal darüber. Sie weiß, was ich mache. Bei jeder Hinrichtung finde ich weniger Erleichterung. Und sie verfliegt immer schneller. Etwas fehlt .
Genau deshalb liegt dieser Dreckskinderschänder auf meinem Tisch.
»Was ist denn mit diesem mysteriösen Westküsten-Killer, von dem dein Rowan dir erzählt hat? Hast du mehr Infos über ihn rausgekriegt?«
Ich runzle die Stirn, weil meine Augen vom Kopfschmerz brennen. »Nein, nur dass ich von einem Mord in Oregon gelesen habe, vor zwei Monaten, der vielleicht ihm zuzuschreiben ist. Ein Wanderer wurde im Ainsworth Park umgebracht. Aber es gab keine Angaben über ein Kreuz auf der Stirn, von dem Rowan erzählt hatte. Vielleicht hat er recht, und die Behörden geben nicht alles preis, um den Mörder nicht zu alarmieren.« Als der Mann auf dem Tisch gegen seinen Knebel anheult, schlage ich so heftig mit der Hand aufs Tablett, dass die Instrumente klappern. »Ruhe , Kumpel. Winseln wird dir nicht helfen!«
»Deine Laune ist nicht von schlechten Eltern, Sloaney. Bist du sicher, dass du nicht …«
»Nein.« Ich weiß, was Lark fragen will, aber ich drehe nicht durch. Ich verliere nicht die Beherrschung. Ich gerate nicht außer Kontrolle. »Wenn dieser Wettstreit offiziell startet, werde ich vollkommen okay sein. Ich will nur die Infos zum ersten Ziel, verstehst du? Mit Warten kann ich nicht gut umgehen. Ich muss nur die Nervosität loswerden.«
»Solange du vorsichtig bist …«
»Na klar, immer«, versichere ich, während ich den Sauger zu dem Mann rolle, der verzweifelt versucht, sich von den unnachgiebigen Lederfesseln zu befreien. Als sich sein Winseln zu einem schrillen Heulen steigert, schalte ich das Gerät ein. Ein dünner Schweißfilm bedeckt seine Stirn, und aus seinen weit aufgerissenen Augen rinnen Tränen, während er versucht, den Kopf zu schütteln und mit der Zunge den Knebel wegzudrücken. Ich kneife leicht die Augen zusammen und mustere seine angespannten Gesichtszüge. Der Gestank der Verzweiflung dringt ihm aus allen Poren.
»Hast wohl einen würdigen Gast heute, was?«, fragt Lark, als die Panik des Kerls durch die Leitung dringt.
»Allerdings.« Der Metallgriff meines Lieblingsskalpells ist selbst durch das Latex hindurch angenehm kühl an meinen erhitzten Fingern. Meine Stimme klingt gepresst vor lauter Konzentration, als ich die Klinge unter dem Adamsapfel des Typs ansetze. »Ein ganz mieser Drecksack.«
In einer geraden Linie ziehe ich die scharfe Spitze durch die Haut und das Fleisch des Mannes. Seine Schreie fangen sich im Silikonknebel.
»Dies sind die Konsequenzen deiner Taten, Michael.« Ich wische die Blutstropfen vom Schnitt. »Du willst online mit kleinen Jungen reden? Willst ihnen Fotos von deinem schrumpligen Schwanz zeigen? Willst Kinder aus der Nachbarschaft mit kleinen Kätzchen und Süßigkeiten in dein Haus locken? Weil du so viel redest, nehme ich dir als Erstes die Stimme«, sage ich und drücke das Skalpell tiefer in Michael Northmans Kehle, um an die Stimmritzen und Taschenfalten zu kommen. Gurgelnd schlürft die OP -Absaugmaschine sein Blut durch den Schlauch, den ich in der freien Hand halte. »Und dann schneide ich dir die Finger ab, für jeden ekelhaften Text, für jede Drohung, die du verschickt hast, und stecke sie dir in deinen verdammten Arsch. Wenn du Glück hast, wird’s mir zu langweilig, bevor ich zu deinen Zehen komme.«
»Herrgott, Sloane«, sagt Lark und kichert hämisch. »Weißt du was? Ich glaube, du solltest dich wirklich auf den Wettstreit mit diesem Butcher einlassen. Du musst mal deine aufgestauten Aggressionen loswerden, Missy.«
Ja, allerdings.
Michael Northmans letzte Schreie erfüllen meine Todeszelle, als ich mich von meiner besten Freundin verabschiede und sowohl die Verbindung als auch die Stimmbänder meines Opfers kappe. Nachdem dieser Schritt der Operation beendet ist, nähe ich die Wunde – nur um Michael in der falschen Hoffnung zu wiegen, er könnte doch noch überleben. Ich befehle ihm, zur Uhr zu blicken, und schnappe mir die Astschere vom Wagen mit den Instrumenten. Vielleicht will er nicht meinen Befehlen gehorchen, aber ich habe in diesem Raum genug über den anfälligen menschlichen Geist gelernt, um zu wissen, dass er in den kommenden Stunden etwas haben will, auf das er sich konzentrieren kann. Und nichts ist fesselnder und gleichzeitig quälender, als zuzusehen, wie die Zeit bis zum eigenen Untergang Sekunde für Sekunde verrinnt.
Gerade will ich mich wieder dem Mann auf dem Tisch zuwenden, da summt das Wegwerfhandy in meiner Tasche.
Mein Bruder Lachlan wird die Zielperson aus einem Hut ziehen. Dann simst er uns gleichzeitig den Ort. Damit startet das Spiel. Wer die Zielperson als Erster tötet, hat gewonnen. Findet sie innerhalb von sieben Tagen keiner von uns, muss gelost werden. Oder wir entscheiden mit Schere, Stein, Papier.
Ich spüre, wie mein Herz einen Satz macht und wild loshämmert.
Da bist du krass im Vorteil.
Ich starre auf die drei Pünktchen, während Rowan zurückschreibt.
Glaub mir, wenn ich dir sage, dass Lachlan dich und nicht mich siegen sehen will. Ich hab keinerlei Vorteile. Er hat mir nichts verraten.
Unwillkürlich muss ich lächeln. Michael Northmans verzweifelte Versuche, sich zu wehren, verschwimmen im Hintergrund, als ich meine Antwort eingebe.
Ich kenn dich nicht gut genug, um dir zu glauben. Sollte ich entdecken, dass er dir Infos steckt, gibt das Rache. Das sag ich gleich, damit du Bescheid weißt, klar?
Es kommt mir vor, als würde sich die kühle Luft im Container verdichten, während ich die grauen Pünktchen in der linken oberen Ecke beobachte.
Ich glaub, jetzt will ich dich auch siegen sehen. Also bin ich einverstanden.
Du bist unmöglich.
Mag sein, aber wenigstens findest du mich hübsch.
Herrgott!
Ich ertappe mich, wie ich lächelnd auf mein Instrument starre. Ich sollte mir albern vorkommen. Mir sollte bewusst sein, wie gefährlich es ist. Doch ich verspüre nur eine Erleichterung, die mir bis ins Mark dringt, eine Aufregung, die meinen Puls noch weiter in die Höhe treibt. Einen Stromstoß, der jede meiner Zellen hell aufleuchten lässt.
Gerade will ich das Handy weglegen und mich auf meinen Gefangenen konzentrieren, da summt es noch mal in meiner Hand, und ein unbekannter Absender schickt gleichzeitig eine Nachricht an Rowan und mich.
Ivydale, West Virginia
Und viel Glück, Augennetz-Lady, oder wie auch immer dein Name ist. Denk mal, kleiner Bruder: Dein Titel Versager wird bald offiziell!
Ich muss noch breiter grinsen. Auf die Nachricht von Lachlan folgt sofort eine SMS von Butcher.
Siehst du? Wie ich gesagt habe. Wir sehen uns in West Virginia, Blackbird.
Ich lege die Astschere weg und greife wieder zum blutigen Skalpell.
Als ich mich erneut dem Mann zuwende, den ich auf den Tisch geschnallt habe, starrt er mich so panisch an, dass sich tiefer Friede über mich senkt. Sein Gesicht ist bleich vor Stress und Angst. Blut und Speichel quellen ihm aus den Mundwinkeln. Er versucht, den Kopf zu schütteln, als ich das Skalpell im Licht drehe und wende.
»Ich hab was vor, deshalb müssen wir einen kurzen, sauberen Schnitt machen, wenn du das Wortspiel verzeihen willst«, verkünde ich. Dann ziehe ich ihm die Klinge von einem Ohr zum anderen, sodass der Tisch innerhalb von Sekunden blutüberströmt ist.
»Der Spieleabend ruft.«