Atelier
Rowan
»Was machst du?«, fragt Fionn, als er in mein Zimmer kommt, und beißt von einer Karotte ab. »Willst du verreisen?«
Ich verdrehe die Augen und zeige auf die Karotte. »Verdammt, ist das eine neue Phase in deiner CrossFit-Manie? Mit rohem Wurzelgemüse in der Gegend rumlaufen?«
»Betacarotin, du Arschtrottel. Antioxidantien. Ich helfe meinem Körper, freie Radikale zu vernichten.«
»Nimm ’ne Vitaminpille! Du siehst aus wie ein Vollidiot.«
»Um Ihre Frage zu beantworten, Dr. Kane: Rowan macht einen kleinen Jagdausflug mit einer gleichgesinnten Seele«, erklärt Lachlan und wirft sich in einen der Ledersessel in der Ecke. »Aber wie es typisch für ihn ist, hat er daraus einen Wettstreit gemacht. Er brachte mich dazu, eine passende Beute auszusuchen, damit es für beide Parteien eine Überraschung ist. Also wird er dabei seinen Arsch riskieren, weil er ein übler kleiner Masochist ist.«
Ich bedenke Lachlan mit dem Todesblick, doch er grinst mich nur über sein Glas hinweg an, trinkt einen großen Schluck Bourbon und schlägt mit seinem Silberring klingelnd gegen das Glas.
»Wo?«, fragt Fionn.
»West Virginia.«
»… Wieso?«
Lachlan stößt ein Lachen aus. »Ich würde ja sagen, dass er versucht, sich einen Weg aus der Freundschaftszone zu bahnen, aber ich glaube, er ist noch nicht mal in der Zone.«
Fionn beißt krachend ein weiteres Stück Möhre ab und grinst mit vollem Mund wie ein grenzdebiles Gör.
Also tue ich, was jeder vernünftige erwachsene Mann mit seinem kleinen Bruder tun würde. Ich entreiße ihm die Karotte und schleudere sie auf Lachlan, wo sie mit einem befriedigenden Fump auf seiner Stirn landet.
Als meine Brüder einmütig Protestgeschrei anstimmen, stopfe ich grinsend noch ein Paar Jeans in meinen Trolley.
»Ich glaube, so viel Mühe hast du dir schon seit einer Ewigkeit nicht mehr für eine Frau gegeben. Wie lange hast du sie jetzt nicht gesehen? Ein Jahr?«, fragt Lachlan unvermittelt.
Fionn bekommt einen Hustenanfall, der im ganzen Zimmer widerhallt. Lachlan und ich sehen zu, wie er orangefarbene Stückchen in seine Hand hustet.
»Was? Ein ganzes verdammtes Jahr? Und wieso erfahre ich das erst jetzt?«
»Weil du mit deinem Arsch in irgendeinem Provinzkaff gesteckt hast, um den Landarzt zu spielen, deshalb«, lacht Lachlan. »Kehr nach Boston zurück, Fionn. Hör auf, dich in deiner kitschigen Vorstellung vom Ärztedasein zu suhlen, und komm nach Hause, um echte Medizin zu praktizieren.«
»Wichser« , sagen Fionn und ich wie aus einem Mund.
Lachlan grinst, stellt sein Glas auf dem Tischchen ab, holt ein Springmesser mit Perlmuttgriff aus der Tasche und lehnt sich zurück, um den Riemen seines extra für ihn angefertigten Abziehleders herauszuziehen. Er steckt seinen Mittelfinger durch den Metallring am Ende des Gürtels und zieht den Riemen straff, dann fängt er an, die Klinge des Messers zu schärfen. Das macht er schon seit unserer Kindheit, denn es beruhigt ihn. Auch wenn Lachlan Fionn und mich gern aufzieht, weiß ich doch, es stresst ihn, dass unser jüngerer Bruder nicht mehr in derselben Stadt lebt wie wir und dass ich jetzt auch noch losziehe, um ein irres Todesspielchen mit einer Serienmörderin zu spielen, die ich kaum kenne. »Nein, im Ernst«, sagt er, nachdem er die Klinge ein paar Mal über das Rindsleder gezogen hat. »Nebraska ist viel zu weit weg, Junge. Außerdem verpasst du da draußen all die hübschen Einzelheiten über Rowans nicht existentes, tragikomisches Liebesleben.«
»Das stimmt«, gibt Fionn zu. Er verschränkt die Arme, lehnt sich gegen die Kommode und senkt den Blick. Vermutlich wägt er die numerischen Werte von eingeweiht sein und nicht eingeweiht sein ab und errechnet damit die statistische Wahrscheinlichkeit auf Glück geteilt durch Pi.
Verdammter Nerd.
»Hast du sie schon gesehen?«, fragt er, als er aus seiner analytischen Trance erwacht, und schaut Lachlan direkt an, als wäre ich nicht mal da.
»Nur auf ein paar Fotos.« Lachlan trinkt einen Schluck und grinst, als er meinen finsteren Blick sieht. »Sie ist verdammt heiß. Hat eine entschieden dunkle Seite: Es gefällt ihr, ihren Opfern die Augen auszukratzen, wenn sie noch leben. Die Bullen nennen sie Augenfädler . Aber eigentlich heißt sie Sloane Sutherland.«
»Nimm ihren Namen nicht in den Mund«, knurre ich.
Daraufhin erfüllt Lachlans dröhnendes Gelächter den Raum. Er hebt die Hand mit dem Messer an seinen Mund, lacht aber ungeniert weiter. Der Klugscheißer will mir zweifellos klarmachen, dass von uns beiden er derjenige ist, der eine Waffe hat.
Hielte er keine rasiermesserscharfe Klinge in der Hand, würde ich ihm meine Faust in seine selbstzufriedene Fresse rammen.
»Sagen wir mal, du würdest es irgendwie in die Freundschaftszone schaffen und dann, durch ein verdammtes Wunder, auch noch darüber hinaus bis in die Gunst der Spiderlady, ohne ein Auge zu verlieren: Wie sollte ich sie dann deiner Meinung nach nennen?«
»Keine Ahnung, Arschloch. Wie wär’s mit Königin ? Oder Eure Hoheit ? Fick dich!«
Ich stöhne auf, als Lachlan jetzt noch lauter lacht. »Also Fickdich . ›Freut mich, dich kennenzulernen, Fickdich . Ich bin dein Schwager, willkommen in der Familie, Fickdich .‹«
Gerade will ich mich auf Lachlan stürzen, da meldet sich mein Wegwerfhandy mit einem Ping.
Das Beste draus machen.
Darunter ein Foto von Sloanes schlanken Fingern, die ein Glas Champagner in der Business-Class eines Fliegers halten. Ihr blutroter Nagellack glänzt im künstlichen Licht der Kabine.
Sofort hämmert mein Herz gegen meine Rippen.
Ich kann fast fühlen, wie sie mir mit diesen Nägeln über Brust und Bauch kratzt, wie sie mit trügerischer Stärke ihre Finger um meinen Schwanz windet. Ich sehe förmlich das Glühen in ihren haselnussbraunen Augen, als sie mich direkt ansieht, und spüre, wie ihr Atem meinen Hals wärmt, während sie mir etwas ins Ohr flüstert.
Lachlan lacht, als könnte er jeden meiner Gedanken lesen. Ich räuspere mich.
Wie ich sehe, bist du schon im Flieger. Das ist … super …
Ja, bin ich. Und du eindeutig nicht. Wir sehen uns, wenn du endlich nachkommst. Aber das wird wohl dauern …
Ich werde rot, während meine Daumen über dem Display schweben.
Ist es zu spät für einen Neustart?
Sofort kommt ihre Antwort.
Absolut. Viel zu spät.
Knurrend mache ich mich daran, noch schneller zu packen, obwohl ich dadurch natürlich nicht schneller im Flieger sitze.
»Alles klar bei dir, kleiner Bruder? Oder hat Fickdich schon dein Opfer erledigt?«
Ich spiele mit dem Gedanken, meinen halb gepackten Koffer in Lachlans grinsendes Gesicht zu schleudern, da klingelt sein Handy. Sofort fällt jegliche Spur Humor von ihm ab, wie Asche von einem verkohlten Holzscheit abfällt und nur noch rissiges Karbon hinterlässt.
»Lachlan hier«, sagt er mit harscher Stimme und grollt auf die Nachricht des Anrufers nur »Ja« oder »Nein«. Ich rolle mein Hemd so fest zusammen, dass meine Knöchel weiß werden, und starre dabei hinüber zu meinem älteren Bruder, aber er löst seinen Blick nicht vom Springmesser, das er in seiner Hand hin und her wendet. »Ich werde da sein. In dreißig Minuten.«
Als Lachlan mich schließlich ansieht, ist sein Lächeln knapp und grimmig.
»Nachtschicht?«, frage ich.
»Nachtschicht«, bestätigt er.
Tagsüber hat Lachlan das Kane Atelier, sein auf Lederwaren spezialisiertes Studio, wo er Kunstwerke aus der Haut von toten Lebewesen erschafft. Aber nachts wird mein Bruder, wann immer Leander Mayes anruft, das skrupellose Werkzeug des Teufels.
Ich persönlich genieße es, den Abschaum auszulöschen, der mir aus der höllischen Brühe der modernen Gesellschaft über den Weg läuft.
Aber Lachlan? Ich weiß nicht, ob er in letzter Zeit überhaupt noch etwas genießt. Er tötet gezielt, hüllt sich aber in kühle Gleichgültigkeit. Ich glaube, das Leben ist ihm egal, außer, wenn er mit seinen Händen Leder bearbeitet oder Fionn und mich verarscht.
Ein schmerzlicher Stich fährt mir durch die Brust, als Lachlan aufsteht, sein Messer einsteckt, knackend den Hals reckt und das Abziehleder wieder in die Gürtelschlaufen fädelt. Ein schwacher Nachhall seines Lächelns erscheint, als er zu mir herüberblickt.
»Pass auf dich auf, Trottel«, sagt er.
»Du auch, Arschloch.«
Lachlan grinst und legt mir im Vorbeigehen die Hand auf die Schulter. Ganz kurz drückt er seine Stirn gegen meine, und dann geht er weiter zur Tür, um dasselbe mit Fionn zu machen. Unser jüngster Bruder konnte seine Sorge noch nie gut verbergen. In seinen hellblauen Augen spiegeln sich Angst und Traurigkeit, und als er Lachlan nachsieht, breitet sich schmerzliche Besorgnis über sein jungenhaftes Gesicht aus.
»Wir sehen uns, Jungs«, sagt Lachlan, als er die Schwelle überschreitet und im dämmrigen Flur verschwindet. »Und komm nach Hause, Fionn.«
»Vergiss es«, gibt Fionn zurück, woraufhin ein leises Lachen aus dem dunklen Korridor ertönt, bevor die massive Tür meines Apartments mit einem dumpfen Schlag zufällt. Als Fionn sich zu mir umdreht, furcht immer noch Sorge seine Stirn. »Bist du sicher, dass deine Reise eine gute Idee ist? Ich meine, wie gut kennst du diese Sloane eigentlich?«
Grinsend senke ich den Blick, schließe den Koffer und werfe ihn mir über die Schulter. »Nicht besonders gut. Ich hab sie erst einmal getroffen.«
Fionns nervöses Schlucken ist fast zu hören. »Nur einmal? Wie habt ihr euch kennengelernt?«
»Das willst du wirklich nicht wissen.«
»Klingt ein bisschen leichtsinnig, Rowan, selbst für dich. Ich weiß, du hast dieses Sandwichkind-Problem«, fügt er hinzu und wedelt mit der Hand, so wie Lachlan und er es immer tun, wenn sie mein wildes Benehmen und meine tollkühnen Entscheidungen erklären. »Aber sich mit einer Serienkillerin zu treffen, die man nur einmal vor einem Jahr gesprochen hat, das ist … nicht normal.«
Mein Lachen scheint ihn nicht zu beruhigen. »An uns ist nichts normal, aber ich komm schon klar. Ich hab ein gutes Gefühl bei ihr.«
Mein Handy meldet eine Nachricht.
Der Flieger startet gleich. Wär dies ein Rennen, lägst du schon hinten.
Halt … Das ist
ja ein Rennen. Sieh mal einer an! Ich hoffe, du magst nackte Augäpfel, weil ich den Arsch erledigen werde, bevor du deinen Hintern hierher bewegt hast. Gute Reise!
»Ja, Fionn«, sage ich breit grinsend, lasse das Handy in meine Tasche gleiten und gehe zur Tür. »Ich komm klar.«