Bar jeder Menschlichkeit
Sloane
Vier Monate später …
»Verdammt! Bin ich zu spät? Hast du schon gewonnen?«
Rowan wirft mir einen kurzen Blick zu, während ich ihm auf dem ausgetretenen Pfad entgegenkomme. Der Staub überzieht meine Sneaker mit rötlichgrauer Farbe. Rowan hat die Arme vor der Brust verschränkt, und sein T-Shirt spannt an seinen kräftigen Bizepsen. Ein Anflug von Angst ist in seinen Augen zu sehen, mit denen er mich prüfend mustert, bevor er die Aufmerksamkeit wieder dem zuwendet, was hinter den sanften, mit Präriegras bewachsenen Hügeln liegt.
»Nein, hab nicht gewonnen.«
»Was machst du denn?«
»Ich versuche, mich wieder aufzubauen.«
Fragend lege ich den Kopf schräg, aber Rowan sieht mich nicht an. Als ich zu ihm trete, folge ich seinem Blick.
»Wow … das ist … ach du Scheiße!«
Ich betrachte das baufällige einstöckige Farmhaus hinter den geschwungenen Hügeln und wandere mit dem Blick über die schwer beschädigte ausgeblichene Holzfassade und die zersplitterten, vernagelten Fenster im ersten Stock. Auf der rechten Seite des Dachs klafft ein Loch, als wollte das Haus in den Himmel schreien, der vom nahenden Sturm verdunkelt wird. Müll bedeckt die überdachte Veranda: zerbrochene Stühle und Kisten, Ölkanister und Werkzeug. Nur der Abschnitt, der zur Fliegentür führt, ist frei.
»Tja … sehr gemütlich«, bemerke ich.
Rowan summt nachdenklich vor sich hin. »Wenn gemütlich bei dir für albtraumartig steht, stimme ich zu.«
»Bist du sicher, er ist da drin?«
Wie aufs Stichwort ertönen irres Gelächter und das Gebrüll eines Mannes, dicht gefolgt vom Kreischen einer Kettensäge im Haus.
»Yep, ziemlich sicher.«
Die Schreie, das manische Gelächter und das Schrillen der Kettensäge erfüllen die Luft, die plötzlich zu heiß und zu schwer scheint. Mein Puls beschleunigt sich. Mir rauscht das Blut in den Ohren, das stetige Pochen meines Herzens unterlegt die Symphonie des Wahnsinns mit einem Rhythmus.
»Oder wir könnten ein Bier trinken gehen«, sagt Rowan über den Lärm hinweg, der vom Haus kommt. »Normale Leute machen das doch, oder? Ein Bier trinken gehen?«
»Ja …«
Etwas in mir findet, das wäre vernünftig, aber ich kann nicht leugnen, dass mich ein Adrenalinstoß durchzuckt und mit Aufregung erfüllt. Harvey Mead ist ein brutaler Sadist, ein wahres Ungeheuer, und ich will ihn zur Strecke bringen. Ich will ihn an die Bodendielen seines Horrorhauses nageln und ihm die Augen rausreißen in der Gewissheit, dass ich diejenige bin, die dafür sorgt, dass er nie wieder ein unschuldiges Leben beendet. Er soll fühlen, was seine Opfer gefühlt haben.
Er soll leiden .
Rowan stößt einen tiefen Seufzer aus und sieht mich von der Seite an. »Aber wir gehen kein Bier trinken, nicht wahr?«
»Doch, na klar. Aber erst danach.«
Ein verzweifelter Schrei dringt schrill durch die Luft und schreckt einen Schwarm Krähen und einen einsamen Geier auf, die sich in dem dürren Wäldchen links vom Pfad versteckt haben. Aber weit fliegen sie nicht, vermutlich wissen sie, dass die Geräusche aus dem Haus die nächste Mahlzeit ankündigen.
Während das Kreischen der Kettensäge lauter wird, werden die Schreie immer schwächer. Es sind Schreie der Qual und der Hoffnungslosigkeit. Dies ist kein Betteln um Gnade, sondern reiner Schmerz, kaum mehr als ein Reflex. Aller Menschlichkeit beraubt, nackt und bloß, reduziert auf eine Kreatur im Griff des Todes.
Harvey Meads irres Lachen verstummt. Die Schreie seines Opfers werden leiser, bis sie ersterben. Das Kreischen der Kettensäge geht weiter, steigt und fällt mit der Aufgabe, bis es schließlich auch verstummt und uns in nachhallende Stille hüllt.
»Neue Regel«, sage ich, nachdem ich mich geräuspert habe, und wende mich zu Rowan. Er starrt mich mit rotem Gesicht an, und seine dunkelblauen Augen lodern hell wie das Herz einer Flamme. Er nickt zwar, doch finde ich keinerlei Erregung in seiner Miene. Er hat die Lippen grimmig zusammengepresst und die Stirn gerunzelt. »Wenn du ihn zuerst erwischst, dann muss ich was von ihm haben.«
Wieder nickt Rowan, aber nur einmal. Seine Präsenz dringt in meinen persönlichen Raum ein. Seine Hitze. Sein Geruch. Salbei, Pfeffer und Zitrone umhüllen mich.
»Nur eins«, sagt er rau, als wären die Wörter schartige Scherben. Mir stockt der Atem, als er mir seine zur Faust geballte Hand auf die Wange legt und mit dem Daumen über die Wimpern fährt, sodass ich unwillkürlich die Augen schließe. In der Dunkelheit des nahenden Sturms wirkt alles intensiver: die Stille vom Farmhaus, der Duft von Rowans Haut. Seine sanfte Berührung. Das Hämmern meines Herzens. »Nur eins«, wiederholt Rowan und nimmt seine Hand weg. Als ich die Augen öffne, sehe ich, dass er auf meinen Mund starrt.
»Was: nur eins?«, flüstere ich kaum hörbar.
»Nur ein Auge.« Rowan löst den Blick von mir und wendet sich zur abbruchreifen Farm. »Er soll leiden. Aber das soll er auch sehen .«
Ich nicke. Ein Blitz erhellt den schwarzen Gewitterhimmel, dicht gefolgt vom Krachen des Donners. »Versprochen, egal, wer gewinnt.«
Ich ziehe mein Damaststahlmesser heraus und will zum Haus gehen, doch als Rowan mir mit den Fingerspitzen über den Unterarm streift, versetzt mir seine federleichte Berührung einen Stromschlag, sodass ich abrupt innehalte. Unsere Blicke treffen sich, und mein Herz ballt sich zusammen, denn so hat mich noch nie jemand angesehen: voller kaum verhohlener Sorge und Angst. Und zum ersten Mal ist es nicht Angst vor mir .
Sondern Angst um mich .
»Sei vorsichtig, Blackbird. Ich will nicht …« Ein Windstoß lässt Rowan verstummen. Er schaut zum Haus, schüttelt den Kopf, lässt den Blick zu meinen staubigen Schuhen und dann wieder zu mir hoch wandern. »Er ist ein großer Kerl. Und jetzt wahrscheinlich ziemlich aufgeputscht. Geh kein Risiko ein.«
Ein Lächeln zupft an einem meiner Mundwinkel, aber Rowan sieht mich unverwandt ernst an.
Ich erwidere seinen Blick. Halte die Luft an. Spüre, wie mein Herz pocht. Sehe einen weiteren Blitz.
Und dann gehe ich los und höre Rowans Schritte hinter mir, als wir beide auf Harvey Meads Haus zusteuern.
Der Weg schlängelt sich zwischen zwei Hügeln hindurch und endet an einer Fläche mit Stoppelgras, die die Gebäude umgibt. Rechts vom Haus fällt das Gelände zu einer Senke mit Büschen und einem kleinen Bach ab, der in der Augustdürre vermutlich nur noch ein Rinnsal ist. Zwischen Haus und Senke befindet sich ein kleiner Garten, der mit Hühnerdraht eingezäunt ist. Daran hängen Scherben, die mit ihrem Geklimper die Vögel abschrecken sollen. Links hinter dem Haus befinden sich die Nebengebäude: ein Hühnerstall, eine alte Werkstatt mit flachem, niedrigem Dach. Eine Scheune steht wie eine düstere Festung zwischen dem Farmhaus und dem nahenden Sturm. Inmitten von Texas-Eschen und Wüstenweiden hocken ausgeschlachtete und verrostete Autos.
Am Rand des Grundstücks bleibe ich stehen. Rowan tritt an meine Seite. »Super Außeneindruck«, flüstere ich.
»Sieht von Nahem viel besser aus. Der Puppenkopf gibt allem eine besondere Note«, erwidert er flüsternd und weist nickend auf den Kopf einer Chatty-Cathy-Puppe aus den Fünfzigern, die uns mit seelenlosen schwarzen Augen von der Veranda aus anstarrt.
»Ich nehme es, wenn ich als Zugabe das …«, ich beuge mich vor und starre mit zusammengekniffenen Augen auf etwas Graues, Pelziges unter einem zertrümmerten Schaukelstuhl, »das … Opossum? … kriege?«
»Ich dachte eher an Katze, aber einverstanden.«
Ich richte mich auf, drehe mich zu Rowan und halte ihm meine Faust hin.
»Sloane …«
»Schere, Stein, Papier. Der Verlierer muss durch die Haustür«, sage ich mit zynischem Grinsen.
Rowan sieht mich eine ganze Weile nur an, bevor er den Kopf schüttelt und resigniert seufzt. Endlich legt er seine Faust über meine.
Wir zählen lautlos bis drei, dann entscheiden wir uns, und ich verliere mit meiner Schere gegen Rowans Stein. Er verzieht das Gesicht.
»Zwei von drei«, zischt er und hält mich am Handgelenk fest, als ich auf die Veranda zugehen will.
»Weil ich verloren habe? Auf keinen Fall. Ab zur Hintertür, und genieße deinen Vorteil, du Irrer.« Lächelnd rümpfe ich die Nase, als wäre das alles keine große Sache, obwohl Rowan meinen Puls am Handgelenk spüren kann, bis er mich loslässt.
Ich blicke nicht zurück, während ich mich darauf konzentriere, lebendig die Veranda zu erreichen. Alles in mir schreit danach, kehrtzumachen, bei Rowan zu bleiben und gemeinsam mit ihm auf die Jagd zu gehen. Aber das tue ich nicht.
Als ich einen Fuß auf die morschen Stufen setze, sehe ich aus dem Augenwinkel, wie Rowan endlich ums Haus herumschleicht.
Während ich mich lautlos voranwage, behalte ich das Chaos um mich herum im Blick, um ja nicht irgendwas umzustoßen oder das Gleichgewicht zu verlieren. Ich nehme keinerlei Laut aus dem Haus war, keinerlei Bewegung hinter der Fliegentür, keine bedrohlichen Schatten, die im Licht eines Blitzes aufflackern. Gerade als ich die Tür erreicht habe, platschen die ersten Regentropfen auf die überdachte Veranda und entlocken den leeren Dosen und Metallgerätschaften eine blecherne Melodie.
Ich ziehe die Fliegentür gerade weit genug auf, um ins Haus zu schlüpfen, und das Quietschen der rostigen Scharniere geht in einem ohrenbetäubenden Donner unter, der die Wände wackeln lässt.
Vom Gestank nach Schimmel, Essensresten und Verwesung wird mir leicht übel, als ich einen schmalen Flur betrete. Auf der linken Seite liegt ein Wohnzimmer mit alten Möbeln und staubiger Originalvertäfelung. Die Blümchentapete hat sich teilweise von den Wänden gelöst und flattert in dem scharfen Wind, der sich durch die zersprungenen Fenster und die offenen Türen einen Weg ins Haus bahnt. Auf einem Sessel neben dem Kamin sitzt eine teilweise mumifizierte Gestalt, mit einer Bibel in den knochigen Händen und einer Häkeldecke über dem Schoß. Ihre langen weißen Haare schweben im Wind, und in ihrem schlaffen Kiefer steckt noch das Gebiss.
»Mütterchen Mead, nehme ich an«, flüstere ich ihr zu, betrete vorsichtig das Zimmer und bleibe vor ihr stehen. »Und ich wette, du warst ein echtes Miststück, nicht wahr?«
Aber der Umstand, dass Harvey Mead dem ausgetretenen Pfad all der anderen Serienmörder folgt, die eine Fixierung auf ihre kontrollsüchtigen, dominanten und wahrscheinlich gewalttätigen Mütter haben, macht ihn nicht weniger gefährlich.
Allerdings kommen mir da einige Ideen …
Grinsend beuge ich mich zu der Frau im Sessel und betrachte ihre Augenhöhlen und die ledrige Haut. »Wir sehen uns bald wieder, Mama Mead.«
Nach einem Augenzwinkern umklammere ich mein Messer fester und verlasse das Zimmer. Dann gehe ich quer durch den Eingangsflur zur Treppe in den ersten Stock.
Das Knacken der Stufen wird von Donner und Regen übertönt. Es scheint fast unmöglich, dass das Haus nach dem gerade stattgefundenen Massaker so vollkommen still ist, doch höre ich wirklich nur das Pochen meines Herzens und das Wüten des Gewitters.
Als ich den Treppenabsatz des ersten Stocks erreicht habe, wird der Regen so laut, dass ich den Gestank aus dem Erdgeschoss fast schon vergesse. Einen Moment verharre ich mit gespitzten Ohren und schaue mich um. Aber ich nehme nichts wahr. Keinerlei Hinweis, wo Harvey sich aufhält. Ich zögere vor einem weiteren Gang, dann wage ich mich vor, Zentimeter für Zentimeter.
Zuerst komme ich zu einem Zimmer mit Kisten. Zeitungen. Zeitschriften. Handbücher für Autos und Traktoren. Ein Rundumblick im Zimmer ergibt keine weiteren Erkenntnisse.
Also zurück in den Flur und von dort ins nächste Zimmer, ein Bad mit gesprungenem Säulenwaschbecken und einer Wanne mit Klauenfüßen, an deren Innenwand ein Duschvorhang und schwarze Schimmelflecken kleben. Kein Blut auf dem Boden. Keine Spuren. Keine ungewöhnlichen Gerüche oder Geräusche.
Der nächste Raum ist das Elternschlafzimmer. Von allen bis dahin gesehenen Räumen ist dies der ordentlichste, obwohl man ihn nicht gerade sauber nennen kann. Die Fensterscheibe ist staubig und trüb, aber nicht zersprungen. Das Bett hat ein einfaches Gestell aus Metall, die Matratze ist mit zusammengeschobenem Bettzeug und wild verstreuten Kleidern bedeckt. Auch auf dem Boden liegen Kleider. Ich schaue mich genauer um, aber auch hier kein Zeichen von Harvey Mead, also bleibe ich nicht, sondern nehme mir vor, seine Habseligkeiten zu untersuchen, wenn er tot ist.
Ich verlasse den Raum.
Das nächste Schlafzimmer liegt auf der anderen Seite des Flurs. Das Trommeln des Regens auf Metallbehälter übertönt meine Schritte, während ich die schmale Kammer betrete. Das Dach hier hat ein Loch, welches brutal ins Gebälk geschlagen wurde. Blitze zucken am Himmel darüber. Der hereinfallende Regen sammelt sich in einer Reihe Metalldosen und Schüsseln, die dicht an dicht auf einer durchsichtigen Plastikplane auf dem Boden arrangiert wurden. Am Rand des Lochs schaukeln an dünnen Kordeln viele Knochen und Gerippe, die im Sturm wie Windspiele aneinanderstoßen. Von den bleichen Wirbelkörpern und Flügeln strömen kleine Rinnsale zu Boden.
Einen Moment lang sinniere ich über das kranke Hirn des Mannes, der sie hier aufgehängt hat. Dann verlasse ich das Zimmer und wende mich der letzten Tür am hinteren Ende des Gangs zu.
Sie ist geschlossen. Ich umklammere mein Messer fester, presse das Ohr ans Holz und horche eine ganze Weile. Kein Geräusch dringt heraus. Auch von unten keinerlei Geräusch, obwohl ich nicht weiß, ob ich von unten etwas anderes hören könnte als einen heftigen Kampf. Denn der Sturm tobt, und der Regen fegt in wilden Böen über das Haus.
Mich überkommt ein Anflug von Angst um Rowan. Es kann ein gutes Zeichen sein, dass ich nichts von ihm gehört habe. Andererseits habe ich auch nichts gehört, was darauf schließen lässt, dass Harvey leidet, und dieses Wissen bohrt sich wie ein Dorn in mein Fleisch. Mittlerweile ist es mir völlig egal, wer gewinnt. Ich will nur, dass Harvey endlich tot ist.
Ich schüttle meine Hände, um meine Erregung, Anspannung und Angst loszuwerden, und dann greife ich nach der Klinke und stoße die Tür auf.
»Was zum Teufel …«
Auf einem mit Papieren und Stiften übersäten Tisch stehen drei Bildschirme, die das zeigen, was achtzehn Kameras filmen. Die Scheune. Die Werkstatt. Die Hintertür. Die Küche. Ein dunkles Zimmer, in dem ich nichts erkennen kann. Einen hell erleuchteten Raum, wo auf einem mit Plastikplane bedeckten Tisch ein zerstückelter Körper liegt und Blut und Innereien auf den Fliesenboden tropfen lässt.
Da sehe ich Rowan, der das Wohnzimmer betritt.
Und dann sehe ich Harvey, der den Flur hinunterschleicht. Zu ihm.
Alles Blut weicht mir aus Armen und Beinen. Eis kriecht mir unter die Haut.
»Rowan«, flüstere ich.
Und schreie ich, als ich aus dem Zimmer stürze …
… und mit voller Wucht von Harvey Meads Stiefel getroffen werde.