Gemetzel
Sloane
Wasser strömt über mein schmerzendes Gesicht. Mein Magen rumort vor Übelkeit. Ich schmecke Blut im Mund. Um mich herum dreht sich alles. Ich rolle. Rolle einen steilen Hügel hinab. Rolle und falle .
Mit einem qualvollen Krachen lande ich auf meiner linken Schulter. Vom Aufprall weicht mir alle Luft aus der Lunge, sodass ich nur lautlos schreien kann. Ich schnappe nach Luft, ohne Erfolg. Mein Brustkorb krampft sich zusammen. Regen und Blitze blenden mich, während ich blicklos in den Himmel starre, bis sich meine verkrampfte Lunge endlich entspannt und ich mühsam atmen kann.
Mit einem dumpfen Schlag landet ein Paar Stiefel in meiner Nähe und nähert sich meinem Kopf. Vom schwarzen Leder spült der Regen geronnenes Blut. Ich öffne den Mund, um Rowans Namen zu stöhnen, da packt eine Hand meine Haare und reißt mich weg vom tröstenden Geruch nach Erde und feuchtem Gras.
Und dann sehe ich Harvey Mead. Von Angesicht zu Angesicht.
Regenrinnsale strömen ihm von seinem kahlen Schädel, über seine Stirn und das ausdrucksloses Gesicht. Er starrt mir direkt in die Augen. Und ich blicke in einen dunklen Abgrund.
Und dann spucke ich ihm in seine hässliche Visage.
Harvey wischt meine Spucke nicht weg, sondern hält mich einfach weiter fest und lässt sich die Blutspritzer vom Regen über die pockennarbige Haut spülen. Langsam verzieht er die Lippen zu einem Grinsen, das seine verfaulten Zähne zeigt und in seinem ansonsten reglosen Gesicht vollkommen verstörend wirkt.
Er lässt mich fallen, hält mich aber an den Haaren fest und zieht meinen geschwächten Körper ums Haus herum. Mir dröhnt der Schädel. Mein Gesicht schmerzt. Bei jedem Zerren an meinen Haaren schießen mir Tränen in die Augen. Der Schmerz von meiner Schulter strahlt bis in meinen Nacken und meinen schlaffen Arm. Verzweifelt versuche ich, mit meinen Füßen Halt auf dem Gras, dem Schlamm und dem Schotter zu finden, doch es gelingt mir nicht, weil er meinen Kopf fast waagerecht zum Boden hält. Mit meiner gesunden Hand kratze und schlage ich sein Bein, doch er ist viel zu groß, um das zu bemerken.
Vor einer Kellertür bleibt er stehen. Er öffnet ein rostiges Schloss und zieht die Kette durch die Metallringe, reißt die Tür auf und stößt mich hinein.
Grunzend knalle ich auf dem Boden auf und rieche als Erstes Scheiße, Pisse und Angst.
Direkt darauf entleere ich meinen Mageninhalt auf den Boden.
Erst als ich nicht mehr würgen muss, merke ich, dass ich nicht allein bin. In der Dunkelheit schluchzt jemand.
»Adam«, heult eine Frau zwischen den Schluchzern. »Er hat Adam getötet. Ich h-hab’s gehört. Er hat ihn get-t-tötet.«
Sie hält sich fern von mir, wiederholt ihre verzweifelte Klage Wort für Wort, immer wieder, bis sie tief in mein Inneres gedrungen ist. Wer auch immer Adam war, Geliebter, Freund oder Bruder, sie hat ihn geliebt. Und ich weiß, wie es ist, mit anzusehen, wie jemand leidet, den man liebt. Ich verstehe ihre Ohnmacht und Trauer besser als die meisten Menschen.
»Ja. Er hat Adam getötet«, bestätige ich schwer atmend und hole mein Handy aus der Hosentasche. Es summt mit einer neuen Nachricht in meiner Hand, aber ich schalte zuerst die Taschenlampe ein und leuchte damit auf den Boden zwischen mir und der nackten zusammengesunkenen Frau, die vor dem Licht an die Wand zurückweicht. »Und ich verspreche dir, dass Adam der Letzte war, den Harvey Mead jemals getötet hat.«
Ich weiß nicht, ob ihr das Trost und Kraft schenkt. Vielleicht eines Tages, aber jetzt ist der Verlust zu frisch und die Wunde zu tief. Sie weint leise weiter, während ich auf das Display starre, das eine neue Nachricht anzeigt.
Sloane
SLOANE
ANTWORTE
WO BIST DU
Noch während ich eine Antwort eingebe, erscheinen drei Pünktchen und kündigen eine weitere Nachricht an.
Mir geht’s gut. Bin in einem Keller eingesperrt. Rechte Hausseite
Sofort kommt Rowans Antwort.
Halte durch, Liebes. Ich komme
Ich lese die Nachricht zweimal, sperre das Handy und nage an meiner Unterlippe. In meiner Nase sticht es, und in meiner Brust macht sich ein ziehender Schmerz bemerkbar. Vielleicht ist es nur ein irisches Allerweltswort, doch höre ich es immer wieder mit Rowans Stimme, als wäre er direkt in meinem Kopf.
Halte durch, Liebes. Ich komme
»Wie heißt du?«, krächze ich und wende mich der weinenden Frau zu, die sich gegen die Backsteinwand drückt. Sie ist etwa so alt wie ich und schmal. Ihr nackter Körper starrt vor Dreck.
»Au-autumn.«
Ich lege das Handy auf den Boden, sodass die Taschenlampe an die Decke leuchtet, und knöpfe mein Hemd auf. »Ich geb dir das hier, brauche aber deine Hilfe, um es auszuziehen.«
Autumn zögert ganz kurz, kommt dann jedoch vorsichtig näher. Wir reden nicht, während sie mir hilft, den Stoff über meine ausgerenkte Schulter zu ziehen. Als ich vor Schmerz aufschreie, zuckt sie zurück, doch dann hilft sie mir weiter. Mein Hemd ist nass und schmutzig und wird sie in dem kühlen Keller vielleicht nicht warm halten. Aber wenigstens ist sie nicht mehr nackt.
Sie schließt gerade den letzten Knopf, da bricht eine Axt durch die Kellertür.
»Sloane!« Rowans verzweifelte Stimme übertönt Autumns panischen Schrei, den Wind und den prasselnden Regen. »Sloane!«
Es schnürt mir die Kehle zusammen. Tränen schießen mir in die Augen, als ich mein Handy ergreife und näher zur Tür krieche. »Ich bin hier, Rowan …«
»Tritt zurück!« Nach ein paar weiteren Axthieben splittert die Tür und fällt mit Kette und Schloss in die Dunkelheit. Im trüben Licht taucht Rowans Hand auf.
»Nimm meine Hand, Liebes.«
Früher müssen hier Stufen gewesen sein, doch die wurden entfernt, sodass ich springen muss, um Rowans Hand zu ergreifen. Beim ersten Versuch entgleitet sie mir, weil unsere Haut feucht von Regen und Schweiß ist. Daraufhin legt er sich auf den Bauch und beugt sich tiefer in die Dunkelheit.
»Mit beiden Händen«, befiehlt er und streckt mir seine hin.
»Ich kann nicht.«
Ein Blitz erleuchtet Rowans Gesicht und brennt ein Bild in meinen Geist. Rowans Mund ist geöffnet, und ich höre fast, wie er scharf Luft holt, als sein Blick über meine ausgerenkte Schulter und meinen kaum bekleideten Oberkörper gleitet. Licht und Regen malen ein Gesicht voller Zorn und Qual. Es ist schrecklich und schön zugleich, und unvergesslich.
Wortlos streckt Rowan erneut die Arme aus. Als ich springe, packt er meine Hand, zieht mich weit genug hoch, um meinen Ellbogen zu fassen, und hebt mich aus dem Keller.
Kaum habe ich festen Boden unter den Füßen, drückt er mich fest an sich. Zitternd verharre ich in seinen Armen und kralle mich an sein nasses Hemd. Sein Duft hüllt mich ein, und am liebsten würde ich für immer in seiner tröstenden Umarmung bleiben, aber er löst sich von mir und schaut mir in die Augen.
»Kannst du rennen?«, fragt er und mustert mich forschend. Auch als ich nicke, blickt er mich weiterhin durchdringend an, als wollte er prüfen, ob das auch die Wahrheit ist. »Vertraust du mir?«
»Ja«, sage ich. Meine Stimme klingt brüchig, aber ich bin mir sicher.
»Bei mir bist du in Sicherheit. Verstanden?«
»Ja, Rowan.«
Wir sehen uns noch einen letzten Augenblick an, bevor er die Axt nimmt und meine Hand ergreift. Erst als er noch mal in den Keller blickt, scheint er zu bemerken, dass da noch jemand ist – obwohl Autumn die ganze Zeit weint und fleht, auch befreit zu werden.
»Bleib hier«, ruft er ihr zu und lässt sich trotz ihrer flehenden Schreie nicht davon abbringen. »Wenn du dich ruhig verhältst, glaubt er, du wärst schon weg, und kommt nicht in den Keller. Wir holen dich, sobald wir mit ihm fertig sind.«
»Bitte, bitte lasst mich nicht allein …«
»Du bleibst hier, verdammt noch mal, und verhältst dich ruhig!«, ruft Rowan und zieht mich ohne einen weiteren Blick in den Keller mit sich. Unter Autumns verzweifelten Rufen rennen wir zur Rückseite des Hauses.
An der Ecke bleiben wir stehen. Rowan beugt sich vor, um den Weg zur Scheune zu überprüfen. Als er beruhigt scheint, drückt er meine Hand, dreht sich leicht zu mir und blickt über die Schulter. Dann nickt er einmal. Kaum habe ich ebenfalls genickt, führt er uns durch den mit Schutt übersäten Garten zur verfallenen Scheune. Da die Tür offen steht, hebt er die Axt und betritt sie als Erster, doch abgesehen von Gerätschaften, Tauben und einem uralten John-Deere-Traktor ist sie leer. Erst als Rowan sich vergewissert hat, dass alles sicher ist, zieht er mich tiefer in die Scheune und geht zu einer Stelle an der Wand, die sich genau in der Mitte zwischen Vorder- und Hintereingang befindet.
Krachender Donner erschüttert die Fenster und die Werkzeuge, die an den Holzwänden hängen. Rowan lässt die Axt fallen. Sie kommt mit einem dumpfen Schlag am Boden auf. Einen kurzen und doch ewigen Moment schauen wir einander nur an, beide tropfnass und mit Gras und Erde bedeckt.
Und dann umfasst er mit beiden Händen meine Wangen und hält mich fest. Ich spüre seinen heißen Atem auf meiner Haut, während seine Augen über mein Gesicht wandern.
Als er mit dem Daumen über meine Stirn streicht, zucke ich zusammen. Mit dem Finger fährt er mir über den Nasenrücken und dann über die Oberlippe. Ich ziehe die Nase hoch und schmecke Blut in meiner Kehle.
»Sloane«, flüstert er, nicht, damit ich etwas sage. Sondern, um sich zu bestätigen, dass ich wirklich da bin, wenn auch verletzt. Rowan drängt mich dicht an die Wand und schirmt mich mit seinem Körper ab. Seine Hand fährt meinen Hals hinunter und hebt mein Kinn auf der Suche nach etwaigen Wunden an, während ich zitternd in der Dunkelheit stehe.
»Dein Hemd …«
»Habe ich dem Mädchen gegeben. Er hat mir nichts angetan.«
Rowans Augen blitzen auf, als er mich ansieht. Er sagt nichts, sondern betrachtet nur meine ausgerenkte Schulter, wo ein heftiger Bluterguss das Gelenk bereits lila färbt. Rowan legt seine warme Hand auf meine unversehrte Schulter und dreht mich zur Wand. Ganz vorsichtig untersucht er die Verletzung. Obwohl ich mich bemühe, ruhig zu bleiben, entfährt mir doch ein gepresster Schrei, als er sanft meinen schlaffen Arm anhebt.
»Kannst du sie wieder einrenken?«, flüstere ich, als er mich wieder umdreht.
»Nein, Liebes, es könnte etwas gebrochen sein. Du brauchst einen Arzt.«
Ich blinzle, um die Tränen in meinen Augen loszuwerden, als Rowan sich auf ein Knie senkt und behutsam meine Rippen abtastet. Sie schmerzen vom Fall, sind aber nicht gebrochen. Rowan ignoriert mich einfach, als ich ihm das versichern will, so als könnte er erst beruhigt sein, wenn er mit den Fingern über jede Rippe gestrichen hätte. Als er fertig ist, legt er die Hände auf meine Hüften, stößt einen langen Seufzer aus und umhüllt meinen Unterleib mit seinem heißen Atem, der seine Entsprechung tief in meinem Innern findet.
»Es tut mir leid«, flüstert er, drückt seine Stirn an meinen Bauch, schlingt seine Arme um meine Beine und drückt mich an sich.
Einen Moment lang weiß ich nicht, was ich tun soll. Mich lähmt der plötzliche Stromschlag, der durch meine zitternden Glieder zuckt. Jeder Atemstoß von Rowan lässt mein Herz lauter schlagen, bis es wie ein Hammer auf den Amboss meiner Knochen donnert. Unwillkürlich hebe ich die Hand. Mein Körper übernimmt die Kontrolle, weiß offenbar etwas, das meinem Geist entgangen ist: dass es die natürlichste Sache der Welt ist, mit meinen Fingern durch seine Haare zu streichen. Als er das spürt, seufzt er auf und drückt seine Stirn fester gegen meinen Bauch, während ich es wiederhole und mich in der simplen Berührung verliere.
Die Hitze seines Atems verlagert sich von meinem Nabel hoch zur Kluft zwischen meinen Brüsten, über mein Herz und meinen Hals, während sich Rowan langsam erhebt. Ich bringe es nicht über mich, die Finger aus seinen Haaren zu lösen. Sie gleiten von seinen feuchten Strähnen hinunter, bis ich seine Wange umfasse und seine Bartstoppeln an meiner Haut kratzen. Rowan schmiegt sich in meine Handfläche und legt seine Hand auf meine, als würde ich verschwinden, wenn er sie losließe.
»Sloane«, haucht er, den Blick auf meine Lippen geheftet. Mein Name klingt, als bedeute er Qual und Erlösung zugleich, als er ihn wiederholt. Dann schluckt er schwer. »Ich darf dich nicht verlieren.«
»Dann küss mich«, flüstere ich.
Wieder sieht Rowan mir in die Augen. Seine Hände wärmen meine Wangen. Nur noch ein Atemhauch trennt uns, und ich weiß, alles wird anders sein, wenn seine Lippen die meinen berühren.
Und so ist es.
Alles verändert sich mit einem Kuss.
Rowans Lippen sind weich, aber sein Kuss ist fest, als gäbe es in seinem Geist keinerlei Raum für Unsicherheit oder Zweifel. Er weiß, was er will. Vielleicht wollte er es schon die ganze Zeit. Vielleicht brauchte nur ich die Zeit, mir darüber klar zu werden.
Mit jeder immer intensiver werdenden Bewegung baut sich mehr Hitze zwischen uns auf. Ich öffne den Mund, als er mit seiner Zunge die Umrandung meiner Lippen nachfährt, und als seine Zungenspitze die meine liebkost, lassen wir jegliche Zurückhaltung fahren.
Ich verliere mich in meinem Verlangen. Es überwältigt mich, als hätte es die ganze Zeit hinter einer bröckelnden Wand gewartet.
Und nun, da es freigelassen ist, verschlingt es mich.
Unsere Bewegungen werden dringlicher. Rowan wühlt in meinen Haaren und presst sich an mich. Ich stöhne auf, als er meine Unterlippe in seinen Mund saugt. Ich umfasse seinen Nacken und grabe ihm meine Fingernägel in die Haut, woraufhin auch er aufstöhnt und mit der Zunge tiefer in meinen Mund dringt, um mehr von einem Kuss zu verlangen, der bereits ein Inferno an Begierde in meinen Adern entzündet hat.
Ich vergesse völlig, wer wir sind. Wo wir sind.
Warum wir hier sind.
Da reißt uns ein Schrei auseinander. Keuchend und mit weit aufgerissenen Augen starren wir uns an. Die panischen Hilferufe werden von einer Kettensäge übertönt, die stotternd anspringt.
Als wir uns aus der Dunkelheit lehnen, sehen wir Autumn plötzlich um die Hausecke stürzen, direkt auf die Scheune zu. Eine Sekunde später taucht Harvey auf, der mit beiden Händen die Kettensäge umklammert und das Mädchen jagt. Obwohl er massig und schwer ist, kommt er ihr immer näher, weil sie mit nackten Beinen und Füßen durch den mit Müll übersäten Garten stolpert.
Als wir uns in den Schatten zurückziehen, wirft mir Rowan ein wildes, mörderisches Lächeln zu.
»Bin gleich zurück, Blackbird.«
Er packt meinen Nacken und drückt mir einen letzten kurzen Kuss auf, dann lässt er mich los und hebt die Axt vom Boden.
»Was machst du?«, zische ich.
Rowan legt den Griff der Axt auf seine Schulter und schnaubt. Dann zwinkert er mir zu. »Ich räche mich natürlich, weil er mein Mädel verletzt hat.«
Als ich das höre, schmilzt mir das Herz. Rowan grinst, als könnte er das sehen. Ohne ein weiteres Wort dreht er sich um, schleicht näher zur Tür und hockt sich hinter einen Turm aus Werkzeugkästen. Ich ziehe mich hinter die Motorhaube des Traktors zurück und gebe ihm Rückendeckung.
Eine Sekunde später stürzt Autumn in die Scheune und wimmert panisch, während sie zum anderen Ausgang rennt.
Dicht dahinter folgt Harvey Mead. Und danach vollzieht sich alles in Zeitlupe, als wunderschöne Choreografie der Rache.
Rowan stürzt vor und schwingt seine Axt in einem so tiefen Bogen aufwärts, dass Staub aufwallt. Die Klinge trifft brutal auf die Kettensäge, die Kette zerspringt und fegt wie eine Peitsche in Harveys Gesicht. Der brüllt wütend auf. Die Säge spotzt, als er sie fallen lässt, orientierungslos umhertaumelt und stehen bleibt. Reflexartig fährt er mit der Hand zu seinem blutigen Gesicht, ohne zu bemerken, dass Rowan sich zum nächsten Schlag schon an ihn heranschleicht.
Mit einem schmatzenden Krachen zertrümmert die Axt seine Kniescheibe. Harvey sinkt brüllend vor Schmerz auf das andere Knie, während Rowan die Waffe aus seinem Knochen zieht.
»Schauen wir mal, wie viel Spaß du hast, wenn du am anderen Ende bist«, knurrt er. Und noch bevor Harvey zur Seite kippen kann, tritt er ihm ins Gesicht und platziert seinen Absatz krachend direkt zwischen Harveys buschige Augenbrauen.
Stöhnend fällt Harvey auf den Rücken, benommen und kaum bei Bewusstsein. Orientierungslos dreht er den Kopf hin und her und lässt eine große Staubwolke vom Boden aufwallen. Rowan steht über ihm und umklammert fester die Axt. Vor Zorn und Konzentration wirken die Züge seines schönen Gesichts noch markanter. Bosheit blitzt in seinen Augen auf, als er auf seinen Gegner hinunterstarrt. »Das wird verdammt köstlich werden«, verkündet er und ragt mit tödlichem Lächeln über Harvey auf. Er hebt die Axt.
»Warte …« , rufe ich und trete aus dem Schutz des Traktors. Rowan hält sofort inne, obwohl es aussieht, als müsste er dazu seine gesamte Willenskraft aufbieten. »Bring ihn nicht sofort um. Du hast versprochen, dass ich auch noch mal ran darf.«
Ein finsteres Grinsen huscht über mein Gesicht, als ich näher komme. Rowan zieht die Augenbrauen hoch, als er das sieht. Ich beantworte seine stumme Frage mit einem noch breiteren Grinsen.
»Aber du kannst ihn gern beschäftigen«, füge ich hinzu und gehe zum Haus.
Glücklicherweise sind Autumns Schreie in dem prasselnden Regen verstummt, der immer noch auf uns niedergeht. Mit ihren nackten Füßen wird sie nur langsam vorankommen, aber irgendwann wird sie schon Hilfe finden, wenn sie dem Bachlauf oder dem Weg vor dem Haus folgt, der zur Schotterstraße führt. Es ist ziemlich weit bis zum nächsten Haus, und es gibt auch nicht viel Verkehr auf der Straße, aber wir dürfen uns nicht darauf verlassen, dass die Abgeschiedenheit uns schützt. Ich weiß, wir können hier nicht allzu lange bleiben.
Gerade lang genug, um uns ein bisschen zu amüsieren.
Ich bleibe nicht allzu lange im Haus, sondern sammle nur rasch alles zusammen, was ich brauche, bevor ich zur Scheune zurückeile.
Als ich mich dem alten Gebäude nähere, empfängt mich ein Schwall Schimpfwörter. Rowan scheint das lediglich zu belustigen, während er einen Metallnagel durch Harveys Hand hämmert, um ihn am Boden festzuhalten. Dabei ist Harveys andere Hand bereits festgenagelt. So vertieft ist Rowan in seine Arbeit, dass er mich erst bemerkt, als ich im Türrahmen stehe.
Er braucht eine Sekunde, um zu begreifen, was ich bei mir habe, dann bricht er in ungläubiges Gelächter aus.
Ich lasse meine Last fallen und drücke kichernd einen Finger gegen meine Lippen. Dann befällt mich ein hysterischer Lachanfall, der mir die Tränen in die Augen treibt. Ich muss zugeben, ich bin ziemlich zufrieden mit mir. Möglicherweise ist dies eine der besten Ideen, die ich seit Langem hatte. Und da ich größtmögliche Wirkung erzielen will, übermittle ich Rowan mit ein paar abgehackten Handbewegungen die Botschaft, dass Harvey mich nicht sehen soll. Er nickt und stellt sich zwischen uns, während ich mich mit meiner wertvollen Last durch die Dunkelheit anschleiche.
Als ich Harveys Füße erreicht habe, lege ich sie auf seinen Fußgelenken ab und ziehe sie langsam seine Beine hinauf.
Harvey stöhnt, als ich sein verletztes Knie berühre. Er senkt den Blick, um die Ursache des Schmerzes zu suchen, und blickt direkt in die leeren Augenhöhlen seiner Mutter.
Harvey Mead stößt einen Schrei aus, der einem das Blut in den Adern gefrieren lässt.
»Du warst ein schrecklich böser Junge, Harvey« , sage ich mit meiner besten Altfrauenstimme und ziehe das Gerippe weiter hinauf Richtung Harveys Gesicht. Er wehrt sich und versucht, es wegzutreten, aber da schreitet Rowan ein und hält sein gesundes Bein fest.
»Brave Jungen zerstückeln keine Menschen mit einer Kettensäge.«
Wieder stößt er einen markerschütternden Schrei aus. Er verliert völlig die Beherrschung und kann nichts dagegen tun.
Genüsslich lasse ich mir ganz viel Zeit und koste jede Sekunde von Harveys Qual aus, während ich Mama Mead ganz langsam an seinem Oberkörper hochziehe. Keuchend ringt er um Luft, an seinem dicken Hals pocht eine Ader, und Schweiß bildet sich auf seiner verzerrten Stirn und strömt ihm über die Schläfen, während er den Kopf schüttelt.
Endlich sehen sich Mama Mead und Harvey an, von Angesicht zu Angesicht.
»Ich finde, du musst bestraft werden.«
»Das ist echt übel«, sagt Rowan hinter mir, obwohl es nicht klingt, als wollte er sich beklagen.
»Still, du! Mama Mead hat etwas zu sagen.« Ich wackle mit dem Schädel des Skeletts, sodass Harvey sich schreiend unter ihm windet. Als Mama Mead das Gebiss herausfällt und auf seinem Gesicht landet, rastet er noch mehr aus.
»Huch, mein Fehler.«
Ich setze das Gerippe auf seine Brust, sodass ich die brüchigen Handgelenke festhalten kann, verstecke meinen verletzten Arm aber hinter dem Rücken, weil Harvey versucht, es von sich zu stoßen. Die gekrümmten Krallenfinger streichen über sein Gesicht und haken sich dann in seinen Mundwinkeln ein. »Halt still, Sohn. Ich will nur in dich hineinkriechen und mich umsehen.«
Harvey heult laut auf.
Und dann verzieht er das Gesicht zu einer Fratze der Qual und ringt nach Luft, schnappt danach, als bekäme er einfach nicht genug davon.
»Aargh …«
Die Adern an Harveys Schläfen treten hervor, er wird erst ganz rot und verliert dann alle Farbe. Nur seine Lippen färben sich blau.
»Was zum …«
Ein Rasseln entfährt seiner Brust. Sein Blick trübt sich, die Pupillen werden ganz groß und richten sich zur Decke.
»Hatte er gerade einen Herzinfarkt?«, erkundigt sich Rowan und betrachtet prüfend Harveys regloses, blutüberströmtes Gesicht.
Vor lauter Enttäuschung lasse ich die Schultern sacken. »Das ist so uncool, Harvey.«
»Du hast ihn buchstäblich zu Tode erschreckt. Eigentlich solltest du stolz auf dich sein.«
»Ich war noch längst nicht fertig.« Schmollend gebe ich Mama Mead einen kleinen Schubs, sodass sie von Harveys schlaffem Körper rutscht. »Glaubst du, wir sollten ihn wiederbeleben?«
»Wenn du willst, aber auf keinen Fall übernehme ich die Mund-zu-Mund-Beatmung.«
»… Verdammt!«
Als ich zu Rowan hochschaue, sehe ich, dass er grinst. Er geht um Harveys Kopf herum und bleibt mit ausgestreckter Hand neben mir stehen. »Komm schon, Blackbird. Wenn das Adrenalin verbraucht ist, wird deine Schulter anfangen, richtig wehzutun. Also brennen wir besser alles nieder und hauen ab, bevor das Mädchen Hilfe gefunden hat. Ich regle alles im Motel, und dann fahren wir los.«
Ich ergreife Rowans Hand, und er zieht mich hoch. Als er mich anlächelt, schimmert seine Narbe am Mund. Mein Blick wandert über sein Gesicht, weil ich mir jedes Detail einprägen will, von den dunklen Augenbrauen über seine tiefblauen Augen und die feinen Fältchen an den Augenwinkeln bis zu dem winzigen Muttermal an seinem Wangenknochen und zu seinen glänzenden, feuchten Haarsträhnen. Doch mehr als alles andere will ich mir die Wärme seiner Lippen einprägen, als er mich küsst.
Viel zu schnell löst er sich wieder von mir, hält aber meine Hand weiterhin fest, während wir zum Haus gehen.
»Wir fahren los?«, frage ich, als seine Worte endlich durch meinen Adrenalinrausch dringen. »Wohin denn?«
»Nach Nebraska«, antwortet er. »Zu Dr. Fionn Kane. Meinem Bruder.«