Verborgene Gefahr

Rowan

Es ist, als wäre ich die letzten zwei Wochen durch die Hölle gegangen, um genau zu diesem Moment zu gelangen: zur Eröffnung des Butcher & Blackbird.

Wir hatten die ganz normalen Geburtswehen für ein neues Restaurant. Probleme mit dem Kassensystem, Probleme mit Lieferanten, das Übliche eben, nichts Größeres. Es kam einfach nur eine Menge Scheiß zusammen. Was das 3 in Coach betraf, war das etwas ganz anderes: Ausfall von Geräten, Probleme mit der Elektrizität, defektes Equipment. Es ist eine ständige Nerverei, wo doch eigentlich alles glatt laufen sollte. Ich habe versucht, so viele Probleme wie möglich zu delegieren, um mich auf die Neueröffnung konzentrieren zu können, trotzdem stehe ich unter Stress und habe noch nicht mal Zeit, Dampf abzulassen, wie der Butcher von Boston es normalerweise tun würde. Wenn ich mir nur ein leichtes Ziel, wie irgendeinen abgefuckten Drogendealer, vornehmen könnte, ginge es mir viel besser, das weiß ich. Ich hab nur keine Zeit.

Der einzige Lichtblick ist Sloane, Gott sei verdammt noch mal Dank!

Sollten sie meine langen Arbeitszeiten, meine Müdigkeit und mein Stress stören, dann zeigt sie es nicht. Ich weiß, sie macht sich Sorgen um mich, aber sie ist nicht sauer und verlangt auch nicht, dass ich öfter da bin oder mich mehr um sie kümmere. Tatsächlich scheint sie sogar aufzublühen, obwohl ich das kaum glauben kann.

»Ich fühl mich schrecklich. Du hast dein ganzes Leben auf den Kopf gestellt und bist hierhergezogen. Und ich bin kaum da«, sagte ich zwei Tage zuvor zu ihr, als wir im Bett lagen und ich in der Dunkelheit an die Decke starrte. Allerdings sagte ich nicht, was mir wirklich Sogen machte: das ständige Gefühl, dass es nicht so laufen würde, wie ich es mir vorgestellt hatte. Ich war schon seit Jahren hinter Sloane her, und nun, da sie endlich hier ist, nagt ununterbrochen der Gedanke an mir, dass ich ihr vielleicht nicht gebe, was sie braucht. Was ist, wenn ich jeden Abend nach Hause komme und beim Vögeln gerade genug Dampf ablasse, dass ich schlafen kann, ihr aber nichts im Gegenzug gebe? Tue ich das?

»Ich bin glücklich«, erwiderte sie nur, als wäre das offensichtlich. »Ich bin gern allein, Rowan. Ich fühle mich sicher, wenn ich allein bin. Vielleicht nicht immer mit diesem Fellknäuel da drüben, das aussieht, als wollte es mir das Gesicht zerfetzen«, fügte sie hinzu und wies zur Schlafzimmertür, »aber abgesehen von Winston ist die Situation gut für mich. Ich fühle mich nicht einsam. Ehrlich gesagt fühle ich mich zum ersten Mal seit langer Zeit überhaupt nicht einsam.«

Sie drückte mir einen Kuss auf die Wange, als wollte sie unter das Gesagte einen Punkt setzen, dann schlief sie ein wie immer: mit dem Kopf auf meinem Herzen. Aber ich lag noch lange wach, weil mich eine Frage quälte:

Was ist, wenn sie gelogen hat?

Ich stoße einen tiefen Seufzer aus und konzentriere mich erneut auf die vor mir liegende Aufgabe, die darin besteht, die frittierte Gänseleberpastete für die Vorspeise nicht anbrennen zu lassen. Da betritt Ryan, der Maitre de Cuisine, die Küche, um sich nach dem Stand des nächsten Gangs zu erkundigen. Zwei Minuten. In zwei Minuten werden die ersten Gäste im Butcher & Blackbird essen. Zwei Minuten bis zu meinem nächsten Schritt auf der Karriereleiter.

Ich lege die Gänseleberpastete auf die getoastete Brioche, die meine Souschefin Mia vorbereitet hat. Wir garnieren jeden der insgesamt fünf Teller und stellen sie auf die Durchreiche, hinter der die Kellnerin bereits wartet. Danach widmen wir uns sofort den nächsten Bestellungen, die bereits auf dem Herd stehen.

Wir kommen richtig in Fahrt.

Suppen. Vorspeisen. Salate. Schnell und routiniert. Teller um Teller. Ich achte auf die Tischnummern, aber die 17, der Tisch, der ständig für Sloane reserviert ist, erscheint einfach nicht.

Ich werfe einen Blick auf die Uhr an der Wand.

19:42 Uhr.

Vor Sorge durchzuckt mich ein Stich. Ich spüre ein hohles Gefühl im Magen. Sloane ist zweiundvierzig Minuten zu spät.

»Ist sie da?«, frage ich, als Ryan mit einem der Servierer die Küche betritt.

»Noch nicht, Chef.«

»Verdammt!« , zische ich.

Mia, die neben mir steht, gluckst. »Ganz ruhig, Chef. Sie hat sich nur verspätet.«

»Sie verspätet sich nie«, belle ich mit finsterer Miene.

»Keine Angst, sie ist bestimmt gleich da.«

Am liebsten würde ich sie anrufen, habe aber nicht mal die Zeit, einen Blick auf mein Handy zu werfen. Ich bin mitten in der ersten Runde der Hauptgänge, und dazu kommen weitere Vorspeisen, weil ein neuer Schwung Gäste das Restaurant bis zum Platzen füllt.

Es ist, als würde mein Herz von einer Faust zerdrückt. Ich kann nur mühsam atmen.

Das sieht ihr gar nicht ähnlich.

Sie hat doch gelogen. Es geht ihr scheiße hier.

Sie ist weg.

Es ist was passiert. Sie hatte einen Unfall. Sie ist verletzt oder – Scheiße! – verhaftet. In einem Gefängnis würde sie eingehen. Für eine Frau wie Sloane ist das schlimmer als der Tod. Unvorstellbar: Die scheue und spröde Sloane Sutherland, Tag und Nacht umgeben von Menschen, ohne die Möglichkeit, sich zu verstecken.

»Hey, Chef, Sloane ist da!«, bemerkt eine der Kellnerinnen beiläufig, als sie zwei Hauptgänge aus der Durchreiche nimmt. Sie ist schon weg, bevor ich meine Fragen abfeuern kann. Stattdessen stoße ich die Luft aus, die ich angehalten habe.

Aber das reicht schon, um meine Anstrengungen zu verdoppeln und meine Konzentration wieder auf die Aufgabe zu richten.

Das Team und ich pflügen uns durch den Hauptandrang, wobei ich mir bei den sechs Bestellungen für Tisch 17 besondere Mühe gebe, ohne zu wissen, welche davon für sie ist. Und dann lässt die Arbeit irgendwann nach, und als wir schließlich beim Nachtisch angelangt sind, ziehe ich die Schürze aus, danke meinem Küchenteam und begebe mich nach vorn in den Gästeraum.

Lächeln, Applaus und zufriedene, gelöste Gesichter empfangen mich, als ich eintrete, doch meine Augen suchen sofort nach Sloane, die zwischen meinen Brüdern, Lark, Rose und meiner Freundin Anna sitzt, mit der sie sich langsam anzufreunden scheint. Ryan reicht mir ein Glas Champagner, während andere Servicekräfte von Tisch zu Tisch gehen und Gläser mit Champagner auf Kosten des Hauses an die Gäste verteilen.

»Herzlichen Dank, dass Sie heute Abend gekommen sind«, sage ich und hebe mein Glas. Mein Blick wandert durch den Raum und bleibt bei Dr. Stephan Rostis hängen, der mit seiner Frau an einem Tisch sitzt. Nur mühsam kann ich den Blick abwenden. Fuck , das würde wirklich den Abend krönen, wenn ich dieses Arschloch erledigen könnte. Bei der Vorstellung hellt sich meine Miene auf. »Ohne Ihre Unterstützung von 3 in Coach wäre dieses neue Abenteuer nicht möglich gewesen. Ich möchte auch meiner hingebungsvollen, hart arbeitenden Mannschaft danken, die nicht nur heute, sondern auch bei der Vorbereitung Großartiges geleistet hat.«

Applaus brandet auf, während ich meine Aufmerksamkeit auf Sloanes Tisch richte. Sie sitzt zwischen Rose und Lark, die beide extra für die Eröffnung angereist sind. Meine Brüder besetzen die Eckplätze der Polsterbank. »Ich danke meinen Brüdern Lachlan und Fionn, ohne die ich heute nicht hier wäre. Auch wenn wir uns manchmal hart zusetzen, haben sie mich doch immer unterstützt. Ihr wisst, ich liebe euch, Jungs.«

Rose lehnt sich zu Fionn und flüstert ihm etwas ins Ohr. Grinsend bewegt er Daumen und Zeigefinger wie einen Schnabel, der sich öffnet und schließt.

»Also, irgendwie liebe ich euch, denn in Wahrheit ertrage ich euch die meiste Zeit. Vor allem dich, Fionn«, stelle ich klar, woraufhin alle in Lachen ausbrechen.

Dann blicke ich zu Sloane.

Sie ist verdammt schön in dem Kleid, das sie auch am Abend der Best-of-Boston-Gala trug. Ihre dunklen Haare fallen ihr in schimmernden Wellen über eine Schulter. Sie lächelt, und das Licht der kleinen Kerzen tanzt in ihren haselnussbraunen Augen. Noch nie hat mich jemand angesehen wie sie: mit einer berauschenden Mischung aus Stolz und dem Wissen um unser Geheimnis. Als ich sie einen Moment lang betrachte, verschwindet alles andere um mich herum.

Dann sage ich nur zu ihr: »Ich danke meiner wunderschönen Freundin Sloane«, und hebe mein Glas. »Danke, dass du mir vertraust. Dass du dich mit meinem Scheiß abgibst. Dass du dich mit dem Scheiß meiner Brüder abgibst.«

Wieder bricht allgemeines Gelächter aus, und Sloane grinst errötend.

»Als ich jung war, habe ich jeden Glücksbringer aufgehoben, der mir in die Finger kam. Ich hab ständig eine Hasenpfote bei mir gehabt. Fragt nicht Fionn, woher ich die hatte, dann hört er nie mehr auf zu reden«, sage ich, woraufhin erneut Gelächter aufbrandet.

Nur Sloane lacht nicht, sondern schenkt mir ein melancholisches Lächeln, weil sie an die Vergangenheit denkt.

»Ich begriff einfach nicht, wieso diese angeblichen Glücksbringer mir nie Glück brachten, und habe irgendwann den Glauben daran verloren. Aber jetzt weiß ich es. Ich habe mein gesamtes Glück aufgespart, um dir zu begegnen, Blackbird.«

Mit glitzernden Augen drückt sie einen Kuss auf ihre Handfläche und pustet ihn quer durch den Raum zu mir.

»Auf Butcher & Blackbird«, sage ich und hebe erneut mein Glas.

Die Gäste erwidern meinen Toast, wir trinken, und der darauf folgende Applaus zerstreut meine Sorge, ob wir auch Erfolg haben werden.

Die nächste Zeit verbringe ich damit, mit den Gästen zu plaudern. Die meisten sind Stammgäste im 3 in Coach und wurden bevorzugt auf die Liste der begrenzten Plätze des Eröffnungsabends gesetzt. Alle sind begeistert und loben die Inneneinrichtung, die Cocktails, die Speisekarte und vieles mehr. Da weiß ich, Butcher & Blackbird ist ein Erfolg. Ich spüre es in den Knochen.

Und vielleicht ist das den ganzen Wahnsinn der letzten Monate wert.

Zuletzt bleibe ich an dem Tisch unter dem Rabenflügel stehen.

»Ich bin stolz auf dich, du kleiner Scheißer«, sagt Lachlan, umfasst mit seiner tätowierten Hand meinen Nacken und drückt meine Stirn an seine, so wie wir es seit unserer Kindheit schon machen. »Gut gemacht.«

»Ja, gar nicht so übel. Ich schätze, wir behalten dich«, stimmt Fionn zu und schlägt mir härter als notwendig auf die Schulter. Rose bleibt sitzen, da ihr Bein noch in Gips ist, daher beuge ich mich zu ihr und küsse sie auf die Wangen. Anna schenkt mir ein strahlendes Lächeln und umarmt mich kurz, um sich dann wieder Rose zuzuwenden, die den ganzen Tisch mit endlosen Geschichten über das Leben beim Zirkus unterhält. Von Lark bekomme ich eine feste Umarmung und überschwängliche Komplimente. Lachlan beobachtet sie dabei mit verwirrend finsterer Miene. Als ich schließlich zu Sloane komme und mich neben sie auf die Polsterbank setze, spüre ich, wie die offizielle Maske, die ich für meinen Geschmack schon viel zu lange trage, Risse bekommt, so erleichtert und erschöpft bin ich. Sloane schlingt ihre Arme um mich, während ich mein Kinn auf ihre Schulter lege und mit einer Hand über den weichen Samtstoff auf ihrem Rücken streichle.

»Du bist nicht nur hübsch«, sagt Sloane, woraufhin ich auflache. »Nein, du bist wunderbar, Butcher. Alles hier ist perfekt. Und es tut mir leid, dass wir so spät dran waren.« Sie dreht den Kopf zu mir und flüstert mir ins Ohr. »Lachlan und Lark waren schuld. Ich glaube, sie hatten was miteinander, aber jetzt bin ich verwirrt, weil es so aussieht, als würden sie sich hassen.«

»Das überrascht mich irgendwie gar nicht, wenn ich sehe, wie engagiert Lachlan ist«, erwidere ich, küsse sie auf den Hals und löse mich gerade genug von ihr, um ihr in die Augen zu sehen. Sie lächelt, als ich ihr mit den Fingern durchs Haar streiche. »Ich sollte sagen: ›Komm, gehen wir aus und feiern, wenn alle weg sind. Dann können wir auch Wetten abschließen, ob sie noch mal was miteinander haben.‹ Aber ehrlich gesagt will ich mir am liebsten deinen E-Reader klauen und es mir mit einem Piratenporno im Bett gemütlich machen. Und danach tausend Jahre schlafen.«

Sloane verdreht die Augen und wendet den Kopf ab, als ich grinse. »Du bist nicht auf dem neuesten Stand. Mittlerweile bin ich bei Tramper-Schweinkram gelandet.«

»In dem Fall muss ich unbedingt deinen E-Reader haben.«

»Du kannst mich mal«, sagt sie, küsst mich auf die Wange, legt wieder meinen Arm um ihre Schulter und verschränkt ihre Finger mit meinen. »Ganz liebevoll natürlich.«

Ich bleibe gerade lange genug, um ihre beruhigende Berührung und die Gemeinschaft von Freunden und Brüdern zu genießen, bevor ich wieder in die Küche gehe, um mit Mia und dem Team das Essen fürs Personal vorzubereiten. Und dann lässt das Chaos nach, in dem ich eigentlich aufblühe, und hinterlässt nur Frieden.

Es ist schon weit nach Mitternacht, als Sloane und ich zu Hause ankommen. Und kaum hat mein Kopf das Kissen berührt, schlafe ich auch schon.

Der nächste Tag ist ein Sonntag – theoretisch mein freier Tag, obwohl ich normalerweise immer irgendwas für die Arbeit tue. Sloane ist schon wach und hat Kaffee gekocht. Sie sitzt vor ihrem Laptop, starrt auf den Bildschirm und schaufelt sich dabei Froot Loops in den Mund. Winston hockt am anderen Ende des Tischs und durchbohrt sie mit seinem Blick, als wollte er ihr telepathisch seine Verachtung vermitteln. Ich schnappe ihn mir im Vorbeigehen und lasse ihn auf den Boden fallen, als er faucht.

»Was zum Teufel isst du da?«, frage ich und streiche ihr kurz mit den Fingern über den Hals, während ich meinen Weg zur segensreichen Kaffeemaschine fortsetze.

»Selbst gefärbte Cheerios, das sieht man doch. Dafür hab ich den ganzen Morgen gebraucht«, spöttelt sie.

Ich grinse, obwohl sie es nicht sehen kann. »Sobald ich genügend Koffein intus habe, wird dein Schandmaul etwas Anständiges zu tun kriegen.«

»Willst du mir etwa mit richtig viel Spaß drohen?«

»Es ist eher ein Versprechen. Apropos richtig viel Spaß«, füge ich hinzu und gieße den restlichen Kaffee in den größten Becher, den ich besitze, bevor ich frischen Kaffee ansetze. »Hast du gestern Abend Dr. Rostis gesehen?«

»Ja, allerdings. Hatte aber nicht die Möglichkeit, mit ihm zu reden. Vielleicht sollte er das Ziel für unser nächstes Spiel sein, dann muss Lachlan keins aussuchen.«

Mich überläuft ein kurzer Schauer der Angst. Ich sehe immer noch vor mir, wie Sloane in jenem Keller bei Harvey Mead hockte, mit seinem Stiefelabdruck im Gesicht und blutenden Nasenlöchern. Wie der Blitz im Gewitter ihre ausgerenkte Schulter beleuchtete. Viel zu oft träume ich davon. Es ist wie eine Heimsuchung. »Vielleicht sollten wir dieses Jahr nicht gegeneinander spielen, sondern miteinander. Wir könnten ihn gemeinsam jagen.«

Sloane schnaubt verächtlich. »Hast du Angst, schon wieder zu verlieren, mein Hübscher?«

»Ich habe Angst, dich zu verlieren.«

Da wendet sich Sloane zu mir und betrachtet mich forschend. Ihr Blick wird weich und lässt so etwas wie Mitgefühl durchschimmern – wahrscheinlich wegen der dunklen Ringe unter meinen Augen, der wirren Haare und der Bartstoppeln, die dichter sind als sonst. Sie registriert jedes Detail und lehnt sich auf ihrem Stuhl zurück. »Es wird schon alles gut gehen, Rowan. So läuft das eben. Was bei Harvey passiert ist, war meine eigene Schuld.«

»Warum hast du es denn gemacht?«, stoße ich hervor, obwohl ich bereits die Antwort weiß. Und das weiß sie auch.

Sloane schluckt. »Weil ich dachte, er wäre hinter dir her.«

Als ich zum Tisch gehe und vor ihr stehen bleibe, schlingt sie einen Arm um meinen Bauch, drückt ihren warmen Körper an mich und legt den Kopf an meine Brust. »Ich will nicht aufhören«, sage ich. »Aber es ist viel riskanter, wenn wir gegeneinander arbeiten statt zusammen.«

»Stimmt, aber es macht solchen Spaß, wenn ich dich besiege.«

Ein Seufzer entfährt mir, der meine Frustration verrät. »Sloane, ich kann es mir momentan nicht leisten, mir Sorgen um dich zu machen. Dieser zusätzliche Stress ist mir einfach zu viel. Ich schaffe es kaum, ein ganz normales Alltagsleben mit dir zu führen, geschweige denn das auch noch.«

Als Sloane spürbar erstarrt, erkenne ich, dass das härter klang, als ich es meinte. Ich bin nur so verdammt müde, und die ständige Angst davor, dieses neue Leben zu vermasseln, bewirkt genau das, was auf keinen Fall passieren soll: dass ich es vermassle.

»Tut mir leid, Liebes. So hab ich das nicht gemeint.«

»Ist schon gut«, erwidert sie leichthin, aber es klingt gezwungen.

»Nein, im Ernst. Du bist keine Last für mich, falls du das denken solltest.«

»Nein, ist schon gut«, wiederholt sie, lächelt mir kurz zu und wendet ihre Aufmerksamkeit wieder dem Laptop zu. »Ich kapier schon. Aber all die Arbeit hat sich ausgezahlt. Die ersten Rezensionen über den Eröffnungsabend sind super.«

Sie zieht den Laptop näher, damit ich die Rückmeldungen sehen kann, die sie gerade gelesen hat. Aber ich brauche einen Moment, um mich auf das zu konzentrieren, was sie mir zeigen will. Ich weiß nicht, ob ich trotz ihres Ablenkungsmanövers nachhaken soll oder ob sie sich dann nur noch mehr zurückzieht. Am Ende denke ich mir, dass ich alles nur noch schlimmer machen werde, wenn ich meinen unkoffeinierten Mund zu diesem Thema aufmache. Daher drücke ich nur ihren Arm und lese über ihre Schulter hinweg die Rezensionen. Möglicherweise sind sie etwas verfrüht und auch voreingenommen, da die meisten von treuen Stammkunden stammen, doch an den begeisterten, detaillierten Beschreibungen merke ich, dass wir einen guten Start hatten. Und als Sloane auf bestimmte Passagen und Kommentare hinweist, weiß ich, dass sie auch stolz ist, selbst wenn ich sie mit meinen Worten ungewollt gekränkt habe.

»Was hast du für heute Morgen geplant?«, frage ich, nachdem wir ein paar Rezensionen gelesen haben.

»Ich glaube, ich gehe mit den Mädels einen Kaffee trinken. Ich möchte sie noch ein paar Mal sehen, bevor sie die Stadt verlassen«, erwidert Sloane. Aber wie sie das sagt, weckt in mir den Verdacht, dass das nur ein spontaner Vorwand ist, um die Wohnung zu verlassen. »Und danach mache ich vielleicht ein paar Besorgungen, ich weiß noch nicht. Und du?«

»Nach der Brunchzeit muss ich ins 3 in Coach. Jenna hat mir eine SMS geschickt, dass es Probleme mit einer Abzugshaube gibt.« Ich fahre mit den Fingern durch Sloanes Haare, die vom Abend zuvor noch leicht gewellt sind. »Wir wär’s, wenn wir uns um vier dort treffen? Komm durch die Hintertür direkt in die Küche. Wir könnten irgendwo was trinken gehen.«

»Ja, das klingt gut.« Sloane steht auf und schenkt mir ein Lächeln, als sie sich zu mir dreht, aber es wirkt angespannt. Sie küsst mich auf die Wange und bringt ihre leere Müslischale in die Küche. »Ich mach mich mal besser fertig.«

Mit einem letzten kurzen Lächeln schnappt Sloane sich Winston und verschwindet mit der fauchenden Katze im Arm im Flur.

Ich überlege, ob ich ihr in die Dusche folgen soll. Vielleicht sollte ich sie an die kalten Kacheln pressen, mich in ihrem heißen Inneren vergraben und ihr jeden Tropfen Wasser vom Gesicht küssen, bis sie ganz sicher weiß, dass sie keine Last für mich ist. Aber das tue ich nicht. Ich habe Angst, dass sie nicht darum bitten wird, wenn sie Freiraum möchte oder braucht. Und wenn ich sie zu hart bedränge, vertreibe ich sie vielleicht.

Ich stütze die Stirn in meine Hände und denke eine Ewigkeit über die Dinge nach, die wir am Abend bereden sollten, wenn wir uns mit ein paar Drinks entspannt haben. Wir werden uns einen ruhigen Tisch in einer stillen Bar suchen und über alles reden, genau, wie wir es bei Fionn beschlossen haben. Und wenn wir dann in unser Zuhause zurückkehren, wird dieses Gespräch gerade nur noch ein weiterer Stein im Fundament des Lebens sein, das wir uns erschaffen.

Als Sloane im Flur erscheint, mit feuchten Haaren und geröteter Haut von der heißen Dusche, sitze ich immer noch am Tisch und habe einen zweiten Becher Kaffee fast ausgetrunken.

»Vier Uhr im Restaurant, ja?«, frage ich und stehe auf.

Sie nickt lächelnd, aber es wirkt immer noch gezwungen. »Ich werde da sein.«

Sie küsst mich zum Abschied, sagt, dass sie mich liebt, und lächelt mir über die Schulter hinweg noch mal zu, bevor sie die Wohnung verlässt. Aber auf mich wirkt es wie eine Fassade.

»Verdammter Idiot« , sage ich mir, fahre mir durch die Haare und lasse mich auf die Couch fallen.

Ich habe das verfickte Spiel aus einer Laune heraus erfunden, nur, um den Kontakt zu ihr aufrechtzuerhalten, und jetzt muss sie den Eindruck haben, dass ich die ganze Sache nur als elende Nerverei betrachte. Noch schlimmer ist, dass ich ihr ungewollt vermittelt habe, dass sie eine Last in meinem Leben ist.

Was nicht stimmt. Das Gegenteil ist der Fall. Ich ertrage nur die Vorstellung nicht, sie zu verlieren – was aber passieren wird, wenn ich mich nicht zusammenreiße und wir alles ausführlich besprechen.

Also nehme ich mir das fest vor.

Ich hieve meinen Arsch vom Sofa, gehe ins Gym ein paar Häuser weiter und komme danach zum Duschen zurück. Daraufhin verbringe ich einige Zeit damit, Ideen für das Menü zu Silvester zu sammeln, was zwar noch einige Monate hin ist, aber die werden ganz schnell vergehen, das weiß ich aus Erfahrung. Winston behält mich unentwegt im Auge, als ich ein paar Dinge im Haushalt erledige und Lunch mache. Ich gebe ihm ein Stück Speck, das er nicht verdient hat, weil er ein kleines Mistviech ist. Ich begebe mich erst zum 3 in Coach, nachdem all meine Angestellten verschwunden sind, um zu sehen, ob ich die Abzugshaube selbst reparieren kann, bevor Sloane erscheint.

Ich trete durch die Hintertür ein, schalte die Alarmanlage aus und gehe den dunklen, fensterlosen Gang hinunter zur Küche.

Alles ist blitzsauber, alle Töpfe, Pfannen und Gerätschaften sind dort, wo sie für den Lunch am Dienstag sein sollten, wenn das Restaurant das nächste Mal öffnet. Als ich die Anrichten und Regale aus Edelstahl überfliege, bleibt mein Blick an der gerahmten Zeichnung an der Wand hängen, die mir Sloane bei ihrem ersten Besuch hier hinterlassen hatte. Unwillkürlich muss ich lächeln, weil ich mich erinnere, wie sie rot wurde und Panik in ihren hübschen Augen aufschimmerte. Das war das erste Mal, dass ich meine Hoffnung zuließ, sie wollte vielleicht mehr als Freundschaft und wüsste nur nicht, wie das gehen sollte.

Ein Geräusch aus einer dunklen Ecke lässt mich erschrocken herumwirbeln. Da sehe ich David, der auf dem Stuhl sitzt, den wir für ihn neben die Spülmaschine gestellt haben.

»Gottverdammt!« , zische ich, beuge mich vor und schlage mir die Hand auf mein adrenalindurchflutetes Herz. »Was zum Teufel machst du hier noch?«

Natürlich antwortet David nicht. Er hat kein einziges Wort gesprochen, seit wir ihn in Thorstens feudalem Haus gefunden haben. Er stiert mit leerem Blick zu Boden und wiegt sich auf seinem Stuhl langsam vor und zurück, was er anscheinend immer tut, wenn er aufgeregt ist. Das allerdings kommt nur selten vor.

Ich gehe zu ihm und beuge mich vor, um sein ausdrucksloses Gesicht zu betrachten. Als ich ihm eine Hand auf die nach vorne gesackte Schulter lege, scheint er sich ein wenig zu beruhigen. Ansonsten ist bei ihm alles wie immer.

»Ein Glück, dass ich gekommen bin, Kumpel. Will mir gar nicht vorstellen, dass du die ganze Nacht hier verbracht hättest.«

Ich gehe zum Whiteboard, wo der Schichtplan hängt. Dort ist auch ein Zettel für den Gardemanger Jake, dass er David nach dem Brunch nach Hause fahren soll. Jake ist neu in unserem Team. Er ist vor sechs Monaten aus Seattle hierhergezogen und war bis jetzt äußerst zuverlässig. Also ist dieser Schnitzer ungewöhnlich für ihn, trotzdem werde ich ihm deswegen am Dienstag einen Einlauf verpassen.

Nachdem ich David ein Glas Wasser gegeben habe, mache ich mich an die anstehende Aufgabe und schalte die Abzugshauben ein. Aber eine springt nicht an. Durch den Filter kann ich nicht sehen, wo der Mechanismus hakt, daher hole ich mein Werkzeug aus dem Büro und gehe zum Sicherungskasten, um den Strom für diesen Bereich der Küche abzuschalten. Kaum habe ich die Ummantelung entfernt, finde ich schon die Ursache des Problems: ein loses Kabel. Ich muss ein bisschen herumfummeln, um alles wieder ordentlich unterzubringen, doch da sich keine größeren Schwierigkeiten ergeben, bin ich kurz vor vier fertig.

»Ich komme gleich zurück, David«, sage ich und runzle die Stirn, als er wieder anfängt, sich vor und zurück zu wiegen. »Ich schalte nur wieder den Strom ein, dann bringen wir dich nach Hause, sobald Sloane kommt, okay?«

Ich weiß nicht, ob er mich versteht. In seinem Verhalten ändert sich jedenfalls nichts.

Kopfschüttelnd wende ich mich ab und sammle mein Werkzeug zusammen, um es zurück ins Büro zu bringen. Mit dem Betätigen des Küchenschalters im Sicherungskasten haben die Abzugshauben wieder Strom.

Doch als ich in die Küche zurückkehre und den Ofen umrunde, bleibe ich wie angewurzelt stehen.

Mir wird der kalte Lauf einer Waffe auf die Stirn gedrückt.

Ein leises Lachen und eine weiche, fremde Stimme mischen sich in die Panik, die mich überflutet. »Soso«, sagt der Mann mit der Glock, »der Butcher von Boston.«

Als die Mündung warnend noch fester gegen meine Stirn gedrückt wird, hebe ich die Hände.

»Und dein kleiner Augenfädler wird auch jede Minute da sein. Zwar klingt ein Dreier ziemlich verlockend, aber ich möchte doch lieber ein bisschen Quality Time mit dir allein. Also wirst du sie dazu bringen, wieder zu verschwinden.«

Da wird ein Schlüssel ins Schloss der Hintertür gesteckt und gleichzeitig die auf mein Gesicht gerichtete Waffe entriegelt.

»Wenn nicht, bringe ich sie um«, flüstert er und tritt einen Schritt zurück in eine dunkle Ecke in der Küche. Mit der Waffe weist er auf die Tür zum Korridor, aus dem Sloane jeden Moment auftauchen wird. »Und ich werde es genießen, dass du jede Sekunde davon mit ansehen musst.«