Das Phantom
Die Stadt widert mich an.
Der Gestank des verschmutzten Meeres. Abgase von einem vorbeifahrenden Bus. Und vor allem der Atem der Leute, die ihre verdorbenen Gedanken immer und immer wieder in die faulige Luft strömen lassen.
Die Stadt ist eine Jauchegrube des Verfalls.
Die Bewohner Sodoms aber führten ein schändliches Leben, das dem Herrn missfiel.
Ich schlucke den Ekel über diese Welt herunter, die mich in der letzten Woche umgeben hat. Mein Blick wandert von dem einen Ende der Straße zum anderen, bleibt aber immer wieder an der Tür auf der gegenüberliegenden Seite hängen, an den geschwungenen Goldlettern auf dem Glas.
Mein Wecker klingelt. Zwölf Uhr mittags.
Herr, segne mich, deinen unwürdigen Diener. Hilf mir, die Hand gegen meine Feinde zu erheben. Lass sie für jeden Fehltritt, für jede Ungerechtigkeit büßen, die sie mir, deinem treuen Jünger, angetan haben.
Amen
Ich öffne die Augen und nehme meine Wache auf der Terrasse des Cafés wieder auf. Mein Tee ist kalt geworden, das aufgeschlagene Buch auf dem Tisch bleibt ungelesen. Mit den Fingern tippe ich den Rhythmus des Lieds, das in meinem Kopf widerhallt. Ein Choral, den meine Mutter immer sang.
Let sinners take their course. Lass die Sünder sündigen.
And choose the road to death. Den Weg zum Tod wählen.
Auf der gegenüberliegenden Straßenseite öffnet sich die Tür. Ein großer, athletischer Mann hält sie für eine Frau mit rabenschwarzen Haaren auf. Sie prüft die Umgebung. Auf ihrem schwarzen T-Shirt steht THE KILLERS .
Hitze steigt in mir auf.
But I, with all my cares – Doch ich mit allen Sorgen
Will lean upon the Lord – Stütze mich auf den Herrn
I’ll cast my burdens on his arm – Werfe meine Last auf ihn
And rest upon his word – Und vertraue auf sein Wort.
Die beiden treten ins Freie, drehen sich noch mal um und reden mit einem anderen Mann, der auf der Türschwelle bleibt. Schwarze Tätowierungen bedecken seine Hände und seine muskulösen Arme. Er ist nicht so groß wie der erste Mann, aber viel kräftiger. Der Beschützer. Der Kämpfer. Ich sehe es: an der Art, wie er steht, wie er grinst, an der verdeckten Bereitschaft in jeder Bewegung. Eine Schlange, immer bereit zuzuschlagen.
Sie wechseln Worte, die ich nicht hören, ein Lächeln, das ich nicht fühlen kann. Der zweite Mann legt dem ersten die Hand auf die Schulter. Er presst seine Stirn an die des anderen, dann trennen sie sich. Der erste Mann geht Hand in Hand mit der Frau fort. Als er ihr einen Kuss auf die Schläfe gibt, lächelt sie. Ich sehe ihnen nach, wie sie die Straße hinuntergehen und um eine Ecke biegen. Eine ganze Weile blicke ich noch in diese Richtung, gefesselt von ihrem Verschwinden, als würde ich wie ein Geist im Schatten ihren Schritten folgen.
Dann rutsche ich tiefer in meinen Stuhl und widme meine Aufmerksamkeit wieder dem, was wichtig ist. Auf das Kane Atelier.
I seek his blessing every noon
and pay my vows at night.
Ich ersuche jeden Mittag um seinen Segen
und löse nachts meinen Schwur ein.
Rowan Kane hat mir meinen Bruder genommen.
Und ich schwor, ihm seinen zu nehmen.