Die Klos lagen am anderen Ende des Flurs. Auf jeder Seite eins. Ich stürzte auf die Herrenabteilung und würgte über der Schüssel, ohne etwas herauszubringen. Dann wusch ich mir mit eiskaltem Wasser das Gesicht.
Ich sah auf die Uhr. Halb acht. Wenn ich mich richtig an das Programm erinnerte, dann sollte das Abendtreffen um acht zu Ende sein. Danach wurde dann noch schnell zu Abend gegessen, und um Punkt zehn wurde das Signal zum Schlafen gegeben. Ich hatte keine Lust, zurückzugehen. Oder, um es genauer zu sagen: Ich hatte in diesem Moment zu nichts weniger Lust, als zu diesem Haufen von Irren zurückzukehren. Was zum Teufel hatten sie sich mit Katja erlaubt? Sie war gerade erst von den Toten auferstanden, und schon wurde sie auf eine Veranstaltung gerollt, wo sie zweihundert Menschen, fast alles Fremde, erzählen musste, wie bescheuert ihr Selbstmordversuch gewesen war. Ich sah ihren verängstigten Blick vor mir, als sie mich entdeckt hatte. Wie sollte ich den verstehen? Ich hatte keinen Schimmer. Aber eins stand fest: Ich konnte nicht hier auf dem Klo stehen bleiben und bittere Galle hervorwürgen. Da, wo ich jetzt stand, würde ich nicht das geringste ausrichten können. Falls Katja immer noch dort war, musste ich mich zwingen, in den Saal zurückzugehen. Darin, dass sie hier aufgetaucht war, lag ja nun trotz allem wirklich Sprengstoff! Ich musste soviel wie möglich aufzeichnen, und dann sollten Gøran und Co. selber herausfinden, ob sie etwas davon brauchen konnten. Wie ihre Eltern sie aus der Klinik herausgeholt und hierhergeschafft hatten, konnte ich einfach nicht begreifen. Ich war überzeugt davon, dass kein Arzt empfohlen hätte, Katja hier oben über ihre »Sünden« Zeugnis ablegen zu lassen. Wenn meine Aufnahme nur gut genug geworden war, dann konnte ich Gøran vielleicht genau das liefern, was er sich am allermeisten wünschte.
Vorsichtig öffnete ich die Tür zum Flur. Und erstarrte.
Auf dem Flur hörte ich Stimmen, die sich näherten. Ich lehnte die Tür an und ging wieder zum Waschbecken, damit es aussah, als ob ich mir die Hände wusch, falls jemand pissen käme. Aber die Leute, die durch den Flur kamen, hatten keinen Druck auf der Blase.
Die Leute, die durch den Flur kamen, waren Katja und ihre Eltern. Den Rollstuhl konnte ich zwar nicht hören, aber die drei waren trotzdem nicht zu verwechseln. » … ganz toll gelaufen«, hörte ich ihren Vater sagen.
» … so stolz auf dich«, erklärte ihre Mutter. Katja murmelte irgendwas, als sie vorbeigerollt wurde, aber das konnte ich nicht verstehen. Als sie vorbei waren, streckte ich den Kopf hinaus. Sie bogen gerade um eine Ecke. Jetzt musste ich handeln. So schnell ich das wagte, schlich ich hinter ihnen her, und als ich um die Ecke lugte - waren sie spurlos verschwunden.
Der Flur, in dem ich jetzt stand, war höchstens zwanzig Meter lang, und er endete an der Ausgangstür, die auf den Hof führte. Konnten sie denn wirklich schon draußen sein? Nein. Dann hätte ich es gehört. Und wahrscheinlich hatten sie dazu auch gar nicht die Zeit gehabt. Auf jeder Seite des Flurs befand sich eine Tür. Es würde kein Problem sein, herauszufinden, wo sie jetzt waren. Als ich das Ohr an die Tür auf der rechten Seite legte, hörte ich nur mein eigenes hämmerndes Herz. Hinter der anderen Tür hörte ich Stimmen, aber es war unmöglich zu hören, was gesagt wurde. Ich wagte auch nicht, stehen zu bleiben. Ich war ratlos. Aber als ich mich gerade hinter die Flurecke zurückziehen wollte, hörte ich klar und deutlich die Stimme von Katjas Mutter, die Frau stand offenbar gleich hinter der Tür.
»Und du bist sicher, dass es dir nichts ausmacht, wenn wir am Rest des Treffens teilnehmen? Ich glaube, das wäre das Beste …« Gemurmel als Antwort.
»Nur eine halbe Stunde. Nicht einmal das.« Das war die Stimme ihres Vaters. »Dann sind wir wieder hier.«
Ich rannte zur Ausgangstür und konnte mich gerade noch in Sicherheit bringen, ehe sie den Flur betraten. Ich hörte, wie sie sich entfernten.
Jetzt musste ich alles auf eine Karte setzen. Und diese Karte war die Tür, die mich von Katja trennte. Wenn ich jetzt auf frischer Tat ertappt wurde, dann war mein Spiel aus. Dasselbe wäre der Fall, wenn Katja mich verpfiff. Aber ich glaubte, keine andere Wahl zu haben, als ihr jetzt einen Besuch zu machen. Auf jeden Fall stand fest, dass ich keine zweite Möglichkeit haben würde, unter vier Augen mit ihr zu reden, solange wir hier oben waren.
Ich geh einfach voll drauflos, dachte ich großkotzig. Egal, worauf ich stoße.
Aber die Tür war abgeschlossen.
Ich bewegte die Klinke auf und nieder. »Katja? Katja!« Ich flüsterte so laut, wie ich mich gerade noch traute. Nach einigen Sekunden kratzte drinnen etwas gegen die Tür.
»Wer ist da?« Ihre Stimme klang fern und ängstlich.
»Peter! Peter Pettersen!«
Pause.
»Ich will allein sein«, sagte sie zögernd.
»Ich muss mit dir reden!« drängte ich. »Begreif das doch. Ich muss jetzt sofort mit dir reden!«
Draußen fuhr ein Auto auf den Hof.
»Bitte, Katja! Zum Henker, ich werde entdeckt! Da kommt jemand!« Ich hatte den Satz noch nicht beendet, als sich mit einem Klicken die Tür öffnete, ich fiel ins Zimmer und landete auf den Knien. Katja warf die Tür wieder ins Schloss. Draußen auf dem Flur ging jemand vorbei, ein Mann lachte.
»Haben die mich gesehen?« Ich rappelte mich auf.
Sie sah mich mit einem seltsamen Blick an. Dann schüttelte sie den Kopf. Das tat offenbar weh, und sie schnitt eine Grimasse. »Glaube ich nicht.«
»Hm«, sagte ich. »Schön, dass es dir besser geht.«
»Unwichtig. Es kann jemand kommen. Und wieso bist du nicht im Saal?«
»Weil ich es wichtiger finde, mit dir zu reden!«
»Du riskierst einen Haufen Ärger, wenn dich hier jemand entdeckt.«
»Ja«, sagte ich. »Mehr, als du ahnst.«
Sie sah mich ernst an. »Sei ehrlich, Peter. Bist du zum Schnüffeln nach Solvangen gekommen? Spielst du wieder Detektiv?«
»Im Grunde schon. Aber das kann ich dir im Moment nicht erklären. Top secret, wenn du verstehst. Aber um ganz ehrlich zu sein, ich kann einfach nicht glauben, dass du meinst, was du da im Saal von dir gegeben hast. Deshalb bin ich jetzt hier. Wenn ich mich irre, verpfeifst du mich natürlich, das ist mir klar, aber …« Sie brach in Tränen aus. »Katja! Ich wollte doch nicht …«
Aber sie ließ sich nicht bremsen. Sie heulte dermaßen, dass ich Angst hatte, ich würde nasse Füße kriegen. Ganz verzweifelt fiel ich wieder auf die Knie und nahm sie in den Arm. »Katja!« Nach und nach beruhigte sie sich ein bisschen. Ihr Weinen ebbte ab, aber sie schluchzte immer noch.
»Du verstehst das alles nicht«, sagte sie. »Du weißt nicht, was das für Leute sind.«
»Langsam kommt mir eine Ahnung«, antwortete ich. »Du irrst dich! Aber ich habe eine Ahnung.« Ich zog das Aufnahmegerät aus der Tasche und schaltete es ein. Legte es auf ihren Schoß. »Erzähl mir von ihnen.« Sie sah mich misstrauisch an. »Du nimmst auf?«
»Ja. Aber ich verspreche dir, ich werde damit nichts tun, was du nicht willst.«
»Was soll ich denn sagen?« fragte sie zahm. »Zum Henker!« antwortete ich. »Bist du denn der totale Roboter geworden? Nicht alle wollen, dass du etwas Bestimmtes sagst, weißt du! Erzähl mir, was mit dir in der letzten Zeit losgewesen ist. Zum Teufel, ein Haufen Leute in der Schule fragt sich, warum … ja, warum du gesprungen bist. Und wie gesagt: Ich glaub das einfach nicht, was ich vorhin da im Saal gehört habe.« Sie dachte nach. »Das ist nicht so leicht. Weißt du, ich kann dir auch nicht alles sagen. Aus verschiedenen Gründen. Aber es stimmt, von dem, was ich gesagt habe, hat kein Wort gestimmt. Von Anfang bis Ende nur Lügen.«
»Und wer hatte diese Lügen bestellt? Erik?«
»Ja. Er und Eva. Sie wollten, dass ich das alles erzähle.«
»Und deine Eltern? Was wollten die?« fragte ich sarkastisch. Sie schüttelte den Kopf. »Darüber kann ich jetzt nicht mit dir reden. Es ist sogar wichtig, dass ich das nicht tue.« Ich sah in ihrem ganzen Gerede nun wirklich keinen Sinn, aber ich beschloss, sie nicht weiter zu bedrängen. Ich kümmerte mich darum, dass das Band weiterlief.
»Meinst du, Erik und Eva haben dir diktiert, was du sagen solltest?«
»Nicht direkt. Sie haben mir nur erzählt, wie es passiert ist.« Sie versuchte zu lachen, aber das gelang ihr nicht gut. »Als ob ich das nicht wüsste.«
»Hättest du dich nicht einfach weigern können?«
»Das war nicht so leicht. Die ganze Sache ist im Moment ziemlich verzwickt. Ich wünschte, du wärst nicht gekommen.« Ich kapierte immer weniger. Auf welcher Seite stand sie denn eigentlich?
»Na gut«, sagte ich resigniert. »Aber erzähl mir ein bisschen davon, was du über Das Licht des Lebens weißt.«
»Ich bin mit der Bewegung aufgewachsen. Ich glaube, du begreifst nicht ganz, wie die dich in jeder Hinsicht prägt. Ich durfte in der Schule und Freundinnen oder Freunden nichts davon erzählen. Hatte auch keine Lust dazu. Hab mich lieber abgesondert. Aber im letzten Winter hatte ich einfach genug. Ich wollte nicht mehr zu den Treffen gehen, ich wollte Kims verdammte Schriften nicht mehr lesen. Es … es war eine ganz entsetzliche Zeit. Wenn ich bloß älter gewesen wäre, dann hätte ich wenigstens ausziehen können. Aber zu Hause bei meinen Eltern … Jeden Tag haben sie alle möglichen Leute ins Haus gelotst, die mich in die Bewegung zurückholen sollten. Und ich konnte mit niemandem reden. Nicht darüber. Am Ende konnte ich den Druck einfach nicht mehr aus halten. Und ich habe mich bereit erklärt, neulich an dem Samstag Erik im Zentrum zu treffen.«
»Aber er war an dem Tag doch gar nicht da! Das hat er mir erzählt!«
»Diese Leute lügen mehr als du und ich zusammen! Natürlich war er da! Er hat mir lang und breit alles an den Kopf geknallt, was ich meinen Eltern und der ganzen Bewegung angetan habe. Und er hat gesagt, ich müsste jetzt ganz neu anfangen, weil ich so ganz ohne Moral und Ehre wäre. Von jetzt an, sagte er, müsste ich außer der Schule absolut alles aufgeben. Das mit Tom hatten sie auch spitzgekriegt. Ihn zu treffen, sollte ich einfach vergessen. Stattdessen wollten Erik und Eva im Zentrum für mich Arbeitsaufgaben finden, damit ich lernen könnte, mich einzuordnen und meine aufrührerischen Ideen zu unterdrücken. Als ich gegangen bin … Mir ist einfach schwarz vor den Augen geworden. Ich kann mich kaum daran erinnern. Nur, dass im Treppenhaus gearbeitet wurde, und dass ich niemand sehen wollte, weil ich so schrecklich geheult hatte.«
»Und deshalb bist du über den Dachboden gegangen?«
»Glaub schon. Ich habe nicht klar gedacht. Um mich herum stürzte einfach alles ein, ich wollte nicht mehr leben.«
»Diese Schweine!« sagte ich. »Aber warum … ich begreif nicht, was du hier machst! Warum sitzt du da im Saal und lügst?«
»Pst!« sagte sie. »Du redest zu laut. Aber du bist nicht der einzige, der Pläne schmieden kann. Du musst mir ganz einfach glauben, dass ich nicht total bescheuert bin. Machst du das?«
»Doch, ja«, sagte ich leicht resigniert. Ich wusste nicht, was ich glauben sollte. »Und du? Hast du Vertrauen zu mir? Kann ich diese Aufnahme mitnehmen? Wenn du ja sagst, dann landet sie bei einem eifrigen Journalisten.«
Sie dachte nach.
»Ja. Ich habe Vertrauen zu dir, und du kannst die Aufnahme mitnehmen. Aber du musst mir versprechen, dass du sie bis übermorgen behältst.«
»Das kann ich nicht«, sagte ich. »Ich muss heute Nacht zu einer heimlichen Verabredung. Aber es spielt keine Rolle, ob ich die Aufnahme an diesen Journalisten weiterreiche - hierzulande kommen sonntags ja doch keine Zeitungen heraus. Das nächste Dagbladet erscheint erst am Montag.«
»Okay«, sagte sie. »Alles klar. Du bist schon komisch, Peter.«
»Bin nur ein ganz normaler Spion!« sagte ich und versuchte, großkotzig zu lächeln. »Bleibt ihr bis morgen hier?«
»Darauf kannst du Gift nehmen. Aber jetzt musst du gehen, es kann jeden Moment jemand kommen, das Treffen ist gleich zu Ende.«
»Bin schon weg. Soll ich Tom heute Nacht von dir grüßen?«
»Tom?!« Ihre Augen wurden groß und feucht. »Der lauert zusammen mit dem Prof im Gebüsch. Irgendwer muss doch die grobe Arbeit übernehmen, wenn's hier oben hart wird.« Sie lächelte zum ersten mal richtig. »Gib ihm einen dicken Kuss von mir!«
»Geht nicht«, sagte ich und ging zur Tür. »Dann gerät der Prof vor Eifersucht außer sich!«