Im Saal hatten sie gerade Brüder und Schwestern gesungen, ein Lied, das nach solchen Treffen üblich war. Ich schlüpfte auf meinen Platz und stimmte ein. Einige Reihen weiter vorn konnte ich die Hinterköpfe von Katjas Eltern sehen. Aber als ich meinen Blick bis zum Podium weiterwandern ließ, erstarrte ich. Dort stand Erik. Seine Augen klebten an mir. Der blanke Glanz, der noch vor kurzem seinen Blick geprägt hatte, war verschwunden. Jetzt starrte er mich mit einem Gesicht an, das allen Argwohn dieser Welt ausstrahlte. Wusste er, was passiert war? Nein, das war unmöglich. Aber dass er gewisse Ahnungen hatte, glaubte ich ganz sicher. Als das Lied zu Ende war, strömten die Leute zum Ausgang, und ich ließ mich von der Menge aufsaugen.
Aber so leicht sollte ich natürlich nicht davonkommen. Ich hatte erst ein paar Schritte gemacht, als ich hörte, wie Eriks Stimme alles Gerede um mich herum durchschnitt. »Peter!« Ich konnte einfach nicht so tun, als ob ich ihn nicht gehört hätte. Seltsamerweise wirkte er weder sauer noch misstrauisch, als ich zu ihm kam. Ganz im Gegenteil. Erik war wieder der gemütliche Große-Bruder-Typ, den ich am ersten Abend im Zentrum kennen gelernt hatte.
Er legte den Arm um mich. »Du, kannst du mir morgen ein bisschen mit den Filmen helfen? Du hast doch im Zentrum geübt.«
»Aber sicher«, antwortete ich erleichtert.
»Schön. Dann lass uns das Ganze jetzt vorbereiten. Wir haben noch ein paar Minuten Zeit bis zum Abendessen.« Die Leinwand hatte mich schon gewaltig beeindruckt. Sie war riesengroß und hing so unter der Decke, dass alle im Saal sie gut sehen konnten. Sie musste ein Vermögen gekostet haben, aber daran hatte ich mich beim Licht des Lebens inzwischen ja schon gewöhnt.
»Der ist ja riesig«, sagte ich. »Aber wo ist der Projektor?«
»Hier drinnen.« Erik führte mich in ein Zimmerchen am anderen Saalende. Hier stand der Projektor vor einem Loch in der Wand. Durch ein weiteres schmales Fenster, das ich vom Saal aus nicht bemerkt hatte, konnte man während des Bedienens des Projektors den Bildschirm sehen.
»Wir haben das so eingerichtet, damit ich - oder wer sonst das Treffen leitet - das Filme kommentieren kann, ohne sich mit der Technik herumschlagen zu müssen. Die meisten Filme, die wir hier zeigen, sind Privataufnahmen, und meistens sind sie stumm. Es wird eher wie ein Vortrag, wenn jemand etwas über die Bilder sagt, finden wir. Das ganze System ist ungeheuer einfach. Wenn ich die rechte Hand hebe, dann lässt du das Bild stillstehen. Vorspulen brauchst du nicht, aber wenn ich Rücklauf will, dann halte ich einfach den Daumen schräg hoch wie beim Trampen. Okay?«
»Moment noch«, sagte ich. »Ich soll also der Filmvorführer sein?«
»Ist das zu viel von dir verlangt? Du hast mir doch im Zentrum oft geholfen. Es dauert nur ein paar Minuten, du versäumst also ganz bestimmt nichts.«
»Natürlich will ich dir helfen. Aber ich bin bestimmt tierisch nervös, wenn ich weiß, dass Kim im Saal sitzt.«
»Aber Peter! Kim ist doch kein schlechtgelaunter Kaiser oder so was! Er ist unser Vater, unser bester Freund! Wenn du einen Fehler machst, dann komme ich sofort und helfe dir. So einfach ist das. Schau her: die Filme sind von eins bis drei nummeriert. Du brauchst nur die richtige Reihenfolge einzuhalten. Denk aber daran, dass sie ziemlich kurz sind, zehn oder zwölf Minuten lang, du musst also die ganze Zeit dabei sitzen bleiben. Du wirst aber alles hören, was gesagt wird, hier gibt es nämlich einen Lautsprecher.« Er zeigte auf die Rückwand. Unter einem Fensterchen war der Lautsprecher befestigt. »Ja, ja«, sagte ich. »Ich werde mein Bestes tun.«
»Ausgezeichnet. Mehr verlangt auch niemand von dir. Und, du?«
»Ja?«
Er setzte sich auf die Schreibtischkante. »Ich dachte nur … das mit Katja heute Abend war doch sicher ein ziemlicher Schock für dich?« Ich nickte.
»Wollte bloß, dass ihr begreift, dass es nie zu spät ist. Und es war ja für Katja auch wichtig, sich ihr Herz ein bisschen zu erleichtern.«
»Stimmt!« murmelte ich. Ich hätte ihm die Birne einhauen können. »Meinst du, sie wird wieder ganz gesund?«
»Da bin ich ganz sicher, Peter.«
Meine Hände schwitzten, und ich wusste nicht, wo ich hinschauen sollte. »Gehen wir essen?«
»Ja. Nur eins noch. Warum bist du heute Abend beim Treffen rausgegangen?«
»Magenprobleme. Ich musste aufs Klo. Ich … vielleicht lag's am Essen. Es hat so gut geschmeckt, und ich habe fast doppelt soviel gegessen wie sonst. Aber ich bin doch an solches Essen nicht gewöhnt. Zu Hause gibt's Frikadellen und Fischklöße.«
Er lächelte. »Nur noch ein paar kurze Jahre. Dann kannst du deinen Körper ein für allemal von dieser Schweinerei befreien.
Sobald du in eine von unseren Wohngemeinschaften ziehst, ist Schluss mit den ungesunden Gewohnheiten, die deine Eltern dir aufzwingen.«
»Klingt gut«, sagte ich.
Als ob die Alten mich jemals zwingen müssten, Mutters Frikadellen zu mampfen!