Tom und Katja

In Krisen ist meine Mutter in Ordnung. Und jetzt hatten wir eine Krise. Es stellte sich heraus, dass sie nun schon über eine Stunde Toms Hand hielt, aber jetzt, wo der Prof und ich aufgekreuzt waren, zog sie sich diskret zurück. Stürzte zum Alten in die Küche, um uns eine Tasse Tee zu kochen. Der Prof und ich nahmen Tom in die Mitte und lotsten ihn in mein Zimmer.

»Ich wollte euch damit ja nicht auf den Keks gehen«, murmelte er, obwohl das natürlich genau sein Ziel gewesen war. Er ließ sich auf mein Bett fallen. »Musste einfach mit irgendwem über diesen Mist quatschen. Und dann ist mir eingefallen, dass du … dass ihr doch schon öfter solche Rätsel gelöst habt. Ja, auch wenn sie vielleicht anders waren, aber …«

»Alles klar«, sagte ich. »Du denkst an die Sache mit Lena.« Vor einiger Zeit hatte ich mich ganz schrecklich in eine Frau verliebt, ohne zu ahnen, dass sie bis über beide Ohren in einer Soße aus Heroin und Prostitution steckte. Ehrlich gesagt, war das für mich ein ziemlicher Schlag in die Visage gewesen. Aber am Ende war alles gut ausgegangen, und obwohl Lena irgendwie aus meinem Leben verschwunden war, so wusste ich doch, dass sie ihr eigenes im Griff hatte.

»Du willst doch nicht behaupten, Katja hätte angefangen Drogen zu nehmen?« fragte der Prof. »Das glaub ich einfach nicht.« Mir würde das auch niemand einreden können. Katja war konkurrenzlos die tollste Frau in der 8 C, unserer Parallelklasse. Engelshaare und Veilchenaugen und alles, was dazugehört. Die Jungs in der Schule standen Schlange, um ihre Aufmerksamkeit zu erregen. Aber sie war nicht der Typ »blöde Blondine«, ihr Verstand war scharf wie eine Rasierklinge - und sie war unglaublich zurückhaltend. Wenn wir zusammen mit der C eine Party veranstalteten, dann konnten wir sicher sein, dass Katja nicht auftauchen würde, und wenn sie anwesend war, war sie gewissermaßen auch irgendwie abwesend. Sie sagte fast nie etwas. Sie galt als eine Art Eigenbrötlerin. Was Tom mit ihr zu tun haben sollte, überstieg einfach meinen Verstand.

Er schüttelte den Kopf. »Nein, mit Stoff hat das nichts zu tun. Soviel ich weiß jedenfalls nicht.«

»Aber jetzt spuck doch schon aus, Mann«, sagte der Prof ungeduldig. »Du sagst, die Frau hat versucht, sich umzubringen? Also erzähl uns zumindest, wie das passiert ist.«

»Einen Moment«, warf ich ein. »Fang lieber mit dem Anfang an.«

»Mit dem Anfang?« Tom sah mich verständnislos an. »Sei doch nicht so blöd! Weder der Prof noch ich haben doch gewusst, dass zwischen dir und Katja etwas läuft.« Tom schwieg eine Zeitlang und zog sich an den Haaren. »Ich bin schon seit Ewigkeiten in Katja verknallt«, begann er. »Außer mir hat das aber niemand gewusst. Hab mich nicht getraut, das irgendwem zu verraten. Wollte mich nicht lächerlich machen, versteht ihr. Ich war doch irgendwie nicht …«

»Ihr Typ?« schlug der Prof vor.

»Ja, genau. Verdammt noch mal, alle Frauen halten mich doch für den Obergorilla. Und ich hab ja auch allerhand Mist gebaut, so ist das nicht … aber das mit Katja war irgendwie …« … etwas ganz anderes, dachte ich. Liebe. »Ich versteh, was du meinst«, sagte der Prof.

»Na gut. Aber sie ließ ja keinen an sich heran, oder? Hat sich nie an irgendwas beteiligt. Aber vor ein paar Monaten schien sie etwas aufzutauen. Und vor zwei Wochen hatte Kalle ein Fest. Ich war fast in Ohnmacht gefallen, als sie da mit Camilla und Tine aufkreuzte! Ich dachte, die Bärin hat ihre Höhle verlassen. Jetzt oder nie!«

»Schönes Bild«, meinte der Prof. »Und hast du … ich meine …«

»Wir haben geredet!« erklärte Tom gereizt. »Stundenlang. Ich hab nicht mal ein Bier getrunken. Sie ist … ach, verdammt, sie ist einfach in Ordnung. Vielleicht war das blöd von mir, aber ich hab ihr sofort ganz offen gesagt, was bei mir anliegt. Dass dieser ganze Quatsch mit den anderen wirklich nur Blödsinn war und dass ich immer nur an sie gedacht habe, wenn ich mit anderen zugange war.«

Dann muss er ja ganz schön viel an sie gedacht haben, überlegte ich mir.

»Ich weiß nicht so recht, wie ich das sagen soll«, erzählte Tom weiter. »Aber ich glaube einfach, dass sie mich ein bisschen leiden mochte.« Er sah uns an. »Es ist wirklich nichts gelaufen. Kein Geknutsche oder so. Ja, natürlich hab ich mein Glück versucht, aber trotzdem. Dann haben wir uns fürs Kino verabredet.« Plötzlich war er ganz zahm. »Für heute. Und dann …«

»Ist sie nicht gekommen«, sagte ich.

»Nein, ist sie nicht. Ich hab mit den Karten in der Hand vor dem Saga gewartet. Bis der Film angefangen hatte. Wusste nicht, was ich davon halten sollte. Sie hatte so ehrlich gewirkt, als sie sagte, dass sie mitkommen wollte. Und ich habe gestern noch in der Pause mit ihr gesprochen. Alles war klipp und klar. Ich hatte meiner Mutter sogar noch einen Fünfziger extra abgeluchst, damit wir nachher noch eine Cola oder so was bezahlen könnten.«

»Und wie hast du es herausgefunden?« fragte der Prof. »Hab bei ihr zu Hause angerufen. Ihre Familie war natürlich restlos außer sich. Sie haben gesagt, ihr wäre im Markveien ein Unfall passiert. Schwer verletzt. Ich hab aufgelegt, ich hätte fast das Telefonbuch vollgekotzt.«

»Unfall?« wiederholte ich. Hast du nicht gesagt, sie hätte versucht, sich umzubringen?«

»Warte doch, ich bin noch nicht fertig. Ja, ihre Leute haben mir was von einem Unfall erzählt. Die hatten bestimmt im Moment keine Lust, mir die Einzelheiten haarklein zu liefern. Vor allem nicht, wo sie wahrscheinlich noch nie von mir gehört hatten. Aber auf dem Nachhauseweg musste ich ja sowieso durch Markveien, und als ich da angekommen war, hab ich ein bisschen herumgeschnüffelt. Hab nicht gerade Detektiv gespielt, so wie ihr, aber ich hab jedenfalls Würstchenverkäufer gefragt, ob er was gehört hätte, und … ja, dass vielleicht meine Freundin verletzt worden wäre.«

»Und? Nix Autounfall?« fragte ich vorsichtig. »Nicht mal ein eingebeulter Kotflügel. Aber der Typ hat mir erzählt, eine Frau wäre im zweiten Stock von Nummer 46 aus dem Fenster gesprungen. Im Hinterhof. Der Typ war übrigens in Ordnung, wollte mir umsonst Wurst und Cola geben, aber ich hab nein danke sagen müssen. Ich konnte gerade noch auf die Straße gehen, da kam mein Abendessen auch schon hoch. Ja, und dann bin ich ein paar Runden um den Block geschwankt, ehe ich hergekommen bin. Ich hab wirklich Lust, mich vollaufen zu lassen.« Mutter brachte den Tee. Sie sah Tom besorgt an. »Ich kann mir ja vorstellen, wie dir zumute ist«, sagte sie. »Aber in solchen Fällen hat Alkohol nur selten eine gute Wirkung. Hier in diesem Haus wird heute jedenfalls nichts Stärkeres serviert als Earl Grey. Verflixt, versuch doch, dich ein bisschen zusammenzunehmen. Es hat keinen Zweck, dich einfach so gehenzulassen.«

»Zieh Leine!« sagte ich.

Sie warf mir einen mahnenden Blick zu, dann schloss sie hinter sich die Tür.

»Sie hat recht«, sagte Tom. Er schlürfte den heißen Tee. »Wenn ich heute Abend auch nur an einer Bierflasche rieche, dann suche ich mir sicher auch ein passendes Fenster.«

»Markveien 46?« fragte ich. »Was hatte sie denn da zu suchen? Sie wohnt doch drüben in Bjølsen, oder nicht?«

»Doch. Nein, ich hab keinen Schimmer. Vielleicht kennt sie da unten irgendwen. Ich hatte einfach keinen Bock mehr, noch weiter herumzufragen.«

Einige Minuten lang schlürften wir schweigend unseren Tee. Ich sah vor mir ein offenes Fenster und einen Hinterhof. Und Katja, die sich auf der Fensterbank zum Sprung bereit machte. Fünfzehn Jahre, und fertig mit allem …

Dann stellte schließlich der Prof die Frage, für die ich einfach nicht genug Mut aufbringen konnte. »Versteh das nicht falsch, Tom. Ich find es natürlich total in Ordnung, dass du vorbeikommst, um alles loszuwerden. Dafür hat man ja schließlich seine Kumpels.« Er zeigte auf mich. »Du hättest mal Peter sehen sollen, als die Sache mit Lena am schlimmsten war. Aber wenn du nicht einfach nur vorbeigekommen bist, um uns zu erzählen, wie schrecklich das Leben ist, dann spuck jetzt aus, ja?«

Tom nickte. »Ich komm mir vor wie gelähmt. Aber niemand springt doch ohne einen Grund aus dem zweiten Stock, oder? Ich dachte, ihr könntet mir vielleicht dabei helfen, ein bisschen in dieser Sache zu graben. Ich schaff das einfach nicht allein. Fühl mich … ach, zum Teufel, irgendwie fühl ich mich schuldig. Vielleicht hab ich irgendwas gesagt oder getan …«

»Hör auf mit dem Quatsch!« sagte der Prof wütend. »Das hat keinen Zweck. Das hilft Katja auch nicht, wenn du jetzt auch noch austickst.«

»Das weiß ich doch! Aber ich bin doch kein Vollidiot, ich hätte zumindest ahnen sollen, dass mit der Frau etwas nicht stimmt.«

»Wieso denn? Du hast doch gesagt, dass Katja gerade erst angefangen hatte, einen Blick auf die Welt zu werfen«, sagte ich. »Und da hattest du ja wohl nicht gerade Grund, das Schlimmste zu befürchten, oder was? Ich hätte es jedenfalls begreiflicher gefunden, wenn sie den Schlussstrich gezogen hätte, als sie noch ganz zu war.«

»Das klingt ja logisch. Aber - ich weiß nicht so recht.« Plötzlich war er wieder der gute alte Heißsporn. »Ich kann doch nicht befehlen, was ich für ein Gefühl haben will, oder? Ich finde, an dieser Sache stinkt etwas, und ich habe Angst, dass es mit mir zu tun hat. Dass ich an dem ganzen Mist schuld bin. Ich will ja gern mit ihren Eltern reden, zum Beispiel, aber das bring ich einfach nicht.«

»Ist schon klar«, sagte ich. »Wir fangen an zu graben. Der Prof und ich tanzen mit unseren Spaten an. Unter einer Bedingung.«

»Und die lautet?«

»Dass du dir diesen Quatsch, du wärst an allem schuld, ganz schnell abschminkst. Verdammt noch mal, du hast sie ja wohl nicht vergewaltigt?«

»Geredet, hab ich doch gesagt! Hab's ja nicht mal versucht sie anzufassen.«

Der Prof gähnte. »Es ist schon spät. Wir reden am Montag weiter, Tom. Vielleicht hat sich bis dahin schon alles von selber aufgeklärt. Es hat jedenfalls keinen Zweck, hier die ganze Nacht Däumchen zu drehen.« Ich brachte Tom an die Tür und kehrte zum kalten Tee und zum Prof zurück.

»Ja, ja, Peter. Was sollen wir nun davon halten?«

»Dass wir offenbar wieder mitten in der Soße stecken«, antwortete ich. »Zum Gott weiß wievielten Mal.«

»Und dass die Frau aus Kairo recht hatte. Tod hoch zwei.«

»Kräfte«, sagte ich. »Sie hat was von Kräften erzählt, mit denen du es aufnehmen musst.«

»Wir«, korrigierte er müde.

»Na gut. Aber sind das die ‘Kräfte’ von K.-o.-Karlsen, mit denen wir hier zu tun haben?«

Der Prof runzelte die Stirn. »Ich hab so das Gefühl, dass wir so billig nicht davonkommen werden.«