In dieser Nacht lag ich lange wach. Bis das Morgenlicht seidig blau auf mein Bett fiel, genauer gesagt.
Und dabei dachte ich an den Tod. Und ans Leben. Daran, dass wir geboren werden und dass wir dann einige kurze Jahre auf einem seltsamen Planeten leben, bis der Tod den Schlusspunkt setzt. Ich dachte daran, dass meine Eltern immer behaupteten, dass die Zeit immer schneller verginge, je älter man wäre. Dachte, dass uns im Grunde so wenig Zeit bleibt, dass wir versuchen müssen, alles zu erleben, was wir auf diesem Stern gern erleben möchten. Die Schule schaffen. Die passende Frau oder den passenden Typen finden. Vielleicht Kinder bekommen. Einen Job finden, bei dem wir uns einigermaßen wohl fühlen. Und dann … Ja, was dann? Was war bloß der Sinn dieser ganzen Geschichte? Manche machten sich den totalen Stress. Tobten wie die Irren herum, um ein fettes Konto mit haufenweise Kronen zusammenzuraffen. Blankgeputzte Karre und Riesenvilla. Aber was sollte das denn, wenn es doch nur für einige kurze Jahre anhielt? Und was war der Tod? Nichts? Eine gewaltige Finsternis? Wie Schlaf, ohne zu träumen? Oder träumte man? Oder vielleicht … bedeutete der Tod so etwas wie den Übergang in einen anderen Raum? Standen dort Jesus oder Gott oder vielleicht doch eher Buddha und Allah? Gab es etwas wie die »ewige Seligkeit«, von der Tonje und die anderen aus dem Christlichen Schülerbund so gerne redeten? Natürlich machten wir uns auf dem Schulhof über diese Leute lustig, aber wenn ich ganz allein dalag und über das alles nachdachte, dann war ich gleich ein paar Nummern kleiner. Denn eines wissen wir, ob wir nun an dieses oder an jenes glauben: Eines Tage müssen wir weg von hier. Was wir dann erleben werden, oder ob wir überhaupt etwas erleben, darüber lässt sich nichts Gescheites sagen. Aber weg müssen wir. Weg von der Erde und von allem, was wir schwierig und von allem, was wir nett und witzig finden. Weg von Würstchen mit Kartoffelpüree, weg von geiler Musik, von spannenden Filmen und tollen Frauen, die so wirklich sind, dass sie schon wieder unwirklich werden.
Auch du musst weg, Peter Pettersen, sagte ich zu der Finsternis, die mich umgab. Einmal musst du wie alle andern den Löffel abgeben. Und dann dachte ich: An dem Tag spielt es keine große Rolle mehr, wie du über all das denkst, das einzige, das dann noch eine Rolle spielt, ist, wie alles in Wirklichkeit zusammenhängt. Ich fühlte mich so tief wie der Ozean. Und kapierte genauso wenig. Und als ich immer verzweifelter wurde und dachte, dass ich jetzt aber wirklich schlafen müsste, sah ich schließlich Katja vor mir. Ich sah sie ganz deutlich in der Dunkelheit hinter meinen geschlossen Augenlidern. Die stille, blonde Katja aus der C. Sie war bestimmt genauso klug wie der Prof, fand es aber nicht so wichtig wie er, das auch ja allen anderen zu zeigen. Katja mit dem weichen, etwas tiefen Lachen. Dieses Lachen kam oft, aber es war nicht immer leicht zu sagen, warum es gerade jetzt auftauchte. Wir sagten immer, sie lachte an den falschen Stellen. Jetzt war ich mir da nicht mehr so sicher. Vielleicht hatten ja wir anderen an der falschen Stelle gelacht.
Und ich dachte an Katja und an ein offenes Fenster. Es war total verrückt. Ob sie jetzt wirklich tot war? Oder ob sie noch lebte? Ich glaube, darüber dachte ich vor allem nach. Daran, dass ich nicht wissen konnte, ob sie lebte oder tot war. Und an so kleine Episoden, dass ich mich einmal total lustig über sie gemacht hatte, als sie in einer gemeinsamen Schulstunde den Begriff »Kunst« erklären sollte. Sie hatte eine Masse fette Phrasen an dieses Wort gepappt, die mir auf den Keks gegangen waren, weil ich schließlich mit einem Mann zusammenlebte, der unzweifelhaft mein Vater war und der sich schon zweifelhafter »Multikünstler« nannte, das heißt, einen Künstler, der mehrere Kunstrichtungen beherrscht. Dichtung, Malerei, Bildhauerei usw. Ich hatte mich über sie lustig gemacht, weil ich zu wissen glaubte, was es mit solchen Leuten auf sich hatte, nämlich keine müde Münze in der Tasche und höllische Mengen Gefasel. Sie hatte alles an den Kopf bekommen, wozu ich mich bei meinem Alten nicht traute. Aber das ging mir erst jetzt auf. Und jetzt war es vielleicht zu spät, das alles wieder in Ordnung zu bringen, weil … weil die Frau vielleicht schon nicht mehr am Leben war. In manchen Nächten hat man das Gefühl, überhaupt nicht geschlafen zu haben. Und doch erwacht man am nächsten Morgen und hat endlose Mengen wirres Zeug geträumt. Die Träume haben sich total mit dem vermint, worüber man nachgedacht hat, und alles ist ein einziges Chaos aus Vernunft und Quatsch.
Diese Nacht war so. Gewusel und Gedanken. Wilde Spinnereien in Peter Pettersens Birne. Wo meine Gedanken aufgaben, übernahmen meine Traumbilder Katja, die am Rande eines Abgrundes stand und springen wollte. Oder ich sah sie durch das Schlüsselloch im Badezimmer - nackt, bereit zum Sprung in die Badewanne. Nicht, um sich zu waschen, sondern um ihren Kopf unter Wasser zu halten.
Auch Tom war in vielen Szenen dabei. K.-o.-Karlsen in neuen Cowboystiefeln und Lederweste, im Mundwinkel eine stinkende Selbstgedrehte. Oder »Tom, der Traurige«, mit tränenverschmierten Wangen und türkisem Hosenanzug im Stil von Klein-Mys Klamotten - total erledigt und hilflos.
Schließlich weckte mich meine Mutter. Ich weiß nicht, warum, sie gab keinen Mucks von sich, sie stand einfach mit einem sauberen Hemd in der Hand im Zimmer. Und sie sah total durchgedreht aus. Als ob sie losheulen oder losgackern wollte, ich konnte einfach nicht erraten, ob sie ganz oben oder reichlich down war. »Was ist los?« fragte ich.
»Sie haben's geschafft«, antwortete sie und ließ sich auf die Bett kante fallen.
»Was geschafft?« fragte ich. »Wer hat was geschafft?«
»Nun wach doch schon auf!« sagte sie. »Die Ärzte im Krankenhaus haben es geschafft, Katja über den Berg zu bringen!«
»Tut mir leid«, sagte ich. »Ich war einfach noch nicht ganz wach. Aber woher weißt du das?«
»Ich hab heute morgen Toms Mutter angerufen.«
»Spitze!« meinte ich und rieb mir die Augen. »Tja«, fuhr sie leicht resigniert fort. »Werden sehen. Es gibt noch soviel, worauf es ankommt. Und sie ist immer noch bewusstlos. Wenn sie bloß nicht fürs ganze Leben zum Krüppel wird!« Nachdem Mutter wieder im Wohnzimmer verschwunden war, stand ich auf und zog mich an. Stand am Fenster und kämpfte mit den Hemdknöpfen. Unten auf der Straße konnte ich Gøran sehen, den ältesten Bruder von Prof, unterwegs zum Sonntagsbesuch. Er sah mich an meinem Fenster und hob den rechten Arm zum Gruß. Ich winkte zurück. Er war klein. Er stand zwei Stock unter mir. In genau dieser Höhe war Katja mit Wissen und Willen hinaus aufs Gesims geklettert und hatte es darauf ankommen lassen. Ich selber hatte schon mein ganzes Leben Höhenangst, und der bloße Gedanke an den harten Asphalt da unter mir jagte mir kalte Schauer über den Rücken. Katja, dachte ich. Du bist nicht urplötzlich auf die Idee mit diesem Sprung verfallen, bloß weil du in der letzten Mathearbeit keine Supernote erwischt hast! In der Küche saß der Prof zusammen mit meinem Vater und Klein-My beim Frühstück. »Meine Güte«, sagte ich. »Kriegst du zu Hause jetzt schon kein Frühstück mehr?«
Der Prof mampfte eine Scheibe Ziegenkäse und redete mit vollem Mund. »Lunch, wie gebildete Menschen sagen. Bei uns hat's schon vor Stunden Frühstück gegeben. Es ist schon elf vorbei.« Ich schnitt mir eine Scheibe Brot ab. »Und ihr habt gehört, dass die Patientin überleben wird?«
Mein Alter nickte. »Ich raff überhaupt nix. Aber das ist ja nichts Neues. Auf so eine Idee zu kommen! Herrgott, hoffentlich steckt dahinter nicht wieder so eine Inzestgeschichte. Wenn ich im Moment Zeitung lese, krieg ich das Gefühl, dass ich der letzte normale Vater in dieser bescheuerten Stadt bin.« Klein-My musterte ihn mit ernstem Gesicht. »Uff, versetz mich hier nicht in Panik«, sagte ich und setzte mich. »Wenn du einen normalen Vater darstellen sollst …«
Mein Vater schnitt eine Grimasse und trank Kaffee. »Und wie ist's gestern mit den Damen gelaufen?«
»Da war bloß eine«, antwortete der Prof.
»Hat siebzig Eier gekostet«, erklärte ich, »aber sie war das wert.« Vater kniff misstrauisch die Augen zusammen. »Die Frau aus Kairo«, fügte der Prof schnell hinzu. »Kein Quatsch. Ich meine, nicht die Sorte Quatsch.«
»Die Frau aus Kairo?« Vater ließ die Worte auf der Zunge zergehen. »Wahrsagerin?«
»Da kannst du Gift drauf nehmen«, antwortete ich. »Sie hat uns Ärger vorausgesagt, und der Ärger ist ja auch schon da.« Aber Vater hörte nicht zu. Er stand auf und wickelte sich mit geistesabwesendem Blick fester in seinen Morgenrock. »Die Frau aus Kairo«, murmelte er immer wieder, »die Frau aus Kairo …«
»Jetzt geht er ein Gedicht schreiben«, sagte ich zum Prof. »Sicher ein funkelndes Meisterwerk.«
»Und wir? Schmeiß doch mal die Milch rüber.« Ich reichte ihm den Karton. »Keine Ahnung«, sagte ich. »Wir sollten uns vielleicht um die Wirklichkeit kümmern?«