Der Tatort

Der Hinterhof von Markveien 46 war von der frischrenovierten Sorte. Und das galt nicht nur für den Hinterhof. Alle Häuser um diesen Hof waren frisch angestrichen und hatten neue Fenster, und die Türen, die die Sniffer im Viertel so leicht hatten aufbrechen können, waren nun durch solide Neuanschaffungen mit Sicherheitsschlössern und allen Schikanen ersetzt worden. Der Hinterhof von Markveien 46 sah ganz einfach aus wie unser Hinterhof in Torshov, denn bei uns hatte die Stadtsanierung sich durch den Brei einen Weg gebahnt und die alten Bruchbuden von Ost-Oslo ziemlich aufgemotzt. Zu unserer Freude und unserer Verzweiflung, wie mein Vater oft sagte. Zu unserer Freude, weil viele Häuser kurz vor dem Einsturz gestanden hatten, zur absoluten Verzweiflung aller jedoch, die ihr ganzes Leben in diesen Häusern gewohnt hatten und die keine Millionäre waren. Denn nachdem die Stadtsanierung Ordnung geschaffen hatte, waren die Mieten um hundertfünfundzwanzig Prozent angestiegen - und für Leute, denen es schon vorher schwergefallen war, die Miete zusammenzukratzen, war das natürlich überhaupt nicht lustig. Zu diesen Leuten gehörten meine Eltern, deshalb wusste ich einiges über die Wohnungssituation in Ost-Oslo, ich hörte zu Hause einfach genug darüber. Mitten auf dem Hof, im Schatten einer Birke, standen zwei Schaukeln und ein Sandkasten, die bisher noch niemand in Betrieb genommen hatte. Jedenfalls sahen sie so sauber und ordentlich aus wie die gute Stube meiner Großmutter. Vor einer rosa Wand stand ein Container voller Bretterreste, Tapeten und alter Fensterrahmen. Der Prof und ich blieben im Tor zwei Minuten stehen und betrachteten die Neue Zeit. Rechts und links von uns sahen wir solide Türen mit Gegensprechanlagen und glänzenden Klingel knöpfen. Ich studierte die Namensschilder. Massenhaft Hansens und Olsens und Pettersens - vermutlich ganz normale Leute. »Auf dieser Seite gibt es bloß Firmen«, sagte der Prof. »Schleichende Übernahme durch Büros«, kommentierte ich weise. Darüber hatte ich eine Menge gehört. Wohnungen wurden zu Büros umgebaut, weil die Firmen mehr bezahlen konnten als eine Familie.

Der Prof zuckte mit den Schultern und ging auf den Hinterhof. Ich ging ihm nach.

»Wo sie wohl aufgekommen ist«, sagte er leise, während er die Hausfassaden und den asphaltierten Hof auf beiden Seiten des Tores musterte. Das hätte ich natürlich auch gern gewusst. Aber nirgendwo sahen wir einen Anhaltspunkt. Im zweiten Stock stand kein Fenster offen. Und auf dem grauen Asphalt gab es nicht einmal einen dunklen Flecken.

»Es muss doch ganz viel Blut gegeben haben!« sagte der Prof. »Ja, sicher. Aber …«

Weiter kam ich nicht, denn ich wurde von einer kräftigen Stimme überschrien, die dermaßen losbrüllte, dass es im Hinterhof wider hallte: »Ja, was wollt ihr denn hier, Jungs? Macht sofort, dass ihr von hier fortkommt! Wir haben hier schon genug Ärger gehabt!« Bei der Stimme hätte der Mann zwei Meter zehn groß und dick wie eine schwangere Elefantenkuh sein müssen. In Wirklichkeit stammte das heisere Gebrüll von einem winzig kleinen Mann in grauem Lagerkittel. Mitten auf dem Hof war ein kleiner Verschlag aufgebaut worden, in dem normalerweise wohl die Mülltonnen standen, und jetzt stand er neben diesem Verschlag. Die Sonne strahlte von einem wolkenlosen Himmel und ließ seinen haarlosen Schädel funkeln.

»Meine Güte«, murmelte ich. »Dieser kleine Affe könnte sich doch im Oslofjord als Nebelhorn anstellen lassen!« Der Prof warf ein Zitronenbonbon ein. »Stimmt. Jetzt kommt er. Wollen mal sehen, ob er aus nächster Nähe auch noch so große Töne spuckt.«

Das Männlein kam über den Asphalt gerannt. Sein grauer Lagerkittel, der klar verriet, dass er hier der Hausmeister war, flatterte hinter ihm her.

»Na los, zum Teufel!« Er blieb vor mir stehen und packte meine Schulter. Ich schüttelte seine Hand ab.

Er starrte wütend erst mich an, dann den Prof und dann wieder mich. Kleine Schweißperlen sammelten sich auf seinem blanken Schädel und auf seiner Oberlippe. Seine Augen waren groß und feucht, wie bei einem Nachttier, das irgendwer in den hellen Sonnenschein geschleudert hat.

»Immer mit der Ruhe«, sagte ich. »Wir haben wirklich nicht vor, Ihre Müllbude zu klauen, falls Sie das annehmen sollten.« Der Prof kicherte.

»Außerdem steht draußen am Tor kein Schild, dass es verboten ist, hier jemanden zu besuchen.«

Jetzt war er stocksauer, das konnte ich sehen. Kleine Speichelblasen pressten sich aus seinen Mundwinkeln, und seine Augen wurden immer größer. Aber gleichzeitig war er auch unsicher. Er konnte ja schließlich nicht total austicken, es konnte sich ja herausstellen, dass wir wirklich nur Tante, Onkel oder so was besuchen wollten. »Reg dich ab, du!« sagte er und blickte zu mir herauf. »Und wen wollt ihr also besuchen?«

Ich wollte gerade etwas von »Pettersen« oder »Hansen« sagen, aber nun übernahm der Prof die Führung. Er stupste mich an und wandte sich an den Hausmeister. Und sobald der Alte dem Prof gegenüberstand, schien er sich ein wenig zu entspannen. Die beiden konnten einander jedenfalls ohne allzu große Probleme ins Auge schauen.

»Tut mir leid«, begann der Prof. »Wir wollten keine so große Klappe führen, aber wir sind einfach außer uns. Die, die sich gestern Abend hier aus dem Fenster gestürzt hat, ist eine gute Freundin von uns. Ja, sie wird überleben, das ist immerhin schon etwas. Aber … wir wohnen hier gleich um die Ecke, und wir haben hier hereingeschaut, weil wir einfach ziemlich neugierig sind. Wir haben gar nicht gewusst, dass sie überhaupt hier im Haus etwas zu erledigen hatte. Sie wohnt in Bjølsen, und soviel wir wissen, kennt sie hier in diesen Häusern keine Menschenseele.« Aus dem kleinen Mann schien einfach die Luft herauszugehen. Er wurde noch kleiner, und seine feuchten Augen nahmen einen abwesenden Ausdruck an. »Ach, sie überlebt also … es war ja ganz entsetzlich. Ich habe noch nie … So was tut man einfach nicht. So was darf man einfach nicht tun! Und sie war doch noch so jung. Sie kann doch nicht älter sein als …«

»Fünfzehn«, sagte ich. »Und sie ist immer noch bewusstlos. Und für uns ist es natürlich wichtig, herauszufinden, wie sie auf eine so verrückte Idee kommen konnte. Vielleicht können Sie …«

»Ich habe geschlafen!« sagte er scharf, als ob ich ihn beschuldigt hätte, die Frau aus dem zweiten Stock gestoßen zu haben. »Wollte nach dem Essen ein kleines Nickerchen machen. Meine Frau hat mich gegen fünf geweckt. Hat gesagt, im Haus wäre irgendwas passiert. Ich zum Fenster. Viele Leute, Geheul und Geschrei. Hansen aus dem ersten hat mir zugerufen, ich sollte einen Krankenwagen holen, also hab ich mich zuerst darum gekümmert. Dann bin ich zu den anderen nach unten gerannt. Ich bin schon seit vielen Jahren beim Roten Kreuz, und ich habe natürlich gesehen, dass es schlimm um sie stand. Ich konnte jedenfalls verhindern, dass irgendwer sie anfasste, das ist in der Regel der größte Fehler, der an einem Unfallort begangen wird. In diesem Fall war ja klar, dass sie sich alles mögliche gebrochen hatte, und deshalb …«

»Aus welchem Fenster ist sie gesprungen?« fragte ich. Ich konnte jetzt einfach keinen Vortrag darüber ertragen, wie viel Durchblick dieser Irrwisch hatte. Meine Erfahrung mit Hausmeistern hat mir beigebracht, dass sie in der Regel Weltmeister in den allermeisten Klassen sind.

Er sah mich leicht sauer an, dann zeigte er mit einem nikotingelben Zeigefinger auf den Teil des Hauses, in dem die Wohnungen lagen. »Aus dem Fenster da oben. Im zweiten Treppenhaus.« Der Prof stieß einen Pfiff aus. »Dann muss sie doch irgendwen hier im Haus besucht haben.«

»Sie hat durchaus niemanden besucht«, erklärte der Hausmeister. »Ich kenne schließlich alle, die hier wohnen. Alles ordentliche Leute. Im zweiten wohnen Hansens, und weder er noch Frau Hansen hatten die Kleine je vorher gesehen. Und niemand hat etwas auf der Treppe gehört, niemand hat jemanden eingelassen. Ich habe der Polizei alles erzählt. Wir haben der Polizei alles erzählt. Denn die kamen natürlich sofort angestürzt. Als ob die etwas machen könnten. Oder als ob hier von einem Verbrechen die Rede wäre.«

»Routine«, erklärte der Prof fachmännisch. »Das ist das übliche Vorgehen bei einem Selbstmordversuch.«

»Kann schon sein. Aber wie gesagt, hier wohnen nur ordentliche Leute, und wir …«

»Stecken Sie sich Ihre ordentlichen Leute doch sonst wohin!« rief ich. »Mir wird schlecht von Ihrem Gefasel, Sie alter Trottel! Sie sabbeln hier herum, als ob Katja Sie irgendwie beleidigt hätte. Als ob sie eine Idylle zerstört hätte.«

Er war schneller, als ich gedacht hatte. Ich erntete eine Ohrfeige, bei der ich Sterne sah.

»Komm mir bloß nicht in diesem Ton! So kannst du nicht mit einem Erwachsenen reden. Und jetzt raus hier.« Ich wollte auf ihn losgehen, aber der Prof kam dazwischen. »So, jetzt immer mit der Ruhe, Leute!« Er zog mich von dem Graukittel weg und redete gleichzeitig über die Schulter auf ihn ein. »Ist schon in Ordnung, wir hauen ab. Aber wir kommen zurück. Und das können Sie uns nicht verbieten. Solange wir nichts anderes tun als uns einfach umzusehen, müssen Sie die Klappe halten. Ihnen gehört das Haus nicht, auch wenn das sicher Ihr großer Traum ist.« Er ließ mich erst draußen auf der Straße wieder los. »Meine Fresse, du bist ja vielleicht ein Zornteufel.«

»Ich kann so aufgeblasene Typen nicht vertragen«, sagte ich genervt.

»Aber vielleicht hätten wir noch mehr aus ihm rausholen können«, meinte der Prof ebenso genervt. »Aber du musst ja um jeden Preis in jedes erreichbare Fettnäpfchen treten. Jetzt haben wir einen Feind, wo wir vielleicht einen Verbündeten gebraucht hätten.«

»Ich verbünde mich nicht mit Idioten!« erklärte ich vergrätzt. »Du musst doch kapieren, zum Kranich, dass dieser Heini nicht den geringsten Durchblick hat.«

»Vielleicht nicht«, antwortete der Prof. »Schließlich hat er ja gepennt, als es passiert ist. Aber jedenfalls finde ich es interessant, dass er gesagt hat, sie wäre aus dem Treppenhaus im Wohnungsflügel gesprungen.«

»Stell dir vor, davon war ich fast ausgegangen«, sagte ich. »Denn wenn sie aus einer der Wohnungen gehüpft wäre, dann wäre an der ganzen Sache doch kein Rätsel mehr.«

»Stimmt. Aber sie hätte doch auch aus dem Büroflügel springen können.«

»Am Samstagnachmittag? Hierzulande geht samstagnachmittags kein Mensch ins Büro. Und wenn doch irgendwer ein paar Überstunden einlegt, dann weiß ich immer noch nicht, was Katja damit am Hut haben soll.«

»Nein. Aber deshalb schnüffeln wir ja schließlich ein bisschen herum, nicht wahr? Weil wir die ganze Kiste einfach nicht durch schauen. Und wenn du dem Hausmeister nicht so schnell ins falsche Halsloch geraten wärst, hätte ich mir die Umgebung da oben gern sehr viel ausführlicher angesehen.«

»Na gut«, sagte ich. »Aber sie ist ja nun mal nicht aus dem Büroflügel gesprungen. Warum nervst du also noch herum?«

»Bisher können wir uns nur auf den Hausmeister verlassen«, antwortete der Prof ruhig. »Aber du bist vielleicht hundertprozentig von dem überzeugt, was er erzählt hat?«

»Du hast gewonnen, Prof! Ich hab mich mal wieder lächerlich gemacht. Tut mir leid. Kann ich meine Ehre irgendwie retten?«

»Aber sicher!« sagte der Prof. »Das heißt, wenn du Knete hast. Ich wünsch mir einen Big Mac und eine Cola.« Der Wunsch vom Prof wurde erfüllt. Vielleicht, weil er so ziemlich mit meinen eigenen Wünschen übereinstimmte. »Eigentlich sollten wir damit aufhören«, sagte ich mit vollem Mund. »Hamburger fressen, meine ich. Jedenfalls hab ich gelesen, dass sie den Regenwald umnieten, um Weideland für die Rinder zu schaffen, aus denen dann am Ende diese Frikadellen werden.«

»Das stimmt schon«, meinte der Prof. »Bloß schmecken sie so verdammt gut.«

»Das schon. Aber wenn der Regenwald verschwindet, dann wächst dieses Loch in dieser Oxonschicht, und dann …«

»Ozonschicht«, korrigierte der Prof. »Und dann geht alles den Bach runter. Ja, das weiß ich. Okay, wir geben die Hamburger auf. Hast du noch Kohle für ein Eis?«

Ich musste über ihn lachen. »Jetzt reicht's, Dicker. Treib mich nicht ganz in den Ruin. Lass uns lieber überlegen, wie wir weitermachen. Meinst du, es ist etwas faul an diesem Selbstmordversuch?«

Der Prof warf den letzten Bissen ein und nahm einen Schluck Cola. »Es ist immer etwas faul, wenn irgendwer versucht, auf diese Weise Schluss zu machen. Ich würde mir, wie gesagt, dieses Haus gern genauer ansehen. Weiß nicht so recht, was ich da eigentlich suchen will, aber trotzdem.«

»Na, dann machen wir das eben«, sagte ich.

»Nein, noch nicht. Wir warten ein bisschen. Es ist Sonntag, und diese Hausmeisterseele macht bestimmt in zwei Stunden Feier Abend. Wir warten, bis er zur Ruhe gegangen ist.«

»Können wir in der Zwischenzeit etwas anderes tun?«

»Ja. Aber ich weiß nicht, wie wir das schaffen sollen. Ich glaube, es wäre ziemlich interessant, ein paar Worte mit Katjas Anhang zu wechseln.«

»Ach Herrgott!« sagte ich. »Du kannst dir doch denken, wie's bei denen im Moment aussieht. Die müssen doch total kaputt sein. Und es bringt auch nichts, wenn wir einfach klingeln und so tun, als hätten wir keine Ahnung, was passiert ist. Ein so guter Schauspieler bin ich einfach nicht.«

»Ich auch nicht«, meinte der Prof nachdenklich. »Außerdem weiß ich nicht einmal, was wir sie fragen könnten. Nein, das muss ich mir aus dem Kopf schlagen … Aber wart mal, ich hab eine Idee!« Er wühlte in der Innentasche seiner Jeansjacke herum, fischte einen Terminkalender heraus und blätterte darin hin und her. »Tonje. Soviel ich weiß, ist sie Katjas Nachbarin.«

»Tonje!« wiederholte ich ungläubig. »Was zum Henker willst du denn mit der? Ist das nicht diese christliche Else aus der C?«

»Stimmt«, antwortete der Prof ruhig und blätterte weiter. »Tonje ist diese christliche Else aus der C. Und ich kenne sie aus der Theatergruppe. Du brauchst deine schmutzige Phantasie gar nicht erst anzustrengen, wir haben eine rein professionelle Beziehung. Mal sehen … hier hab ich sie. Tonje Strom. Hast du mal Kohle zum Telefonieren?«

Ich seufzte. »Du hast die normalen Eltern, Prof. Du solltest mir alles ausgeben.«

Ich warf ein paar Kronen auf den Tisch, und der Prof latschte los und suchte die nächste Telefonzelle.

Tonje, dachte ich. Was kann die uns denn zu bieten haben? Und soviel ich wusste, war sie auch nicht gerade Katjas Busenfreundin gewesen, und wenn sie hundertmal in ihrer Nachbarschaft wohnte. Tonje war, wie die anderen aus ihrem Verein, nur mit Leuten zusammen, die genau dasselbe glaubten wie sie, nämlich, dass Jesus die Sünden der ganzen Welt auf seiner Schulter trägt. Seit dem ersten Schuljahr hatte ich versucht zu begreifen, was sie damit meinten, aber das war mir nicht gelungen. Dass Jesus für mich, für Peter Pettersen, ungefähr zweitausend Jahre vor meiner Geburt ans Kreuz gegangen sein sollte, kam mir direkt unwahrscheinlich vor. Ich zerbrach mir über solche Dinge den Kopf, bis der Prof wieder hereingestürzt kam. »Doch, sie war zu Hause. Sogar allein. Wir können ruhig vorbeischauen.«

»Wie aufregend«, sagte ich. »Das wird bestimmt ein wilder Nachmittag.«

Der Prof sah mich an. »Jetzt bist du blöd. Jetzt bist du einfach nur blöd.«

»Gehen wir«, sagte ich.

Wir hatten kein Geld für die Straßenbahn, und deshalb gingen wir vom Zentrum nach Bjølsen hinauf. Früher waren wir immer schwarzgefahren, aber nachdem ich innerhalb von drei Monaten zweimal erwischt worden war, hatten meine Eltern mir ganz unmissverständlich befohlen, damit aufzuhören. Markveien lag still in der Sonntagssonne, genau wie vorhin. Beim Restaurant Beckers standen zwei Sniffer und schwankten, und der Prof und ich wechselten sicherheitshalber auf die andere Straßenseite über.

»Wollen wir denn nicht gleich einen Blick auf 46 werfen?« regte ich an. »Statt zum Gemeindekaffeeklatsch bei der Schauspielerfreundin zu stürzen?«

»Nein, habe ich gesagt!« erklärte der Prof gereizt. »Es ist noch zu früh.«

Wir näherten uns dem Eingang von 46, und ich warf einen Blick auf den dunklen Durchgang, der auf den Hinterhof führte. Plötzlich knallte dort drinnen eine Tür, und ich sah eine Gestalt rasch auf uns zukommen. Absätze klapperten über den Betonboden. Wir gingen weiter, aber ich schaute mich nach einigen Sekunden um. Eine Frau im Alter meiner Mutter stand vor dem Haus und sah sich nach beiden Seiten um. Sie wirkte gestresst und schnappte tief nach Luft. Sie trug eine hellblaue Hose und eine weiße Bluse, und ihre langen kastanienbraunen Haare fielen ihr auf die Schultern. Dafür, dass sie über vierzig war, sah sie ziemlich scharf aus. Ohne das selber zu merken, war ich stehengeblieben. Der Prof legte ebenfalls eine Bremsung hin und drehte sich um. »Was glotzt du denn so?«

»Auf die Frau da unten. Ist gerade aus Nr. 46 gekommen. Wirkt gestresst und erschöpft.«

Der Prof sagte nichts dazu, sondern suchte in seinen Taschen nach seiner unvermeidlichen Dropstüte. Die Frau stand immer noch unschlüssig vor dem Haus, als ob sie sich nicht entscheiden könnte, welche Richtung sie einschlagen sollte. Dann hörten wir, dass etwas weiter unten auf der Straße ein Wagen angelassen wurde, und gleich darauf hielt ein weißer Golf vor der Frau. Sie riss die Tür auf und ließ sich geradezu hineinfallen. Das Auto gab Gas und fuhr die Straße hinauf.

Ich glotzte mit offenem Mund hinterher.

»Was ist denn in dich gefahren?« fragte der Prof. »Jetzt mach schon, ich hab Tonje gesagt, wir wären in einer halben Stunde bei ihr.«

»Bist du blind? Hast du nicht gesehen, wer in diesem Golf hinter dem Steuer gesessen hat?«

»Nix. Aber ich hab mir die Nummer gemerkt, falls die von Bedeutung sein kann.«

»Kann schon sein«, erwiderte ich. »Schließlich hat ihn die Frau aus Kairo gefahren.«

»Was? Bist du sicher?«

»Hundertfünfundzwanzig Prozent. Die Frau ist schließlich nicht die Sorte, die man so schnell vergisst.«

»Ja, zum Henker«, sagte der Prof nachdenklich. »Zufall? Was glaubst du?«

»Ich glaube nichts. Ich sage nur, was ich gesehen habe.«

»Hat sie dich gesehen? Hat sie dich erkannt?«

»Ja, sie hat mich gesehen. Da bin ich ganz sicher. Aber sie hatte etwas … Seltsames. Sie wirkte irgendwie komisch.«

»Komisch? Wieso komisch?«

Aber ich konnte dem Prof nicht erklären, wie ich das meinte. Vielleicht hatte ich es mir ja auch nur eingebildet. Aber als das Auto an uns vorbeifuhr, waren die schwarzen Augen der Frau aus Kairo einige Sekunden auf mich gerichtet gewesen. Sie hatte mir voll in die Augen gestarrt. Und ihr Blick und ihr Gesicht waren irgend wie … total flach gewesen. Leer. Nicht feindlich, nicht freundlich, ganz einfach leer und komisch. Und deshalb hatte ich ein kribbeln des Gefühl im Bauch.