Tonje sah ziemlich fertig aus. Blass und mager war sie immer schon gewesen, aber nun hatte sie sich auch noch blaue Ringe unter den Augen zugelegt. Ihre dunklen Haare hingen fettig und ungepflegt auf ihre schmalen Schultern. Sie unterdrückte ein Gähnen, als sie uns in die Wohnung ließ.
»Ich habe heute Nacht einfach nicht so gut geschlafen.«
»Ich auch nicht«, sagte der Prof.
»Gibt's was Neues?«
»Soviel ich weiß, nicht. Es ist ja nicht mal eine Stunde her, dass wir beide telefoniert haben.«
»Tut mir leid. Ich bin wohl nicht ganz bei mir. Hab vorhin versucht, im Krankenhaus anzurufen, aber sie verraten mir natürlich kein Wort, weil ich keine Verwandte bin. Wollt ihr eine Cola?«
»Ja, bitte«, sagte ich.
Der Prof und ich gingen in Tonjes Zimmer und setzten uns aufs Bett. Blaue Tagesdecke. Weiße Wände, an denen neben Postern von diversen Boygroups Bilder von Jesus hingen. Komisch, hier in der Zelle von Schwester Tonje zu sitzen, einer Frau, die ich nur oberflächlich vom Schulhof kannte und mit der ich kaum je ein Wort gewechselt hatte. Hier schlief sie also jede Nacht und träumte von Erlösung und ewigem Leben da oben im Blauen. Ich fühlte mich nicht ganz wohl in meiner Haut.
Tonje brachte ein Tablett mit drei Gläsern Cola. »Was kann einen Menschen bloß dazu bringen, so etwas zu tun?«
»Keine Ahnung«, sagte ich und nahm mir ein Glas.
»Und du hast auch keine Idee?« fragte der Prof und warf ihr einen schrägen Blick zu.
Sie schüttelte den Kopf und setzte sich an ihren Schreibtisch. »Katja war ja immer schon ein bisschen seltsam. Es war schwer, warm mit ihr zu werden. Sie sagt nicht viel.«
»Ich dachte, sie hätte sich in der letzten Zeit ziemlich verändert?« fragte der Prof. »Hat sich mehr gehenlassen, gewissermaßen?«
»Schwer zu sagen. Doch, sie hat sich verändert. Seit Weihnachten. Hat sogar an zwei von unseren Treffen teilgenommen.«
»Beim Schülerbund?« Ich hatte nicht so restlos überrascht wirken wollen, aber meine Stimme verriet mich.
»Ist das vielleicht so komisch?« Tonje sah mich sauer an.
»Nein, nein«, beteuerte ich eilig. »Ich meinte nur …«
»Du meinst nur, dass wir eine Bande von tristen Blödis sind, die Tanzen und Feiern für Sünde halten, was?« Jetzt lächelte sie sogar.
Ich gab keine Antwort. Genau das hatte ich geglaubt.
Der Prof übernahm. »Sie ist also zweimal bei euch aufgetaucht?
Warum ist sie danach weggeblieben?«
»Wir bedrängen niemanden. Jesus ist für alle da, die das wollen. Viele von uns brauchen Zeit, nicht wahr? Zeit, um sich alles zu überlegen. Gott wirkt in uns auf so viele verschiedene Weisen. Aber ich hatte ehrlich gesagt damit gerechnet, dass Katja zu uns zurückkommen würde, statt zu …«
»Statt sich mit K.-o.-Karlsen einzulassen?« warf ich ein.
Tonje schnitt eine Grimasse. »Dieser Blödmann. Ist das denn wahr?«
»Aber deshalb ist sie wohl kaum gesprungen«, sagte ich. »Wenn ich das richtig sehe, dann haben sie nur mal eben Händchen gehalten.«
»Das kann ich mir vorstellen«, schnaubte sie. »Sicher interessiert er sich vor allem für ihre Hand.«
»Sei jetzt nicht ungerecht«, sagte der Prof. »Tom hat auch seine guten Seiten.«
Tonje sagte dazu nichts. Sie drehte ihr Glas zwischen den Fingern und starrte das Mathebuch an, das vor ihr auf dem Schreibtisch lag.
»Und es kann nichts mit Familienproblemen zu tun haben?« fragte ich, um die Stille zu brechen.
Tonje zuckte mit den Schultern. »Hab ich mir auch überlegt. Aber ihre Eltern kommen mir vollkommen normal vor.«
»Vieles ist aber nicht so, wie es aussieht«, meinte ich. »Fast nichts ist so, wie es aussieht.« Mir fiel ein, was mein Vater über Inzest gesagt hatte. »Vielleicht hat ihr Vater …«
»Jetzt hör aber auf! Hansteen? Unmöglich. Wenn du solche Gerüchte verbreitest, dann bist du ein verdammt mieser Kerl.«
»Ich verbreite ja wohl keine Gerüchte«, erklärte ich wütend.
»Ich begreif sowieso nicht, wieso ihr eure Nasen in diese Sache stecken wollt. Wenn ihr wieder Detektiv spielen wollt, dann sucht euch was anderes zum Schnüffeln. Was mit Katja passiert ist, ist nur schrecklich, und ihr könnt es mit eurer Schnüffelei nur noch schlimmer machen.«
»Wir schnüffeln nicht«, sagte der Prof. »Aber verflixt noch mal, es ist ja wohl nicht schlimm, wenn man sich ein bisschen füreinander interessiert? Wenn wir alle, die wir Katja jahrelang fast jeden Tag gesehen haben, uns ein bisschen mehr dafür interessiert hätten, wer sie überhaupt ist, dann wäre das hier vielleicht überhaupt nicht geschehen! Wie einsam muss man sich wohl fühlen, um aus einem Fenster im zweiten Stock zu springen? Wenn du das machst, dann hast du überhaupt nichts mehr. Irgendwie sind wir allesamt schuld daran.«
Tonje schlug wieder die Augen nieder. »Stimmt. Natürlich hast du recht, Prof. Aber ich meine - geschehen ist geschehen. Wir können die Zeit doch nicht zurückdrehen.«
»Nein«, sagte ich. »Aber wenn wir an sie herankommen, wenn wir herausfinden können, was dahintersteckt, dann springt sie vielleicht kein zweites mal.« Ich stand auf und ging ans Fenster. »Wo wohnt sie eigentlich? Hier im Haus?«
»Nein. Gegenüber. In Nr. 14.« Tonje stand auf und zeigte mir das Haus. »Da, im ersten Stock.«
Es war ein ziemlich verdrecktes Haus. Mehr gab's dazu nicht zu sagen. In der Straße unter mir donnerten die Autos vorüber, und auf dem Bürgersteig gingen sommerlich gekleidete Leute im schönen Wetter spazieren. Junge Mädchen wackelten in ihren Sommerkleidern mit dem Hintern, und Typen spielten den großen Max und zeigten unter den offenen Hemden ihren Brustkasten. Und: Eine Frau in blauer Hose und weißer Bluse kam über den Bürgersteig gerannt. Lange, kastanienbraune Haare. Mit der rechten Hand wühlte sie in einer leichten ledernen Schultertasche, und als sie bei der Haustür von Nr. 14 angekommen war, blieb sie stehen und zog ein Schlüsselbund heraus.
»Prof«, sagte ich aufgeregt. »Erkennst du die Frau da, oder nicht?« Der Prof stand fast sofort neben mir. »Himmel! Die Frau aus Markveien!«
Tonje drängte sich zwischen uns. »Die Arme«, sagte sie. »Sie war sicher im Krankenhaus.«
»Kennst du sie?« fragten der Prof und ich wie aus einem Munde. »Aber sicher. Das ist Susanne. Katjas Mutter.«
»Ja, was zum Teufel!« rutschte es aus mir heraus. »Ich meine …«
»Du meinst wahrscheinlich genau, was du gesagt hast«, sagte Tonje. »Was ist eigentlich so seltsam daran, wenn Katjas Mutter ihr eigenes Haus betritt?«
Ich setzte zu einer Erklärung an, aber der Prof schüttelte vorsichtig den Kopf. »Nichts«, sagte ich.