Über den Dachboden

Wir warteten bis nach halb zehn, ehe wir nach Markveien 46 zurückkehrten. Eine samtige blaue Finsternis ruhte über Grünerløkka, den Straßen, den alten Häusern, den geparkten Autos, den Menschen. Es duftete nach warmem Asphalt und grünem Gras, und es kam mir ganz unglaublich vor, dass jemand auf die Idee kommen konnte, sich umzubringen, wenn sich die Welt von dieser Seite zeigte.

Der Prof und ich hatten alles vorher besprochen, deshalb sagten wir kein Wort, als wir durch das Tor gingen. Vor uns lag der Hinterhof mit den Schaukeln und dem Verschlag, in dem der Müll aufbewahrt wurde - kein Mensch war zu sehen, aber aus irgendeiner Wohnung strömte Musik in die Sommernacht.

Der Prof studierte die Namen neben den Klingelknöpfen und schellte dann bei Hansen im ersten Stock.

»Benimm dich jetzt ordentlich«, sagte ich. »Vergiss nicht, hier wohnen nur ordentliche Leute.«

Er gab keine Antwort. Er legte den Kopf schräg und horchte. Dann ertönte das Geräusch, auf das wir beide gewartet hatten. Ein leises Summen verriet, dass oben jemand auf den Knopf gedrückt hatte, der unten das Türschloss öffnete. Wir drückten gegen die Tür und stolperten in den Hausflur. Der Prof stieg die Treppe hinauf, während ich kurz stehenblieb und mich umsah. Unter der Treppe befand sich ein dunkler Zwischenraum, in dem jemand einen Kinderwagen abgestellt hatte. Ich zog den Wagen so weit heraus, dass ich mich dahinter quetschen konnte. Ich musste in die Hocke gehen, nahm aber an, dass dieses Versteck für die kurze Zeit ausreichen würde. Über mir hörte ich, wie sich der Prof als Ole Olsen vorstellte, Manager der Punkband Die gescheiterten Existenzen, er erkundigte sich, ob Herr und Frau Hansen nicht einen kleinen Beitrag zur neuen Verstärkeranlage spendieren würde. Was sie darauf antworteten, konnte ich nicht verstehen, sie sprachen nicht so laut wie der Prof, sie fauchten. Dann wurde die Tür mit einem Knall zugeschlagen, und ich hoffte, der Prof hätte rechtzeitig den Rüssel eingezogen. Mit oder ohne Nase, er kam jedenfalls die Treppe herunter, und ich sah ihn ganz kurz, als er die Haustür aufriss. Ich wartete. Sah auf den Leuchtzeiger meiner Uhr und wartete. Der Zeiger bewegte sich unglaublich langsam. Wir hatten ausgemacht, dass ich mindestens zehn Minuten warten sollte, ehe ich mich an die Operation Tatort machte, aber ich wäre nie auf diese Abmachung hereingefallen, wenn ich geahnt hätte, wie lange zehn Minuten sein können, wenn man mit hämmernder Blase dahockt und ziemlich nervös ist.

Was suchte ich denn eigentlich? Ich wusste es nicht. Das einzige, was ganz sicher feststand, war, dass ich das Fenster sehen wollte, aus dem Katja gesprungen war- und dass ich dieses seltsame Ziehen im Bauch hatte, das mir verriet, dass der Prof und ich auf irgendeiner Spur waren. Ich hatte dieses Gefühl schon öfter gehabt, und es trog mich nie. Wenn sich mein Magen auf diese Weise umdrehte und verkrampfte, dann braute sich irgend etwas zusammen. Nach acht Minuten konnte ich es nicht mehr aushalten. Ich hatte schon Krämpfe in Oberschenkel und Waden. Ich aalte mich aus dem engen, dunklen Raum hinter dem Kinderwagen heraus und streifte meine Turnschuhe ab. Beförderte sie mit einem Tritt ganz dicht an die Wand. Horchte, ehe ich die Treppe hochging. Absolute Stille. Dann rannte ich wie ein Besessener auf Socken nach oben. Das Fenster im zweiten Stock hatte absolut nichts Besonderes. Ein frisch eingepasstes Doppelfenster mit weißem Rahmen. Dass Katja es gestern weit aufgerissen hatte und auf die Fensterbank geklettert war, kam mir irgendwie total absurd vor. Auf der Fensterbank war nichts zu sehen. Keine verschwitzten Fingerabdrücke auf der Fensterscheibe oder am Rahmen. Die ordentlichen Leute hatten wohl nach Katjas Sturz gleich das Fenster geputzt. Ich beugte mich vor und sah in den Hinterhof hinunter. Dieses Bild, Asphalt, Schaukeln, die frischgestrichenen Mauern, das hatte Katja gehofft, sollte das letzte sein, was sie je sehen würde … Stimmen! Die Angst versetzte mir einen Stich in den Magen. Die Stimmen wurden deutlicher, jemand näherte sich. In Socken auf frischer Tat ertappt zu werden, stand nicht besonders weit oben auf meinem Wunschzettel.

Die Stimmen mussten aus einer der beiden Wohnungen hier im zweiten Stock kommen. Irgendwer bedankte sich offenbar gerade für den netten Abend und hoffte auf ein baldiges Wiedersehen. Das übliche Geplapper in der Diele, vor dem Abmarsch. Ich konnte entweder die Treppe hinunterstürzen oder mich auf der kurzen Treppe verstecken, die zum Dachboden hinter mir führte. Leichte Entscheidung. Ich hatte in wenigen Sekunden die Dachbodentür erreicht und krümmte mich zusammen. Hier würden sie mich nicht entdecken können, falls sie nichts auf dem Boden zu erledigen hatten. Aber dann würde ich in der Falle sitzen. So dramatisch wurde es zum Glück nicht. Unter mir öffnete sich eine Tür, und eine Männerstimme sagte »macht's gut« und »war nett heute«. Dann wurde eine Tür zugeschlagen, und ich hörte, wie seine Schritte sich nach unten entfernten. Ich lehnte mich zurück, seufzte erleichtert auf - und fiel glatt auf den Rücken. Denn die Bodentür ging auf. Die Tür war nagelneu, und anstelle eines Schlosses hatte sie nur ein rundes Loch. Wahrscheinlich waren die Handwerker hier im Haus noch nicht ganz fertig. Ich stand vorsichtig auf und betrat den Boden.

Der war riesig. Kreuz und quer waren Wäscheleinen gespannt. Sie wurden im Moment zwar nicht benutzt, aber sie hingen voll von Wäscheklammern. Die Wäscheklammern an den langen Leinen erinnerten mich an Zugvögel im Herbst. Obwohl es draußen langsam dunkel wurde, sah ich hier oben noch gut. Vier große neue Fenster im Dach ließen genug Licht hereinkommen, ich brauchte den Lichtschalter rechts von mir nicht zu drücken, um mich zurechtzufinden.

Mir fiel auf, dass hier oben alles extrem ordentlich war. Nicht der Typ Dachboden, für den ich eine solche Schwäche habe, voller Schrott und altem Kram, ein Dachboden, in dem man auf Entdeckungsreisen gehen kann, in dem es verborgene Schätze zu finden gibt. Ich nahm an, dass die Hausbewohner auch hier oben klar Schiff gemacht hatten, wo die ganze Bude ja schon von oben bis unten frisch renoviert wurde. Der einzige Gegenstand hier oben, abgesehen von ordentlich aufeinandergestapelten Kisten und einigen zusammengerollten Teppichen, war eine Tischtennisplatte unter einem der Fenster. Die grüngestrichene Platte erinnerte mich an einen verlassenen Fußballplatz. Ich kam mir übrigens auch ganz schön verlassen vor. Ich hob einen weißen Ball vom Boden auf und quetschte ihn zusammen.

Dann sah ich, dass der Boden noch einen anderen Ausgang hatte. Zehn Meter von mir entfernt befand sich genau die gleiche Tür, und auch sie hatte anstelle eines Schlosses ein rundes Loch. Der Büroflügel, dachte ich.

Die Treppe sah genauso aus wie die, die ich im anderen Flügel hinaufgestiegen war, aber auf dieser Seite waren die Handwerker ganz offensichtlich noch zugange. An den Wänden lehnten Platten, Bretter, frisch ausgebaute Fensterrahmen und alte Türen. Es roch nach Farbe und Kitt. Die Treppenstufen waren von feinem Kalk staub bedeckt.

In dem weißen Kalkstaub waren massenhaft Spuren zu sehen. Ich ging die Treppe zum zweiten Stock hinunter und untersuchte das Fenster ebenso sorgfältig wie das Fenster im anderen Flügel. Hier gab es haufenweise Fingerabdrücke. Die Fenster waren neu, und ich nahm an, dass die Schreiner, die sie eingesetzt hatten, diese Fingerabdrücke hinterlassen hatten. Wenn ich mehr Ahnung von solchen Abdrücken gehabt hätte - und ein Archiv über Oslos Schülerinnen und Handwerker-, dann hätte ich feststellen können, wer die Fensterscheibe begrapscht hatte, aber das hatte ich ja nun mal nicht. Nicht einmal der Prof hätte hier mehr herausfinden können als ich.

Hinter mir, rechts und links, fand ich zwei frisch eingesetzte Bürotüren. An die eine Tür war ein Schild mit den Buchstaben Be-Bo geklebt. Auf der anderen sah ich ein Messingschild mit der Aufschrift WWM. Ich hatte keine Ahnung, was Be-Bo oder WWM bedeuten konnten, und es interessierte mich auch nicht weiter. Ich ging in den ersten Stock hinunter. Auch hier gab es frischeingepasste Fenster und ebenso frischeingesetzte Türen. SOFORTBAU und LAS. Unter LAS stand erklärend: Lingus Art Service. Kunstdienst also. Sofortbau war ja klar genug. Ich hatte keinen Bock, ganz nach unten zu gehen, ich nahm an, dass ich über die Firmen, die dort ihre Büros hatten, genauso viel erfahren würde, wenn ich mir unten bei den Klingeln die Namensschilder ansähe.

Deshalb machte ich kehrt und ging wieder zum leeren Dachboden hinaus. Ich hatte gerade den zweiten Stock erreicht, als sich unter mir eine Tür öffnete. Leute von LAS oder SOFORTBAU betraten unten den Flur. Zwei Frauen, sie waren in ein Gespräch vertieft und wirkten aufgeregt und vielleicht ein bisschen sauer. »Werden doch nie fertig«, hörte ich die eine sagen. »Und wenn sie jeden und jeden Tag Überstunden machen. Sogar samstags!«

»Wollen die wohl auch nicht«, meinte die andere, und ich hörte ein Schlüsselbund klappern, als es in eine Tasche gesteckt wurde. »Und warum sollen sie sich auch Stress machen? Die verdienen doch bloß an dieser Verzögerung. Wenn du mich fragst, dann läuft das alles schwarz. Wenn die Stadtsanierung zuständig wäre …« Das andere Frauenzimmer lachte. »Meinst du vielleicht, das wäre eine Garantie? Liest du denn keine Zeitungen mehr? Wenn die Stadt zuständig wäre, dann müssten wir nach der Renovierung bestimmt eine noch höhere Miete zahlen. Wenn jeder einzelne Bonze sein Stück vom Kuchen abhaben will, dann muss der Kuchen sehr viel größer sein, als ihn diese kleine Schwindelfirma backen kann.«

Die andere kicherte, gab aber keine Antwort. Die beiden gingen die Treppe hinunter, und ich blieb mäuschenstill stehen, bis ich hörte, dass die Haustür hinter ihnen zugeschlagen wurde. Ehrlich gesagt, kapierte ich nicht das geringste von dem, was die beiden gesagt hatten, außer dass sie sich wahrscheinlich darüber aufregten, dass die Handwerker die Bude nicht schnell genug in Schwung brachten. Leise wie eine Maus schlich ich mich über den Boden und die Treppen hinunter, stieg in meine Turnschuhe und rannte durch den Torweg. Auch hier war niemand zu sehen. Der Prof war wie verabredet in den Imbiss an der Ecke gegangen. Er schob gerade einen Hamburger ein und trank Cola aus einem Pappbecher.

»Damit hatten wir doch aufgehört?« meinte ich und nahm einen Bissen von seinem Burger.

»Muss langsam auf Entzug gehen«, antwortete der Prof ruhig. »Zu plötzlicher Ausstieg ist nicht gut. Hast du was rausgefunden?«

»Weiß nicht recht.« Ich ging und bestellte einen Chickenburger. »Weißt du eigentlich, wie diese Vögel gequält werden«, rief der Prof. »Sitzen ihr Leben lang in einer Einzelzelle und dürfen nicht mal scharren. Und werden mit Gift und Ätzkram gefüttert.« Ich setzte mich neben ihn.

»Was meinst du damit, dass du nicht weißt, ob du etwas herausgefunden hast?« fragte er und warf die Serviette auf den Boden. »Weiß nicht, ob das, was ich herausgefunden habe, etwas zu bedeuten hat«, erklärte ich mit gefoltertem Piepmatz im Mund. »Überlass mir die Analyse«, sagte der Prof. »Spuck einfach die Tatsachen aus.«

»Okay, okay«, antwortete ich. »Die Tatsachen sind, dass ich meine Schuhe im Erdgeschoß ausgezogen habe und in den zweiten Stock geschlichen bin. Null Spuren zu sehen, nur ein stinknormales Fenster. Wäre fast auf frischer Tat ertappt worden, weil jemand aus einer Wohnung kam, aber ich konnte mich im letzten Moment über die Bodentreppe retten. Als die Luft wieder rein war, habe ich gesehen, dass die Bodentür offen war, es war nämlich noch kein Schloss eingesetzt worden.«

»Und auf dem Boden?«

»Da gab's nur eine Ping-Pong-Platte. Und die interessierte mich nicht weiter, deshalb hab ich mir den anderen Flügel angesehen.« Ich erzählte von Be-Bo und WWM und LAS und SOFORTBAU und von den beiden Frauen, die herumgekakelt hatten, weil alles mögliche zu lange dauerte.

»Hab nicht viel davon gerafft«, erklärte ich sauer. »Glaub nicht, dass das im Grunde so schwer ist«, murmelte der Prof. »Die haben sicher gemeint, dass die Handwerker in dieser Bude schwarz arbeiten. Dass die Gemeinde mit dieser Renovierung nichts zu tun hat. Und für solche Typen lohnt es sich schließlich, sich ein bisschen Zeit zu lassen.«

»Aber warum hat die eine die andere gefragt, ob sie keine Zeitung mehr liest?«

»Weil in der letzten Zeit ziemlich viel über Korruption in der Stadtverwaltung geschrieben worden ist. Über Leute ganz oben in der Verwaltung, die Geld scheffeln, weil sie solche Aufträge Freunden und Bekannten zuschieben, um das mal so zu sagen.«

»Ach so«, sagte ich. »Das begreif ich natürlich. Aber hätte Katja sich aus dem zweiten Stock gestürzt, bloß weil sie herausgefunden hat, dass irgend etwas faul an der Bande ist, die die Bude renovieren soll?«

»Kaum. Aber wir wissen ja auch nicht, ob sie sich freiwillig da hinausgestürzt hat«, meinte der Prof weise. »Weißt du noch genau, was die Frauen gesagt haben?«

Ich wiederholte noch einmal, was ich gehört hatte und versuchte, mich an ihre genauen Worte zu erinnern.

Als ich fertig war, dachte der Prof einige Minuten lang konzentriert nach. »Und wenn sie jeden Tag Überstunden machen, sogar samstags«, sagte er langsam, »sogar samstags!«

»Das haben sie gesagt.«

»Na«, sagte der Prof. »Gestern war ja Samstag.«

»Hat das etwas zu bedeuten?«

»Weiß nicht. Aber es bedeutet vermutlich, dass Leute auf dem Flur waren, als Katja herausgekommen ist, wenn sie niemanden im Wohnflügel besucht hat, sondern eins der Büros auf der anderen Seite. Und wenn sie dann schon entschlossen war, dem ganzen Mist ganz schnell ein Ende zu setzen, dann war es viel einfacher für sie, über den Boden zu laufen und es auf der anderen Seite zu versuchen. Sonst hätte sie ja auf eine Fensterbank in einem Treppenhaus klettern müssen, in dem es von Handwerkern nur so wimmelte.«

»Klingt logisch«, meinte ich. »Aber wenn das so war, wo kann sie dann gewesen sein?«

»Keine Ahnung. Sie kann überall gewesen sein. Die beiden Firmen im Erdgeschoß heißen übrigens Simonsen & Moe und Lunde AG

»Und? Wissen wir etwas über diese Firmen? Haben die vielleicht Dreck am Stecken, was meinst du?«

»Sicher nicht. Aber das lässt sich ja herausfinden. Ich kann zum Bleistift mit meinem Bruder reden.«

»Mit Gøran?« Der Prof nickte.

Gøran ist Journalist beim Dagbladet, und er hat ziemlich viel mit Gewerkschaftskram und anderen Sachen zu tun, die mich nicht die Bohne interessieren. Wenn irgendwer Ahnung von unsauberen Firmen und Schwarzarbeit hat, dann er. Aber ob diese Firmen auch nur das geringste mit unserem Fall zu tun hatten? Ich überlegte mir, dass wir vielleicht Katjas Mutter mit einer dieser Firmen in Verbindung bringen könnten, wenn wir feststellen könnten, was in den verschiedenen Büros so ablief. Das konnte eine wichtige Spur sein. »Alles klar«, sagte ich. »Morgen?« Der Prof nickte. »So bald wie möglich nach der Schule.«