Der Geruch des warmen Blutes ließ Skanga das Wasser im Mund zusammenlaufen. Ihr Magen schmerzte, so lange hatte sie nichts mehr gegessen. Das junge Trollweibchen sah zu, wie ihre beiden Brüder vom Hals des Elches tranken, den ihr Vater erlegt hatte. Sie waren zu gierig. Viel Blut spritzte in den Schnee. Skanga war versucht, sich Klumpen des blutigen Schnees zu holen und in ihrem Mund schmelzen zu lassen. Aber sie würde sich dann wie ein unterwürfiges Hündchen fühlen, das nach den Knochen schnappte, die man ihm zuwarf. Sie wurde oft genug gedemütigt, sie musste es nicht noch selbst tun. Also presste sie eine Faust gegen ihren schmerzenden Magen und wartete.

Blut und Geifer troffen von den breiten Mäulern ihrer Brüder. Jetzt schlugen sie ihre Zähne in das zähe Fleisch des Elchs und rissen ganze Brocken heraus.

»Kal! Mak! Lasst das!« Ihr Vater schlug mit seiner Keule nach den beiden. »Das ist genug. Weg mit euch!« Er zerrte sie von dem Kadaver fort, um dann selbst von dem nun nur noch spärlich tröpfelnden Blut zu kosten. Im Königsstein hätten sie die kostbare Beute über einen Steintrog gehängt und ausbluten lassen. Dort wäre nichts vergeudet worden.

Skanga schloss die Augen und stellte sich vor, wie sie später, wenn Vater und ihre Brüder vollgefressen waren, die runden Knochen des Elchs spalten und sein Mark herauskratzen würde. Ihr Maul füllte sich mit süßem Speichel. Sie öffnete wieder die Augen und sah, wie das Blut im Schnee dampfte. Ihr war ganz schwindlig vor Hunger. Gleich, wenn ihr Vater von dem Elch abließ, dürfte sie das letzte Blut aus den Wunden lecken. Ein wenig Geduld noch, ermahnte sie sich. Am besten sollte sie an etwas anderes denken!

Bald wäre der Winter vorüber. Wenn das Gras durch den Schnee brach, kehrten die großen Herden aus dem Windland in den Norden zurück. Doch noch lag der Frost wie eine eisige Hand über dem Land. Der Winter hatte viel zu früh begonnen und die Herden vor der Zeit nach Süden ziehen lassen. So war es den Jägern unmöglich gewesen, die Vorratshöhlen im Königsstein ausreichend mit Fleisch zu füllen. Vor siebzehn Tagen war die Hälfte der Sippen davongejagt worden. König Gabrog hatte nur die Stärksten behalten. Und alle Weibchen, die schon bewiesen hatten, dass sie fruchtbar waren. So kam es, dass ihre Mutter Bada im Königsstein zurückgeblieben war, während man ihren Vater Hattah mit seinen Welpen Kal und Mak davongejagt hatte. Und sie, Skanga, der der Ruf nachhing, seltsam zu sein. Sie waren die Schwachen. Jene, die man den Wintern opferte, die zu lange währten.

»Komm, nimm dir deinen Teil.« Hattah wischte sich über sein blutiges Maul, und Skanga sah die kümmerlichen Stümpfe seiner gebrochenen Reißzähne. Er hatte für sie gekämpft, um König Gabrog zu zeigen, dass er zu den starken und geschickten Jägern gehörte und seine Sippe leben sollte. Er hatte verloren …

Skanga kroch über gefrorene Erde und Geröll, quer durch die Mulde, in der sie kauerten, und beugte sich über den Elch. Sie schloss kurz die Augen, um mit allen anderen Sinnen zu genießen. Zuerst leckte sie über die Wunden an der Kehle. Das Fell kitzelte ihre Zunge und Lippen. Der Geschmack von Eisen füllte ihren Mund. Eisen, das – zu Klingen geschmiedet – Haut und Fleisch von Trollen versengte. Doch gelöst im Blut war es ein Labsal. Noch dampften die Wunden im Fleisch in der eisigen Winterluft, doch die feinen Schneeflocken, die der Wind vor sich hertrieb, schmolzen schon nicht mehr, wenn sie auf Nüstern und Augen des Elchs fielen.

»Schaffen wir ihn hoch in den Wald«, sagte ihr Vater und zog den Kadaver fort. »Es zieht ein Sturm auf. Die Bäume werden uns schützen.«

»Nein, Vater!« Ein stechender Schmerz fuhr durch ihren Kopf, als sie hinauf zum Waldrand blickte. »Nicht dorthin. Es ist zu nah … Wir sind schon hier zu nah.«

Kal bedachte sie mit einem abfälligen Lächeln. »Weibchen«, sagte er voller Verachtung. Er war der ältere ihrer Brüder und hatte im letzten Sommer seine ersten Schmucknarben empfangen, eine Schlange, die sich um seinen rechten Oberschenkel wand. Die Wunden waren schlecht verheilt. Sie sollten fleischige Wülste auf der Haut bilden. Stattdessen hatten sie sich entzündet und Krater in sein Muskelfleisch gefressen. Das galt als schlechtes Omen. Kal überspielte das, indem er sich bei jeder Gelegenheit besonders tapfer gab.

»Hattest du ein Gesicht?«, fragte ihr Vater ernst.

Skanga schüttelte den Kopf. Die Gabe hatte sie verlassen, seit sie vor Kurga, die Schamanin des Königs, gebracht worden war. Ihre ganze Kindheit über hatte Skanga Gesichter gehabt. Sie hatte Ereignisse gesehen, bevor sie eintraten. Meist Unglücksfälle. Jedes Mal hatten sich die Gesichter durch stechende Kopfschmerzen angekündigt. Oft hatte auch ihre Nase zu bluten begonnen. Aber seit Kurga sie untersucht und mit einem spitzen Vogelknochen unter ihr linkes Ohr gestochen hatte, war die Gabe verschwunden. Nur die Kopfschmerzen und das Nasenbluten waren Skanga geblieben. Aber am schlimmsten war für Skanga, dass ihr Vater beschämt worden war, als Kurga sie auf die Probe gestellt hatte. Sie hatte erraten müssen, unter welchem von drei verbeulten Bronzehelmen ein Stein verborgen lag. Siebenmal hatte sie sich geirrt. Nie würde sie das spöttische Gelächter Kurgas vergessen, das sie geerntet hatte. Dass sie so schmachvoll versagt hatte, mochte mit ein Grund dafür gewesen sein, dass König Gabrog sie und ihre Sippe vertrieben hatte. Kurga hatte ihr die Gabe gestohlen, dessen war sich Skanga ganz sicher. Eines Tages würde sie zurückkehren, und dann würde sie die alte Schamanin demütigen.

»Du hast also nur ein ungutes Gefühl«, stellte Hattah nüchtern fest. »Wir müssen vor dem Sturm Schutz finden. Hier am offenen Hang werden wir erfrieren. Der Hunger hat bereits zu sehr von uns gezehrt.«

Dem konnte sie nicht widersprechen. Der Elch war ihre erste Beute seit ihrer Vertreibung. Die Haut hing ihnen schlaff von den Knochen. Der Hungerwinter hatte schon während der Monde in den Höhlen des Königssteins Fett und Muskeln dahinschmelzen lassen.

Kal und Mak packten die Hinterläufe des Elchs, ohne dass Hattah sie dazu hätte auffordern müssen. Sie zerrten den Kadaver den verschneiten Hang hinauf, dem dunklen Tannendickicht entgegen. Skanga folgte ihnen mit ungutem Gefühl.

Das Schneetreiben wurde dichter. Sie kniff die Augen zusammen, als die Eiskristalle wie tausend Knochennadeln in ihr Gesicht stachen. Sie wusste, hinter dem dicht bewaldeten Bergkamm lag das Geistertal mit seinem undurchdringlichen Nebel. Ihre ganze Kindheit über hatte sie Geschichten über diesen verfluchten Ort gehört. Niemand, der bei Verstand war, kam hierher. Das Tal war verflucht. Es verschlang die Neugierigen, die so dumm waren, ihm zu nahe zu kommen. Die wenigen, die ihm lebend entkamen, waren wahnsinnig geworden, ihr ganzer Leib mit Schrammen bedeckt. Sie redeten wirr und hatten nur noch blutige Löcher statt Augen im Kopf. Meist starben sie schnell.

Skanga erinnerte sich an Durab den Bären, einen jungen Jäger, den sie als dummes Gör sehr bewundert hatte. Er war ganz versessen darauf gewesen, einen weißen Hirsch zu erlegen und König Gabrog das Fell zu schenken. Zauberkraft lag in einem solchen Fell, und der König hätte Durab ein Weibchen überlassen müssen, wenn die Jagd geglückt wäre. Seine Pirsch musste Durab zum Geistertal geführt haben. Ganz sicher wusste es niemand, denn der junge Troll war stets allein unterwegs gewesen. Nahe beim Geistertal gab es immer Wild. Selbst in einem Hungerwinter – dennoch wagte sich niemand hierher. Nicht einmal die verruchten Elfen aus dem Volk der Maurawan. Dabei lag das Tal nur wenige Tagesmärsche von ihren Wäldern entfernt.

Die Jäger des Königs hatten Durab schließlich viele Tage nach seinem Aufbruch blind taumelnd auf der Eisebene gefunden und nach Hause gebracht. Um seine Hüften war ein weißes Hirschfell geschlungen gewesen. Er war über und über mit Schrammen bedeckt und brachte kein vernünftiges Wort mehr heraus, murmelte nur noch von den Wurzeln der alten Göttin und von bösem Holz. Manchmal saß er auch stundenlang stumm, um dann plötzlich zu schreien, als würde ihm bei lebendigem Leib die Haut abgezogen.

Gabrog hatte das weiße Hirschfell verbrennen lassen, und er selbst hatte Durab wenige Tage nach dessen Rückkehr erwürgt, um sein irres Gerede zum Verstummen zu bringen. Kurga hatte einen Bannfluch auf das Geistertal gesprochen. Skanga spuckte in den Schnee, als sie an die Zeremonie dachte. Sie hatte keine Zaubermacht in den Worten der alten Vettel gespürt. Kurga war eine Blenderin und Gabrog ein Narr, dass er ihr vertraute! Wieder malte sie sich aus, wie sie die Schamanin des Königs eines Tages demütigen würde.

»Grübel nicht so viel. Sonst wachsen dir noch Haare wie den Elfen.« Ihr Vater strich ihr über den kahlen Kopf und versetzte ihr einen Knuff, bevor er weiterging. »Schwere Gedanken sind der Mist, auf dem Haare wachsen. Ein echter Troll leidet daran nicht.« Mit diesen Worten schloss er zu Kal und Mak auf. Sie hatten die Grenze des Waldes erreicht.

Der Wind war weiter aufgefrischt. Er peitschte den feinen Pulverschnee über den felsigen Hang unter ihnen. War da eine Bewegung in den Schneewirbeln gewesen? Skanga kniff die Augen zusammen und starrte in das Schneegestöber. Vielleicht ein Tier? Sie war sich nicht sicher. Die Sicht war zu schlecht. Wahrscheinlich hatten ihre Augen ihr einen Streich gespielt.

»Komm Skanga!«, rief ihr Vater. »Bleib nicht zurück.«

Sie folgte der mit blutigen Schlieren durchsetzten Schleifspur des Elchbullen. Ihre Waden brannten vom steilen Anstieg. Immer wieder schlugen ihr Äste und dorniges Gebüsch hart ins Gesicht. Bald ging ihr Atem keuchend. Sie war zu schwach. Der Winter hatte zu viel von ihrer Stärke aufgezehrt. Im vergangenen Sommer wäre sie einen solchen Hang hinaufgelaufen und nicht einmal ihr Herzschlag wäre schneller geworden.

Skanga fand ihre Brüder in einer windgeschützten Senke, umgeben von dunklen Nadelbäumen. Hattah nahm einen flachen, scharfen Stein aus dem Beutel mit ihren wenigen Habseligkeiten und begann, mit geübten Schnitten das Fell des Elchs abzuziehen. Gut, dass er Kal und Mag von der Beute zurückgehalten hatte. Das Fell hatte kaum Schaden genommen. So würde es eine gute, warme Decke abgeben. Skanga freute sich darauf, später am Feuer zu sitzen und Fett und Fleischreste von der Tierhaut zu schaben. Das war eine Arbeit, die sie gerne machte. Sie vergaß dann alles um sich herum. All die Enttäuschungen und den Spott. Sie war nicht sehr groß und stark. Kein Weibchen, von dem man erwarten konnte, dass es kräftige Welpen gebären würde. Auch hatte sie einen ungewöhnlich großen Kopf und wurde deshalb oft verspottet. Sie war froh, wenn sie allein war. Anders als die meisten aus ihrer Sippe, die gerne zusammenhockten und redeten und redeten. Dieselben Geschichten, immer und immer wieder. Von Jagden und wilden Kämpfen mit den verfluchten Elfen.

Als das Fell abgenommen war, brach ihr Vater den Elch auf. Er öffnete die Bauchhöhle, griff mit seinen großen Händen hinein und holte die Eingeweide heraus. Er warf ihr die Leber zu. Sie lächelte. Das war ein gutes Stück! Eigentlich hätte es Kal oder Mak zugestanden. Hattah war der Einzige aus ihrer Sippe, der ihr immer das Gefühl gegeben hatte, dass er sie mochte.

Gierig schlug Skanga ihre Fänge in die Leber. Sie nahm sich kaum Zeit zu kauen und schluckte das Fleisch in großen Brocken. Bald schmerzte ihr Magen. Zu lange hatte sie nicht mehr gefressen. Sie ließ sich zufrieden grunzend gegen einen Baumstamm sinken. Es war noch viel Fleisch übrig. Hattah hatte einen großen Elchbullen erlegt. Sie würden den Winter überleben – diese eine glückliche Jagd hatte den Unterschied gemacht!

Skanga schloss die Augen und lauschte auf den pfeifenden Wind. Sie wurde schläfrig, döste, halb zwischen Traum und Wachen gefangen. Die Schmerzen kamen so plötzlich, als habe sie ein Pfeil durch ihr Auge mitten ins Hirn getroffen. Sie stöhnte, beugte sich vor und spürte, wie warmes Blut von ihrer Nase troff und über ihre Lippen rann. Hätte Kurga sie nicht bestohlen, sie würde ein Gesicht haben. Es war etwas Wichtiges, etwas Drängendes! Es fühlte sich an, als sei ein Mammut in ihrem Kopf gefangen und versuche, mit stampfenden Füßen herauszukommen.

Skanga krallte die Hände in den Schnee, formte einen eisigen Klumpen und drückte ihn sich in den Nacken, um die Blutung zu stillen. Der Schmerz trieb ihr Tränen in die Augen. Mit einem Mal wurde ihr bewusst, dass sie bisher falsch darüber gedacht hatte, was Kurga ihr angetan hatte. Die Schamanin hatte ihr nichts gestohlen, sie hatte ihre Kräfte hinter einer magischen Tür weggesperrt. Es war alles noch da und zugleich doch unerreichbar. Sie fand einfach keinen Zugang zu den Visionen.

Gepeinigt von der Ahnung, dass etwas geschehen würde, vor dem sie alle hätte warnen können, sah sie sich um. Ihre beiden Brüder wa ren vollgefressen auf dem Kadaver des Elches eingeschlafen, dessen Rippen spitz aus dem geschändeten Körper ragten. Was von ihm noch übrig war, sah aus, als sei ein hungriges Wolfsrudel über ihn hergefallen. Skanga verspürte erneut Appetit, doch sie durfte sich nicht davon ablenken lassen. Sie musste sie alle von hier fortbringen.

»Du hast wieder …« Ihr Vater ließ den Satz unvollendet. Er war unendlich enttäuscht gewesen, als sie vor Kurga versagt hatte. Er hatte an sie geglaubt. Ob er es noch immer tat, wusste sie nicht. Skanga sah zu ihm hoch. Müde lehnte er an einer Fichte. Er war groß und, obwohl der Winterhunger ihn ausgemergelt hatte, noch immer eine eindrucksvolle Gestalt. Für sie war er unbesiegbar gewesen, auch wenn ihr nicht verborgen geblieben war, wie das Leben ihm wieder und wieder Niederlagen beigebracht hatte.

»Deine Nase. Sind sie schlimm, die Kopfschmerzen?« Hattah trat einen Schritt auf sie zu.

Skanga nickte. Ihr war übel von dem bohrenden Schmerz. Sie hatte Angst, all das gute Fleisch zu erbrechen, das sie in sich hineingeschlungen hatte. Und sie hatte Angst davor, dass der Schmerz endete. So lange er währte, lag es in ihrer Macht, ein Schicksal zu ändern, wenn sie die Zeichen und Bilder richtig deutete. Aber all das war von Kurga weggesperrt worden. Was Skanga noch blieb, waren Ahnungen.

»Wir müssen hier weg. Sofort!«

Hattah schüttelte sanft den Kopf. Sie sah die Hautlappen von seinem einst so starken Hals hängen. »Wir können hier nicht fort. Wir warten das Ende des Sturms ab.«

»Aber wir sind zu nahe am Geistertal«, beharrte Skanga. »Dies ist ein verfluchter Ort.«

»Und deshalb werden wir das Tal nicht betreten. Wir werden …«

Skangas Kopfschmerz endete so plötzlich, wie er gekommen war. Erschrocken sah sie sich um. Es war zu spät! Das Schicksal war nun unabwendbar.

»Wir werden auf das Wild lauern, das aus dem Tal kommt. Dort gibt es immer Wild, weil sich kein Jäger hierherwagt. Das Geistertal wird uns nicht töten, es wird uns vielmehr am Leben erhalten. Und wenn der Frühling kommt, kehren wir zum Königsstein zurück und werden Gabrog selbst unsere Jagdgeschichten erzählen.« Hattah strahlte die Ruhe und die Zuversicht aus, die immer seine größten Stärken gewesen waren. Vielleicht traf das heraufziehende Unglück, das sie gespürt hatte, ja nicht sie, dachte Skanga.

Sie wollte gerade aufstehen und zu ihrem Vater gehen, als etwas Weißes hinter ihm vorbeihuschte. Er schrie auf und brach in die Knie. Blut spritze in den Schnee. Die Sehnen auf den Rückseiten seiner beiden Kniegelenke waren durchtrennt.

Sein Schrei hatte Kal und Mak geweckt. Augenblicklich waren die beiden auf den Beinen. Mak griff nach seinem Jagdspeer mit der im Feuer gehärteten Spitze, als ihn ein Pfeil in die Brust traf. Die Wucht des Aufschlags ließ ihn zurücktaumeln und über den Kadaver des Elchs straucheln. Kaum dass er stürzte, tauchte ein Elfenkrieger mit langer, mondglänzender Klinge auf. Kal versuchte, dem Elf den Weg zu seinem Bruder zu verstellen, doch der Kämpfer bewegte sich mit katzenhafter Anmut, duckte sich unter seinem Keulenhieb hinweg und wollte Mak gerade die Klinge durch den Hals stoßen, als ihn ein faustgroßer Stein auf die Brust traf.

Hattah vermochte nur noch zu knien, aber er hatte den Kampf nicht aufgegeben. Mit seinen großen Händen wühlte er im Schnee nach einem weiteren Stein. Doch bevor Skanga zu ihm eilen konnte, um ihm zu helfen, durchschlug ein Pfeil seine Rechte und nagelte sie auf den gefrorenen Boden. Ihr Vater brach den Schaft mit wütendem Grunzen ab und befreite seine Hand. »Lauf, Mädchen! Lauf den Hang hinauf und versteck dich. Ich komm dich holen, wenn wir diese verdammten Elfen erlegt haben. Ich glaube es sind nur zwei. Ein Bogenschütze und dieser verdammte Schwertkämpfer. Wir werden ihnen zeigen, dass das nicht genug ist, um sich mit drei Trollen anzulegen.« Da waren wieder diese Kraft und Zuversicht in seiner Stimme, so als glaube er tatsächlich jedes einzelne Wort, das er sagte.

»Lauf, du musst deinem Vater gehorchen.« Er stieß sie mit der unverletzten Hand hangaufwärts.

Kal hatte Mak auf die Beine geholfen und zog ihn hinüber zu Hattah. »Die werden uns umbringen!«, keuchte er.

»Falsch«, entgegnete ihr Vater wütend. »Wir machen sie fertig! Ein richtiger Krieger verschwendet keinen Gedanken an seinen eigenen Tod. Er denkt nur an den Tod seiner Feinde! Merk dir das, Sohn.«

Kal zog eine Grimasse, während Mak trotz seiner Verwundung einen der langen, gesplitterten Knochen aufhob, aus denen Skanga das Mark herausgeleckt hatte, und ihn wie ein Steinmesser in den Händen hielt.

»Lauf, Skanga, du wirst nur im Weg stehen, wenn wir kämpfen.«

Sie schüttelte trotzig den Kopf.

»Gehorche mir«, grollte ihr Vater und stieß sie diesmal derber von sich. Wütend bleckte er seine zersplitterten Fänge. Doch Skanga sah nur seine Augen, die noch niemals hatten lügen können. Und darin las sie die Bitte, ihm seinen letzten Wunsch zu erfüllen. Er wollte, dass wenigstens eines seiner Kinder überlebte. Sie wollte ihn nicht enttäuschen. Nicht noch einmal …

Skanga lief los. Das letzte Stück des Hangs war steil und tief verschneit. Obwohl sie barfuß war, fiel es ihr schwer, sicheren Halt zu finden. Sie griff nach vereisten Wurzelsträngen und niedrigen Ästen. Hinter sich hörte sie den wütenden Kampfschrei ihres Vaters. Er hallte weit durch den Wald. Kündete von Wut und Verzweiflung und dem Willen, niemals aufzugeben.

Sie blickte über die Schulter zurück und strauchelte. Das rettete ihr das Leben! Ein Pfeil schlug über ihr in einen grauschwarzen Lärchenstamm. Skanga raffte sich auf, kletterte weiter und versuchte nun, Haken zu schlagen wie ein flüchtender Hase. Sie hatte den Bogenschützen nicht gesehen. Verfluchte Elfen! Sie kämpften stets voller Heimtücke.

Keuchend erreichte sie den Bergkamm. Der Wald hatte sich hier gelichtet, sodass der eisige Sturmwind deutlicher zu spüren war. Wenn sie umkehrte, würde sie sterben, das war Skanga klar. Doch wenn sie weiterlief, hinunter in das Geistertal, war sie ebenfalls dem Untergang geweiht. Aber vielleicht würden auch die Elfen verrecken, wenn sie dumm genug waren, ihr zu folgen. Diese Hoffnung, entschied sie, war es wert, alles zu riskieren.

Entschlossen begann sie den Abstieg. Viel sehen konnte sie nicht. Wogender Nebel verbarg das Geistertal vor ihren Blicken. Der Wind wirbelte den Dunst zwar auf, aber er vermochte ihn nicht zu vertreiben.

Die Angst vor dem, was sie erwartete, und die bittere Vorfreude darauf, die beiden Elfen vielleicht mit sich in den Tod zu nehmen, hielten sich die Waage, als Skanga sich durch den Schnee kämpfte. Er war hier nasser und klebriger als auf der anderen Seite des Hangs. Immer wieder blickte sie zurück, doch die Bäume standen hier dichter, sodass ihre Sicht nur schlecht war. Es schien ihr kein Elf gefolgt zu sein. Sie hörte auch keine Kampfgeräusche. War schon alles vorüber?

Sie war kaum hundert Schritt abgestiegen, als sie den Nebel erreichte. Kurz blieb sie stehen, zögerte und lauschte, ob sie nicht doch einen Ruf ihres Vaters oder ihrer Brüder hören würde. Doch es blieb still, und voller Angst vertraute sie sich dem wirbelnden Weiß an. Sie ging langsam, tastete mit den Füßen über den Grund. Es gab hier keinen Schnee mehr. Der Boden war weich, voller Lärchennadeln. Es duftete nach Harz. Auch war es jetzt deutlich wärmer. Sie kreuzte eine Wildschweinfährte.

Nach einer Weile wurde der Boden felsig, und Skanga hielt inne und wischte über ihre großen Füße, um die Klumpen von dunklem Waldboden und die braunen Lärchennadeln zu entfernen. Sie wollte es den verfluchten Elfen nicht zu leicht machen, ihrer Fährte zu folgen. Vielleicht könnte sie ihnen ja sogar einen Hinterhalt legen. Zu gerne würden sie einen dieser Mörder mit eigenen Händen töten!

Es war ungewöhnlich still. Kein Vogel sang. Als der Nebel zu träge fließenden Schlieren ausdünnte, sah Skanga das verfluchte Tal endlich mit eigenen Augen. Unheimliches, graues Zwielicht beherrschte alles um sie herum. Der Himmel blieb durch die dichte Nebelbank verborgen, ja, von hier unten wirkte sie wie ein Deckel auf einem Topf. Wer das Tal sehen wollte, der musste durch den Nebel gehen und sich dem Verderben stellen, das hier lauerte. Beklommen sah Skanga sich um. Die Sicht war etwa so wie an jenen Tagen, an denen der Nordwind dicke Schneewolken dicht über dem Land vor sich her trieb. Sie konnte mehr als hundert Schritt weit sehen, doch haftete allem etwas Ungewisses an – als ginge die Welt des Fleisches hier in die Welt der Geister über, ohne dass sie eine Grenze auszumachen vermochte. Ein Stück unter ihr erblickte Skanga etwa ein Dutzend heiße Quellen, die sich in Dunstschleier hüllten. Ihr Wasser ergoss sich in einen großen See am Grund des Tals, der von dichtem Wald eingeschlossen war. Vorsichtig, jeden Augenblick auf eine tödliche Überraschung gefasst, überquerte sie einen breiten Geröllstreifen. Unter jedem ihrer Schritte gab das lose Gestein nach und rollte talabwärts, auf einen großen Holunderbaum zu. Erstaunt hielt Skanga inne. Ein Teil des Baumes wirkte wie abgestorben, während andere Äste in voller, weißer Blüte standen. Viel zu früh für die Jahreszeit. Aber vielleicht lag das auch an den warmen Quellen? Auf jeden Fall würde er mit seinem dichten Astwerk, das bis auf den Boden hinabreichte, ein gutes Versteck abgeben.

Skanga achtete darauf, sich weiter durch den Geröllstreifen zu bewegen. Das nachrutschende Gestein löschte ihre Fährte. So gelangte sie bis fast zum Holunderbaum. Er war ungewöhnlich groß. Sein Stamm war vielfach gebrochen, hatte aber immer wieder aufs Neue ausgetrieben. Totes Astwerk, von dem die graubraune Rinde abgefallen war, umgab ihn wie bleiche Knochen. Sein Wurzelwerk griff ein ganzes Stück hangabwärts. Einige der Wurzelstränge beim Hauptstamm des Baumes waren dicker als ihre Arme. Wie Schlangen wanden sie sich übereinander in alle Richtungen.

Vorsichtig bog Skanga die Äste auseinander, ängstlich darauf bedacht, keinen zu zerbrechen. Sie durfte keine Spur hinterlassen! Elfen hatten Adleraugen. Zerbrochene Äste würden sie wahrscheinlich schon von Weitem entdecken. Unter ihren Füßen knirschte bleiches, totes Holz. Skanga fand eine weite Höhlung inmitten des dichten Astwerks. Vielleicht ein Wildschweinversteck? Sie kauerte sich nieder und spähte durch den Vorhang aus Ästen. Es waren keine Verfolger zu sehen.

Dieser Baum war eigenartig. Jetzt erst nahm sie sich die Zeit, ihn aufmerksam zu studieren. Er schien alle vier Jahreszeiten in sich zu vereinen. Während einige Äste gerade einmal zarte, erste Knospen austrieben, bildeten andere schon Rispen voller weißer Blüten, von denen ein angenehm fruchtiger Duft ausging. Daneben gab es Äste voller Beeren. Manche der Früchte waren grün und saßen an hellroten Stängeln, andere Beeren hatten eine schwarze Farbe angenommen, und ihre Stängel waren dunkelrot, als hätten sie von frischem Blut getrunken. Zwischen all dem blühenden Leben ragten immer wieder graue, winterkahle Äste auf. Dieser Holunder vereinte tatsächlich das ganze Jahr in sich! Oder noch mehr?

Skangas große, graue Hand strich über die tief gefurchte Rinde des Baums. Ihre Fingerspitzen prickelten. Ein wenig Harz klebte daran. Aber da war mehr. Ein Wispern in den Ästen, obwohl es windstill war. Die Blätter raschelten leise. Kleine Blütenstauden fielen auf sie herab. Zu ihren Füßen bewegte sich etwas Dunkles. Eine Schlange?

Skanga blickte auf das Wurzelwerk hinab. Auf die bleichen, toten Äste, die dort lagen. Da begriff sie ihren Irrtum. Das war kein Holz. Dort lagen Knochen!

Sie ging in die Knie und untersuchte, was da aus dem klebrigen, schwarzen Humus ragte. Das waren keine Tierknochen … Sie zog einen kleinen, zierlichen Schädel mit nadelspitzen Zähnen aus der Erde. Der Kopf eines Kobolds?

Etwas streifte ihren linken Fuß. Eine Wurzel! Hatte sie sich bewegt? Skanga lachte kurz auf. Das war Unsinn. Nur die Bäume des großen Waldes im Schatten des Albenhauptes bewegten sich. Und die auch nur, wenn die mächtigen Zauber der Maurawani sie dazu zwangen.

Sie nahm einen großen Oberschenkelknochen auf, der in der Mitte gebrochen war, aber erste Anzeichen von Heilung auf den Bruchstellen zeigte. Wer immer hier mit gebrochenem Bein unter den Zweigen des Holunders Zuflucht gesucht hatte, hatte danach noch lange genug gelebt, dass seine Verletzungen zu heilen begonnen hat ten. Der Knochen war nur viel zu groß für einen Kobold. Selbst für einen Elfen! Wie viele Geschöpfe Albenmarks waren hier gestorben?

Es war dunkler geworden, doch am diesigen Grau des Himmels hatte sich nichts verändert. Unsicher sah sie sich um. Waren die Äste etwa dichter zusammengerückt? Skanga ließ den Koboldschädel fallen. Plötzlich hatte sie den unbändigen Wunsch, dieses verfluchte Tal zu verlassen und nachzusehen, wie der Kampf ausgegangen war. Zugleich wusste sie, wie dumm eine solche Entscheidung gewesen wäre. Ihr Vater hatte nicht mit einem Sieg gerechnet. Ganz gewiss lauerten dort oben im Nebel die Elfen, die ihre Familie ermordet hatten. Nein, sie würde bleiben! Sie würde es ihnen nicht leicht machen! Sie sollten hierherkommen und sie suchen. Und dabei in ihr Verderben laufen.

In einem plötzlichen Aufwallen von Wut stampfte sie auf den Koboldschädel. Die dünnen Knochen zersplitterten fast ohne Widerstand. Einer der spitzen Zähne bohrte sich durch die dünne Haut zwischen ihren Zehen. Leise fluchend setze Skanga sich und versuchte, den Zahn mit ihren großen Fingern aus dem Fleisch herauszupulen, was aber nicht gelingen wollte.

Ein Trollweibchen hatte ich noch nicht.

Skanga fuhr erschrocken herum. Sie hatte eine Stimme vernommen, aber da war niemand! Nur der Baum, der auf Knochen wuchs.

Ich bin ein Baum, du dummes Stück Fleisch. Natürlich habe ich keinen Mund, keine Stimmbänder. Du hörst mich in deinem Kopf.

Misstrauisch musterte Skanga den uralten Stamm. Ein Baum, der in ihren Gedanken sprach? Das musste ein Elfenzauber sein. Ihr Versteck taugte nichts. Sie sollte hier fort. Ärgerlich griff sie nach den Ästen. Doch sie waren nicht mehr biegsam wie eben noch. Einige splitterten, als Skanga immer wütender an ihnen zerrte. Etwas Kaltes schloss sich um ihr rechtes Fußgelenk. Eine dicke, schwarze Wurzel!

Das Trollweibchen packte mit beiden Händen die Wurzel und zerrte daran. Ihre dicken Fingernägel furchten die Wurzelrinde, doch vermochte sie sich nicht zu befreien. Im Gegenteil, immer stärker wurde der Griff des Wurzelstrangs, bis das Gelenk knackte und Skanga vor Schmerz aufstöhnte. Das war der falsche Weg! Sie löste ihre Hände, doch der Druck durch die Wurzel ließ nicht nach. Keuchend atmete sie aus und versuchte, der Pein keinen Platz in ihren Gedanken zu gewähren.

»Du frisst Leichen?«, presste Skanga zwischen zusammengebissenen Fangzähnen hervor.

Fressen würde ich das nicht nennen? Wenn du vermoderst, nehme ich Teile von dir auf, aber darum geht es mir nicht. Ich labe mich an deinen Gefühlen: Angst, Schmerz, vergebliche Hoffnung. Und es ist unterhaltsam, meinen Gefangenen beim Kampf gegen den Tod zuzusehen. Hier in diesem Tal ist es sehr einsam. Abgesehen von langweiligem Viehzeug gibt es nur sehr selten Besuch.

»Könnte wohl daran liegen, dass du das Tal in Verruf gebracht hast. Jeder kennt das Geistertal und meidet es.«

Höre ich da einen Hauch Ironie? Wie ungewöhnlich für ein Trollweibchen! Ich dachte, ihr existiert nur, um irgendwelche schäbigen Felle zu schaben und Welpen zu gebären. Euer Kopf birgt nur die Öffnung zur Nahrungsaufnahme, aber keinesfalls etwas, was man in zivilisierteren Kreisen Verstand nennen würde.

Skanga begriff zwar nicht, was diese komischen Kreise, von denen der Baum sprach, mit ihrem Verstand zu tun hatten, aber dass sie gerade beleidigt wurde, entging ihr nicht. »Die Snaiwamark ist voller Überraschungen«, entgegnete sie gallig. »Ich hätte auch nicht gedacht, dass ich mich einmal von einem Stück Brennholz beleidigen lassen müsste.«

Augenblicklich zog sich die Wurzel um ihr Gelenk fester zusammen. Noch ein klein wenig mehr Druck und ihr würde der Fuß ausgekugelt.

Sprich in meiner Gegenwart nie wieder von Feuer!

Die Worte waren wie Flammen in ihren Gedanken, die sich tief von innen heraus in ihren Schädelknochen brannten. Nie zuvor hatte Skanga solche Pein empfunden, und ihr wurde schwarz vor Augen. Als sie wieder zu sich kam, lag sie zwischen den Knochen. Weitere Wurzeln hatten sich um ihren Leib geschlungen.

Dieser bösartige Holunder hat also Angst vor Feuer, ging es ihr durch den Kopf, und kaum dass sie es dachte, verstärkte sich der Druck der Wurzeln, die sie gefangen hielten. »Gib mich frei, und ich schenke dir zwei Seelen, die du quälen kannst. Zwei zarte Elfen. Sie werden dir viel mehr Freude bereiten als ich.«

Du feilschst? Glaubst du wirklich, du bist in der Lage dazu?

»Willst du die Elfen oder nicht?«

Sie werden ohnehin kommen, Trollweibchen. Jeder ist neugierig auf einen Baum, der alle Jahreszeiten zugleich zeigt. Auch sie werden sich zu nah heranwagen. So war es immer.

»Mir sind keine Elfenknochen aufgefallen«, entgegnete Skanga.

Weil du ein dummes Trollweibchen bist!

»Du bist wirklich ein auffälliger Baum, aber die Elfen sind gewiss viel klüger als ich. Vielleicht meiden sie dich, weil du so unverwechselbar bist. Vielleicht durchschauen sie dein Spiel?« Skanga konnte spüren, dass ihre Worte gesessen hatten, auch wenn der Holunder sich nicht zu einer Antwort herabließ.

»Du bist ein Zauberweber, nicht wahr? Deshalb kannst du in meinen Gedanken sprechen.«

Äußerst scharfsinnig, Trollweibchen.

»Bring es mir bei, und ich locke die Elfen für dich an!«

Die Größe deines Kopfes steht im umgekehrten Verhältnis zu den bei dir zu erwartenden geistigen Fähigkeiten, Trollweibchen. Nun sollen die beiden Elfen nicht nur der Preis für deine Freiheit sein, sondern obendrein auch noch der Pfand für die jahrelange Qual, dich zu unterrichten. Eher bringe ich einem Wolf das Zauberweben bei als dir, Schätzchen.

Skanga hatte den Worten des Holunders zwar erneut nicht ganz folgen können, doch die Gefühle, die zugleich mit den Worten einen Weg in ihre Gedanken fanden, waren eindeutig: gehässige Überheblichkeit. »Du meinst, dass ein Troll ein Zauberweber wird, ist etwa so wahrscheinlich, wie dass ein Baum zaubern kann?«

Du bist wahrlich nicht aufs Maul gefallen, kleines Trollweib chen. Vielleicht bist du eine bessere Unterhaltung, als ich zu hoffen gewagt hätte. Was weißt du denn von der magischen Welt?

Die Gefühle des Holunders waren nun weitaus weniger herablassend. In Skanga keimte Hoffnung auf. Aber war nicht jedes ihrer Gefühle Nahrung für diesen schrecklichen Baum? Spielte der Holunder mit ihr? Schmeckte Hoffnung anders als Wut, Schmerz oder Verzweiflung?

Ich erwarte eine Antwort!

Skanga wusste wenig, aber das wollte sie nicht offen zugeben. Magie wurde mit Worten gewoben, mit Rauch aus Feuern, in die man die richtigen Kräuter streute, mit Knochenrasseln und dunklem Trommelschlag. Zur rechten Stunde und wenn die Sterne richtig am Himmel standen.

Köstlich !, spottete der Holunder. Mir scheint, du kannst mich etwas über die Kunst, Zauber zu weben, lehren.

Sie musste also gar nichts sagen, dachte Skanga beklommen. Der Baum hörte ihre Gedanken. Eigentlich nicht verwunderlich, sprach er doch auch in ihren Gedanken.

Richtig! Du bist ein offenes Buch für mich, Skanga. Du kannst nichts vor mir verbergen. Versuche es besser erst gar nicht.

Buch  … Schon wieder so ein Wort, das sie nicht verstand. Sie spürte, wie dieser Gedanke den Baum belustigte. Skanga empfand es eher als ungeschickt und dumm, wenn einer in einem Gespräch dauernd Worte benutzte, die der andere nicht verstand. Wer wirklich klug war, musste sich nicht auf so billige Art beweisen.

»Hast du einen Namen, Baum?«

Früher einmal. Ein ganzes Zeitalter lang hat mich niemand mehr mit meinem Namen angesprochen. Einst war ich Matha Naht. In deiner Sprache heißt es so viel wie Mutter Nacht.

Skanga spürte die Wehmut und den Zorn des Baums, während der Holunder diese Worte in ihre Gedanken pflanzte. Zugleich war da das vage Gefühl, dass Matha Naht nicht immer an diesem Ort gestanden hatte. Natürlich war diese Vorstellung Unsinn, schließlich wanderten Bäume nicht! Auf der anderen Seite sprachen Bäume normalerweise aber auch nicht in den Gedanken eines Trolls …

Habe ich dich verwirrt, kleines Trollweibchen.

Matha Naht hatte wieder zu ihrem spöttischen Tonfall zurückgefunden.

»Ich könnte dir helfen, deine Einsamkeit zu vergessen.«

Glaubst du, ich sei so tief gesunken, dass ich mich mit Trollen abgeben müsste? Ich bin … Plötzlich war die Stimme aus ihren Gedanken verschwunden. Ja, sogar die Wurzeln ließen ein wenig locker, auch wenn es nicht reichen würde, sich zu befreien.

Skanga lag eine Weile still und lauschte in sich hinein. Da war nichts mehr. Die Stimme hatte sich gänzlich zurückgezogen. Dann wurde sie sich eines fremden Geruchs bewusst. Ganz schwach, fast völlig überlagert vom fruchtigen Duft der Holunderblüten. Mit Rosenöl behandeltes Waffenfett! Das mussten Elfen sein. Sie waren ihr also doch noch gefolgt. Skanga verdrehte die Augen und spähte durch das Dickicht aus Ästen den Hang hinauf. Da kamen sie, vorsichtig, leicht geduckt und ihre Waffen zum Kampf bereit. Es waren zwei. Ganz in helles Hirschleder gekleidet, das sie mit der Winterlandschaft verschmelzen ließ, doch hier, wo aller Schnee gewichen war, waren sie nicht zu übersehen.

Sie blickten hinab zum Holunder und redeten leise. Jedenfalls sah Skanga, dass sich ihre Lippen bewegten. Hören konnte sie nichts. Es sah nicht so aus, als hätten sie ihre Fährte entdeckt, dachte sie zufrieden. Und der Baum war ihnen eindeutig unheimlich. Skanga lächelte. Es kam genau so, wie sie es vorhergesehen hatte.

Du wirst sie auf dich aufmerksam machen , meldete sich Matha Nahts Stimme herrisch in ihren Gedanken zurück. Lock sie her!

Auf gar keinen Fall. Skanga dachte ihre Antwort nur, aus Furcht, dass selbst das leiseste Flüstern die Aufmerksamkeit der Elfen erwecken könnte.

Glaub mir, kleines Trollweibchen, ich werde dich dazu bringen, dass du einen verräterischen Laut von dir gibst. Fordere meine Macht nicht heraus!

Du kennst mich nicht , entgegnete Skanga trotzig in Gedanken.

Augenblicklich zogen sich die Wurzeln, die sie gefesselt hielten, enger zusammen. Neue Wurzelstränge krochen über ihren Leib, und pressten ihren Brustkorb, sodass sie nur noch flach atmen konnte. Skanga versuchte, im Geiste zu entfliehen. Sie dachte an ihren Vater, wie er abends am Feuer Jagdgeschichten erzählt hatte. Sie wollte dem Schmerz keinen Raum in ihren Gedanken lassen. Sie presste ihre Hauer aufeinander, dass sie knirschten.

Mit einem schnappenden Geräusch kugelte ihr Fuß aus dem Gelenk. Skanga schossen vor Schmerz Tränen in die Augen, aber kein Laut kam über ihre Lippen.

Das war erst ein sanftes Vorspiel, Trollweibchen. Ich vermag dir noch ganz andere Schmerzen zu bereiten. Gib auf! Mach die Elfen auf dich aufmerksam. Du willst doch auch sehen, wie ich sie langsam töte.

Du hast schon angefangen?, spottete Skanga lautlos. Gut, dass du das sagst. Mir war es gar nicht aufgefallen.

Augenblicklich tasteten feine, weiße Haarwurzeln über ihr Gesicht, krochen über ihre Wangen, zwängten sich durch ihre Mundwinkel und schoben sich in ihre Nasenlöcher hinein. Sie kitzelten und beinahe hätte Skanga geniest. Dann schob sich ein dünner Wurzelstrang zwischen Lid und Augapfel. Sie fühlte, wie er zur Rückseite des Auges kroch. Tränen rannen ihr über die Wangen.

Du weißt, an was für einem dünnen Fädchen ein Auge hängt, du hast bestimmt schon welche gegessen. Gib einen Laut von dir oder ich blende dich. Und wenn das nicht reicht, dringen die Wurzeln bis in dein Hirn. Dort gibt es einen Punkt, der dir so erlesenen Schmerz bereiten wird, dass du dich niemals davon erholen wirst, wenn ich ihn berühre. Dieser Schmerz wird dein ständiger Begleiter werden. Sei also nicht dumm …

Skanga stellte sich eine große, dunkle Grube vor, an deren Rand sie stand. Sie würde sich rückwärts hineinfallen lassen. Einfach alles vergessen und in die Dunkelheit stürzen, wo kein Schmerz sie mehr erreichen konnte. Allein, dass sie den Mördern ihres Vaters und ihrer Brüder das Leben schenkte, wurmte sie. Störrischer, von Würmern zerfressener Baum. Sie machte in Gedanken einen Schritt zum Rand der Grube. Noch einen. Jetzt …

Also gut, du hast deine erste Probe bestanden. Wir machen einen Handel. Du bist überraschend zäh und dickköpfig. Ich werde versuchen, dich die Kunst des Zauberwebens zu lehren. Doch dafür muss ich dein Verborgenes Auge öffnen, und du musst einen Preis zahlen …

Unser alter Handel ist hinfällig, entgegnete Skanga. Er galt, bevor du mich gequält hast. Nun verlange ich einen der beiden Elfen für mich! Ich selbst will ihm langsam das Leben aus dem Leib quetschen, sodass ihm noch viel Zeit bleibt zu bereuen, dass er meinen Vater und meine Brüder getötet hat.

Was bist du für ein garstiges Biest, Skanga. Die Gefühle, die die Gedanken Matha Nahts begleiteten, waren nicht von Zorn gefärbt. Sie erschien Skanga eher amüsiert. Leider kann ich deiner Bitte nicht nachkommen.

Dann gibt es keinen Pakt zwischen uns. Verwundert stellte Skanga fest, dass die Schmerzen nachgelassen hatten. Nur die Wurzeln, die sich in ihre Augen gezwängt hatten, peinigten sie noch.

Es gibt nicht einmal Elfen. Weder hier im Tal, noch jenseits des Bergkamms im Wald. Kaum dass dieser Gedanke Skanga erreichte, wichen die Äste des Holunders zur Seite, als griffe Sturmwind nach ihnen. Dem Trollmädchen standen Tränen in den Augen, sodass sie nur verschwommen sah, doch der Hang war verlassen, so viel konnte sie erkennen.

Wo sind sie?

Es gab sie nie!

Aber ich habe sie doch deutlich gesehen! , begehrte Skanga in Gedanken auf.

Du hast gesehen, was ich wollte, dass du siehst.

Deutlich spürte die Trollin, wie sehr Matha Naht dieses Spiel genoss. Aber da sind doch Elfen gewesen! Die beiden, die unser Lager angegriffen haben …

Augen werden als Sinne einfach überschätzt. Du solltest ihnen nicht trauen. Es gab keine Elfen, nicht hier und nicht bei eurem Lager auf der anderen Seite des Hangs. Es war alles nur Illusion. Wahr ist einzig, dass du hier unter meinen Ästen gebettet liegst und dem Leben endlich wieder näher bist als dem Tod.

Skanga verstand den Sinn der Worte nicht. Der Baum redete jetzt endgültig irre.

Du warst fast schon gestorben, als ich deinen verzweifelten Überlebenskampf gespürt habe, Skanga. Du musst wissen, mein Wurzelwerk reicht sehr weit. Bis auf die andere Seite des Hangs und darüber hinaus. Meine Wurzeln sind meine Sinne, die über die Grenzen dieses engen Tals hinausreichen. Sie sind in vielen Jahrhunderten gewachsen, seit jener Zeit, in der die Drachen die Herren dieser Welt waren und eine verfluchte Elfe ein letztes Stück meiner Wurzeln hier pflanzte, nachdem ich an einem anderen Ort von einem Götterdrachen fast getötet worden war. Ich bin älter, als du dir vorstellen kannst, Skanga, und ich will dich! Ganz und gar. Als meine Wurzeln dich berührten – du hast glücklicherweise nicht auf felsigem Grund gelegen –, da habe ich etwas in dir gespürt. Du hast die Gabe zu Großem!

Wie meinst du das, mit dem felsigen Grund?

Dort, wo deine Brüder und dein Vater erfroren sind. In der kleinen Mulde auf der anderen Seite des Berghangs, wo ihr vor dem Eissturm Zuflucht gesucht habt. Der Boden dort besteht aus Humus und Geröll. Sonst hätte ich dich nicht erreicht. Jedenfalls nicht schnell genug. Festes Gestein zu durchdringen dauert lange.

Skanga runzelte die graue Stirn. Sie waren doch mit letzter Kraft den Hang hinaufgestiegen, und da war dieser Himmel voller schwarzer Wolken, die ihnen, getrieben von eisigem Nordwind, wie Bluthunde gefolgt waren. Wir haben doch den Elch …

Gar nichts habt ihr!, unterbrach Matha Naht ihren Versuch, ihre verwirrenden Erinnerungen zu ordnen. Durch meine Wurzeln habe ich einen Zauber gewirkt und dir genug Kraft gegeben, um über den Hang hierherzukommen. Wie eine Schlafwandlerin bist du gegangen und dann völlig entkräftet unter meinen Ästen zusammengebrochen. Du hattest keinen Willen zum Leben mehr und warst so ermattet, dass dein Körper trotz all meiner Versuche, dir zu helfen, in den ewigen Schlaf hinübergeglitten wäre, hätte es nicht etwas gegeben, was dich erzürnte und wogegen du dich aufbäumen konntest. Deshalb habe ich deinen Traum von der Elchjagd geformt. Die Illusion, dich satt gegessen zu haben, sollte dir Kraft geben. Manchmal genügt schon der Glaube an einen vollen Bauch … Nicht jedoch bei dir. Deshalb habe ich die Elfen in deinen Traum gewoben. Wut und der Wille zu kämpfen haben dich von der Schwelle des Todes geführt.

Skanga mochte sich immer noch nicht mit dem Gedanken anfreunden, dass sie all das nur geträumt hatte. Sie blickte an sich herab. Etliche Wurzelstränge hielten ihren Leib an den Boden gefesselt. Bin ich deine Gefangene oder dein Gast?

Ich heile dich. Du hattest Erfrierungen. Deshalb schmerzt dein Fuß so sehr. Fast hättest du ihn verloren. Das Fleisch hatte bereits begonnen, schwarz zu werden und zu faulen. Erinnere dich!

Skanga erinnerte sich in der Tat, wie sie durch den Schnee gehinkt war und ihr Vater sie gestützt hatte. Sie alle waren am Ende ihrer Kräfte gewesen, und ein Sturm war aufgezogen. Aber war diese Erinnerung nicht vielleicht auch ein Trugbild wie der Traum von dem Elch und den Elfen? Wenn es denn ein Traum gewesen war … Wie konnte sie herausfinden, was Wahrheit und was Lüge war, wenn dieser verfluchte Holunder ihre Erinnerungen und auch ihre Sinne täuschen konnte? Du heilst mich mit Wurzeln, die du mir durch die Augen wachsen lässt?

Schau dir deinen Fuß an!

Etliche der Wurzeln, die ihren Leib bedeckt hielten, glitten zurück, und Skanga konnte sich halb aufrichten. Sie sah die blaurote Verfärbung ihrer Haut, die eigentlich mittelgrau hätte sein sollen. Ihre Zehen fühlten sich an, als würden sie von Tausenden Nadeln gleichzeitig durchbohrt. Feiner Wasserdampf stieg von den Wurzeln auf, die von den Füßen zurückgewichen waren. Keiner ihrer Füße war ausgekugelt.

Vier deiner Zehen waren fast abgestorben, die Erfrierungen an den Füßen tief ins Fleisch vorgedrungen. Die meisten Heiler hätten dir die Füße abgeschnitten, Skanga.

Hatte Matha Naht nicht eben noch gesagt, wie leicht die Augen zu betrügen seien, überlegte Skanga. Sie tastete nach ihren Füßen, denn der Blick ihrer nach wie vor mit Tränen gefüllten Augen war unscharf. Die Augäpfel rieben über das dünne Wurzelwerk, das unter ihnen hervorlugte und ihre Wangen hinabhing. Sie war versucht, die Wurzeln durchzureißen, doch hatten sich deren Enden nicht um das dünne Fleischfädchen gewickelt, das von den Augen ins Hirn führte? Ein unvorsichtiger Ruck an den Wurzeln mochte sie das Augenlicht kosten.

Sehr scharfsinnig, Skanga. Ich kann nur bestätigen, dass diese Überlegung richtig ist.

Das Trollmädchen konnte nicht mehr unterscheiden, was die Wirklichkeit war und was ein Gespinst aus Zaubern ihr als Wirklichkeit vorgaukelte. Nie hatte sie sich so hilflos gefühlt. Dies Gefühl war ihr fremd. Skanga spürte, wie ihr Herz schneller und schneller schlug. Sie wollte etwas tun, wusste aber nicht was, bis sie schließlich einfach schrie, denn sonst hätten ihre Wut und Verzweiflung sie erstickt.

Sehr trollisch , durchdrangen sie die Gedanken des Holunders. Äußerst eindrucksvoll. Man hat dich sicherlich im ganzen Tal hören können. Ich spüre, wie die Schneehasen tiefer in ihre Höhlen kriechen und die Rentiere sich ängstlich umsehen.

»Was willst du von mir?« Skanga schnaubte. Ihre Kehle schmerzte von ihren wilden Schreien.

Ich will dich zu einer Zauberweberin machen. Du hast das Talent, auch wenn diese Vettel Kurga einen üblen Zauber über dich geworfen hat, als sie dich mit ihrer Nadel stach. Erstaunlich für jemanden, der Tränke aus Dreck und Spinnenbeinen und das Rasseln mit alten Knochen als Magie verkauft.

»Was hat die alte Hexe mir angetan?«

Tja, wie soll ich etwas so Komplexes so beschreiben, dass es in einen Trolldickkopf geht? Stell dir vor, deine Gabe ist wie eine große Höhle unter der Erde. Bisher gab es ein Mauseloch, das dort hinabführte. Das Mauseloch hat Kurga mit ihrem Zauber so gut verschlossen, dass auch ich es nicht mehr öffnen kann. Aber wenn ihr beide Mäuse seid, dann bin ich ein Dachs. Ich kann ein neues Loch zu der Höhle graben, in der sich deine Gabe versteckt. Ich kann dich mächtiger machen, als Kurga es sich jemals erträumen könnte.

Der Gedanke an Macht gefiel Skanga. Dennoch blieb sie misstrauisch. »Was werde ich tun können? Werde ich Flammen aus meinen Händen fließen lassen und sie vor den Augen des Königs verbrennen?«

In Skangas Gedanken erklang helles Gelächter. Selbst die Äste des Holunders erzitterten, so sehr erheiterte den Baum, was sie gesagt hatte. Skanga fühlte sich elend und dumm.

Gräme dich nicht, Trollweibchen. Mit Flammen um sich werfen, das tun nur die Zauberer in Kindermärchen. Wirkliche Zauberer sind weit mächtiger, und ihre Taten verbreiten Entsetzen, das sich tiefer in die Herzen gräbt als der Anblick einer brennenden, alten Schamanin. Wenn dein Tag kommt, dann wirst du Kurga wie eine Laus zwischen deinen Fingern zerquetschen. Du wirst ihr Ende auf eine Art herbeiführen, die allen Respekt vor Kurga zu Asche werden lässt. Du tötest nicht nur sie, du tötest auch das Andenken an sie. Das ist wirkliche Macht. Und davon wirst du kosten, wenn du dich mir ganz und gar verschreibst. Ich werde dich die dunkelsten Geheimnisse der Zauberkunst lehren, und ich werde dir ein Leben schenken, das so lange währt wie ein Elfenleben. Denn die Zeit, die einem Troll bemessen ist, wird kaum reichen, dich auch nur die einfachsten Dinge verstehen zu lassen.

»Warum ich?«

Weil du die Gabe hast, was unter Trollen selten ist. Weil du dickköpfig bist. Weil du bereit bist, dein Leben einzusetzen für das, was du erreichen willst. Weil du zäh bist wie eine alte Stiefelsohle und der Tod dich mir nicht einfach stehlen wird. Ja, ich habe dich getäuscht, Skanga. Ich habe mit dir und deinen Gefühlen gespielt. Ich habe dich auf die Probe gestellt – und du hast bestanden. Du bist wert, dass ich dir viele Jahrzehnte meiner Zeit schenken werde und dich meine dunkelsten Zauber lehren werde. Es waren ein Drache und ein Elf, die mich gedemütigt haben. Die Drachen sind inzwischen bedeutungslos geworden. Wenn du die Hoffnungen erfüllst, die ich in dich setze, dann wirst du eines Tages die Elfen für mich strafen und ihren Hochmut brechen.

Ihr würde es genügen, Kurga, zu brechen, dachte Skanga. Die Elfen bestrafen … Der Baum war verrückt!

Nur wer sich große Ziele steckt, wird auch Großes erreichen. Du hast Ehrgeiz. Über Kurga zu triumphieren, wird dir nicht lange genügen. Bist du bereit, einen Pakt mit mir zu schließen und von mir die Gabe der Magie zurückzugewinnen, die Kurga dir genommen hat?

»Was verlangst du dafür?«

Ich muss dir dein Augenlicht nehmen. Dafür wirst du von nun an die verborgene, magische Welt sehen.

Skanga zögerte. Ein blindes Weibchen … Wer würde das noch wollen? Dann dachte sie an Kurga. Eines Tages zum Königsstein zurückzukehren, um sie zu vernichten. Das war den Preis wert.

»Ich stimme dem Pakt zu!« Ihre Stimme klang rau und ein wenig zögerlich. Ein Leben in Blindheit, das konnte sie sich nicht wirklich vorstellen und so sagte sie: »Ich habe einen letzten Wunsch. Lass mich den Himmel sehen, während du mir mein Augenlicht nimmst. Den klaren, blauen Winterhimmel ohne Wolken. Vermagst du das?«

Du überraschst mich, Skanga. Aber dein Wunsch soll erfüllt sein. Die Äste des Holunders wichen noch weiter zur Seite, sodass der Nebel, der über dem Tal hing, deutlich zu sehen war. Ein Prickeln überlief Skanga. Sie konnte spüren, wie eine fremde Macht, tief aus der Erde hinauf in den Himmel griff. Ein Wirbel bildete sich im Nebel, zerrte die Dunstschwaden zur Seite und zerriss sie, bis tatsächlich ein Stück Himmel sichtbar wurde. Das klare, helle Blau brannte in Skan gas Augen. Als Weibchen hatte sie den Königsstein nur selten verlassen dürfen und dann stets nur bei Nacht, denn die Sonne verbrannte die Haut der Trolle und war ihnen unangenehm. Direkt in die Sonne zu schauen, konnte sie blenden. Doch was zählte das jetzt noch?

Rot floss in das Blau des Himmels. Wolken, wie zerrissenes Fleisch zogen vor die Sonne. Skangas Blick trübte sich. Sie wollte nicht wissen, auf welche Weise ihr Matha Naht das Augenlicht nahm. Ob sie den Faden zerriss, der vom Augapfel in ihr Hirn führte, ob die Wurzeln ihn langsam abdrückten oder Dornen bildeten, die sich in ihre Augäpfel bohrten.

Sie verschloss sich gegen allen Schmerz und trank gierig das immer unschärfer werdende Bild des Abendhimmels. Sie hatte lange in die Sonne gesehen. Kein anderer Troll, den sie kannte, hatte das je vor ihr getan. Und in ihrer Erinnerung würde das Bild der gleißenden, goldenen Scheibe am Himmel niemals verblassen.

Das Ende kam plötzlich. Finsternis umfing sie, als habe sich eine dunkle Hand fest über ihre Augen gelegt. Zugleich verspürte sie einen stechenden Schmerz mitten auf ihrer Stirn. Und dann öffnete sich ihr Verborgenes Auge, und der Anblick der neuen Welt überwältigte sie. Sie war voller Farben! Ein Labyrinth aus Linien in allen Regenbogenfarben. Manche pulsierten, andere waren blass und bewegungslos.

Dies ist die wirkliche Welt, Skanga. Hier gibt es keine Trugbilder. Alles um dich herum ist von Magie durchdrungen und mit dem großen Netz verbunden. Wer diese Kraft zu nutzen weiß, sie formen und lenken kann, der vermag alles zu erreichen. Diese neue Welt ist mein Geschenk an dich. Und wenn du meinen Worten folgst und eine kluge, strebsame Schülerin bist und die Ausdauer hast, in den Abgründen der tiefsten Geheimnisse zu schürfen, dann wirst du dereinst eine Königin in dieser Welt sein.

Skanga war überwältigt von dem, was sie sah. Sie spürte, dass der Fluch, den Kurga auf sie gelegt hatte, gebrochen war, und zugleich ahnte sie, dass alles, was Matha Naht ihr verheißen hatte, Wirklichkeit werden mochte, wenn sie nur hart genug darum kämpfte. Nie zuvor war einem Troll ein solches Geschenk gemacht worden. Sie fand keine Worte, um ihren Gefühlen Ausdruck zu geben. Ihr war bewusst, dass sie das auch nicht brauchte, da der Holunder in ihrem Verstand nistete und ihm nichts von dem entging, was sie dachte und fühlte. Und doch reichte ihr dieses Wissen nicht. Sie wollte ihre Dankbarkeit zeigen. Schließlich biss sie sich in den Arm, bis sie den warmen, metallischen Geschmack von Blut auf der Zunge spürte. Skanga streckte den Arm von sich und ließ das Blut auf die Wurzeln des Holunders tropfen.

»Bei meinem Blute, ich bin die deine, Matha Naht. Ich werde dich nicht enttäuschen!«