1.
Alexander Rieker
Nebel lag über der Elbe, so dicht, dass man das andere Ufer nur schemenhaft ausmachen konnte. Ein Horn ertönte in der Ferne, eine Möwe schrie, doch die Geräusche erklangen nur gedämpft. Links ragte die Elbphilharmonie wie eine Fata Morgana aus den trägen grauweißen Schwaden auf.
Alexander Rieker ging über die Landungsbrücke zur Anlegestelle, wo sich neugierige Nachtschwärmer und Frühaufsteher drängten. Er hatte den Kragen der Jacke hochgeschlagen und die Hände tief in den Hosentaschen. Noch war es kalt an diesem Morgen Anfang Mai, aber nach der Wettervorhersage stand der erste heiße Tag des Jahres bevor, mit Temperaturen bis zu siebenundzwanzig Grad.
Er schob sich an den Gaffern und Neugierigen vorbei und erreichte die Absperrung, an der zwei junge Polizisten, ein Mann und eine Frau, Wache hielten. Der Mann versperrte ihm den Weg, als sich Rieker unter dem rot-weißen Band hinwegducken wollte.
»Sie können hier nicht durch«, sagte der Beamte.
»Ich kann und ich muss.« Rieker zeigte seinen Ausweis.
»Oh, Entschuldigung, Herr Kommissar.« Der junge Beamte hielt das Band für ihn hoch.
»Ist die Spurensicherung schon da?«
»Soll unterwegs sein. Bitte verzeihen Sie meine Neugier, aber sind Sie der Kommissar Rieker, der …«
»In die Sache mit dem Innensenator verwickelt war, ja«, kam ihm Rieker zuvor. »Genau der. Wo liegt er?«
Der junge Polizist zeigte zum nächsten Boot.
Rieker sah den Toten: Er hing halb über der Reling, wie ein Betrunkener, der sich übergeben hatte und dabei eingeschlafen war.
In der rechten Schläfe steckte ein Dolch.
Der Kapitän des Ausflugsboots, noch ohne Uniform, stand neben dem alten Harry und sah Rieker entgegen.
»Ich nehme an, Sie sind für diese Sache zuständig«, sagte er, ohne zuvor zu grüßen, als Rieker das Boot erreichte. »Wann wird die Leiche weggebracht? Ich muss mich um mein Schiff kümmern.«
»Auch Ihnen einen schönen guten Morgen«, erwiderte Rieker und nickte Harry zu. »Früh auf den Beinen.«
»Hatte Nachtdienst«, erklärte Harald Bargmann, den alle »Harry« nannten. Er gehörte seit vielen Jahren zum St.-Pauli-Streifendienst und hatte es irgendwie geschafft, nie in ein Büro befördert zu werden. Er war über sechzig, und wenn man ihn fragte, wann er in Rente gehen würde, antwortete er stets: »In ein paar Monaten.« Aber das sagte er schon seit Jahren. »Bin dabei, das junge Gemüse dort drüben einzuarbeiten.«
»Mein Beileid.« Rieker deutete auf den Toten. »Hat ihn jemand angefasst?«
Der alte Harry schüttelte den Kopf. »Du kennst mich, Alex, ich fass keine Toten an, wenn’s sich vermeiden lässt. Und meine Lehrlinge sind mit den Regeln vertraut und jung genug, sich daran zu halten.«
»Was ist mit Ihnen?«, wandte sich Rieker an den Kapitän.
Der rümpfte die Nase. »Ich hab Harry gerufen, genügt das nicht? Den Rest überlass ich gern Ihnen.«
»Wir waren in der Nähe.« Harald Bargmann deutete zum Kuppelbau des alten Elbtunnels, direkt bei der Landungsbrücke Sieben. »Reiner Zufall.«
»Was macht der Mann an Bord Ihres Bootes?«, fragte Rieker.
»Meines Schiffes«, sagte der Kapitän. »Ich hab keine Ahnung. Fragen Sie ihn.«
»Er scheint noch sehr frisch zu sein, Alex.« Der alte Harry deutete auf das Blut an der Reling und auf dem Deck.
Rieker ging an Bord, und der Kapitän wich so schnell zur Seite, als hätte der Kommissar eine ansteckende Krankheit.
Die Arme des Toten reichten über die blutverschmierte Reling hinweg, der Kopf war zur Seite geneigt, nach links – der Dolch steckte in der rechten Schläfe. Rieker sah genauer hin und stellte fest, dass noch immer Blut aus der Wunde rann.
»Sieht tatsächlich ziemlich frisch aus«, meinte er.
»Wie ich schon sagte«, brummte der alte Harry. »Kann noch nicht lange tot sein, der Junge.«
Der Dolch allein erklärte nicht das viele Blut auf dem Deck. Rieker trat zur anderen Seite des Toten und entdeckte weitere Verletzungen, im Oberschenkel, an der Hüfte, im Oberkörper.
»Da hat jemand ziemlich oft zugestochen, mindestens fünf- oder sechsmal.« Rieker berührte den Hals des Toten. Kein Puls, wie zu erwarten. Aber die Haut war noch warm.
Er hob den Kopf. »Der Täter kann nicht weit sein.«
»Haben Sie mich gerade angesehen?«, fragte der Kapitän. »Ich hab hiermit nichts zu tun. Ich kenn den Burschen nicht mal. Er hing hier, als ich vorhin an Bord gegangen bin. Keine sehr angenehme Morgenüberraschung.«
Rieker hob die Jacke des Toten an, zog das Portemonnaie aus der Gesäßtasche und öffnete es. Eins der drei Kartenfächer enthielt den Personalausweis.
»Adrian Ludson«, las Rieker. »Neunundzwanzig Jahre, deutscher Staatsbürger, wohnhaft in Stade.«
»Ah, da kommen Maria und Josef von der Spurensicherung«, sagte der alte Harry.
Die beiden jungen Polizisten an der Absperrung ließen zwei Personen passieren, die Rieker gut kannte: Marianne Süder, ernst und in den Vierzigern, mit himmelblauen Augen, das blonde Haar kurz geschnitten; und Joris Goverts, ein paar Jahre älter, mit lichtem braunem Haar und so dünn, dass man glauben konnte, seine Knochen klappern zu hören. Was ihnen den Spitznamen Maria und Josef eingebracht hatte, wusste niemand, aber so nannte man sie seit Jahren.
»Guten Morgen, die Herrschaften«, sagte Marianne. Joris nickte nur. Beide öffneten ihre Taschen und entnahmen ihnen dünne weiße Handschuhe und Kameras. Dann kamen sie an Bord. Der Kapitän wich noch etwas weiter zurück, bis zur Reling auf der anderen Seite.
»Ich geh davon aus, ihr habt ihn nicht angerührt.« Joris begann damit, den Toten aus verschiedenen Blickwinkeln zu fotografieren. Marianne sah sich das Deck an.
»Wo kämen wir da hin«, brummte der alte Harry.
»Alexander?«, fragte Marianne.
»Er heißt Adrian Ludson und kommt aus Stade. Das hier gehört ihm.« Rieker reichte ihr das Portemonnaie.
»Oh, danke für deine Fingerabdrücke darauf.«
»Gern geschehen«, sagte Rieker gutmütig. »Ich wollte wissen, mit wem wir es zu tun haben. Wie lange braucht ihr, was meinst du?«
»Etwa eine halbe Stunde«, antwortete der dürre Joris. Er war ebenso ernst wie Marianne. »Hast du’s eilig?«
Rieker rieb sich die Hände. »Lasst die Leiche anschließend zur Pathologie bringen. Sagt Kroge, dass ich die Ergebnisse der Autopsie spätestens um …« Er sah auf die Uhr. »… um elf brauche.«
»Das wird knapp.«
»Nicht, wenn er sich sofort an die Arbeit macht. Ein dringender Ermittlungsfall. Harry?«
»Bin noch hier«, brummte Harald Bargmann. Er stand mit verschränkten Armen, unter denen sich sein Bauch wölbte.
»Sieh und hör dich um, Harry«, bat Rieker. »Dies ist eine gute Gelegenheit, deinen Lehrlingen beizubringen, wie man Zeugen befragt.«
»Wenn es welche gibt.«
»Nehmt euch die Gaffer dort drüben vor. Vielleicht haben einige von ihnen lange genug gegafft, um wirklich etwas gesehen zu haben.« Rieker ging von Bord.
»Und du?«, fragte Marianne Süder mit ein bisschen Gift in der Stimme. »Was machst du?«
»Ich wollte joggen gehen, als ich den Anruf bekam.« Die Sonne blinzelte durch den Nebel. Rieker blinzelte zurück. »Das hole ich jetzt nach.«