2.
Das neue Büro befand sich in einem alten Gebäude, kaum mehr als einen Steinwurf von der Davidwache entfernt. Rieker hatte es nach der Sache mit Innensenator Brois vor drei Monaten zugewiesen bekommen, nicht als Belohnung, so viel stand fest. Er war nicht entlassen worden, das hätte in der Öffentlichkeit für einen noch größeren Skandal gesorgt, aber der Blick in den Altbau-Hinterhof sagte ihm jeden Tag: Leg dich nicht mit einflussreichen Politikern an.
»Hallo, Charlie«, sagte Rieker und schloss die Tür hinter sich.
Seine Assistentin Charlotte Matthiessen saß an ihrem Platz, die schmalen Hände, die so kräftig zuschlagen konnten – sie hatte den Schwarzen Gürtel in Karate –, an der Computertastatur.
Es war halb elf. Der Nebel hatte sich verzogen, die Sonne schien, aber nicht in den Hinterhof, dort blieben die Schatten dicht und düster.
Charlotte, fast zwanzig Jahre jünger als Rieker, hatte ihr rotblondes Haar an diesem Morgen zu einem Zopf gebunden, was die Sommersprossen auf Wange und Nase zur Geltung brachte. Sie deutete auf die große, alte Uhr an der Wand. Wenn es leise genug war, konnte man sie ticken hören. »Kroge hat zweimal angerufen und nach dir gefragt.«
»Was hast du ihm gesagt?« Rieker ging zu seinem Schreibtisch am Fenster, mit Blick in den Hinterhof. Ein alter Mann saß dort unten neben der einsamen Buche. Seinen Namen kannte Rieker nicht, aber er wusste inzwischen, dass der Alte jeden Tag dort unten auf der Bank saß, von neun bis zwölf. Er saß einfach nur da, bei jedem Wetter, still und stumm. Rieker fragte sich, was ihm durch den Kopf ging.
»Dass du mit wichtigen Angelegenheiten beschäftigt bist«, antwortete Charlotte. »Wie war der Lauf im Park?«
Rieker setzte sich und schaltete den PC ein. »Abwechselnd Nebel und Sonnenschein.« Er atmete tief durch. »Sehr angenehm.« Er gab
das Passwort ein. »Wie war’s bei dir gestern Abend? Wie geht es deinen Gegnern heute?«
Charlotte lächelte. »Sie haben wahrscheinlich Schmerzen.«
Das Telefon klingelte.
Charlotte sah aufs Display. »Es ist wieder Kroge. Soll ich …?«
Rieker winkte ab, griff nach dem Telefon und drückte die Taste.
»Ich wollte Sie gerade anrufen«, behauptete er. »Wann bekomme ich die Ergebnisse der Autopsie?«
»Dies ist mein dritter Anruf, Rieker!«
»Tut mir leid, ich musste einige wichtige Dinge erledigen.«
»Ich bin mit der Autopsie, die angeblich so dringend war, vor einer halben Stunde fertig geworden.«
»Und?«
»Ich habe eine gute Nachricht für Sie, Rieker.«
Rieker verzog das Gesicht. Charlotte beobachtete ihn voller Mitgefühl. »Gute Nachrichten höre ich immer gern, Kroge. Wie lautet sie?«
»Ich schlage vor, Sie kommen her und nehmen sie bei mir in Empfang. Können Sie in zehn Minuten hier sein?«
»Das wird knapp«, meinte Rieker.
»Na wunderbar. Also in zehn Minuten.« Kroge unterbrach die Verbindung.
Rieker legte das Telefon auf den Schreibtisch und fuhr den PC herunter. »Ein richtig netter Kerl. Wird mir von Tag zu Tag sympathischer.«
»Er und Innensenator Brois sollen miteinander befreundet sein«, sagte Charlotte, noch immer mit Anteilnahme in ihren himmelblauen Augen.
Rieker stand auf. »Ich hoffe nur, dass ich nie unter sein Messer gerate.« Er ging zur Tür und öffnete sie. »Oh, da fällt mir ein … Wie lautet dein Motto für heute, Charlie?«
»Funakoshis vierte Karateka-Regel«, antwortete Charlotte. »›Erkenne zuerst dich selbst, dann den anderen.‹«
Rieker nickte anerkennend. »Klingt sehr tiefsinnig. Vielleicht wäre es was für Kroge. Bis später, Charlie!«
Professor Dr. Dr. Konrad Kroge residierte in der rechtsmedizinischen
Abteilung des Universitätsklinikums Hamburg-Eppendorf und empfing Alexander Rieker in einem blitzblanken Laboratorium.
Er blickte demonstrativ auf die Uhr. »Zehn Minuten hatten wir vereinbart, nicht neunzehneinhalb, Rieker.«
»Der Verkehr, schneller ging’s selbst mit dem Fahrrad nicht.« Rieker lächelte gewinnend. »Nun, wie lautet die gute Nachricht, die Sie mir unbedingt persönlich mitteilen wollen?«
Er blickte sich um. Das Laboratorium sah aus, als hätte man gerade die Schutzfolien abgezogen. Alles war sauber, jeder Gegenstand lag millimetergenau an seinem Platz.
»Kommen Sie.« Kroge marschierte los, vorbei an silbernen Tischen und weißen Schränken.
Rieker folgte dem Pathologen, der etwa zehn Jahre jünger war als er, um die vierzig, und selbst in einem weißen Kittel sehr elegant wirkte. Er ging mit langen Schritten und hoch erhobenem Kopf, jede seiner Bewegungen schien zu verkünden: Dies ist mein Reich, Rieker, und Sie sind hier nur ein geduldeter Gast.
Auf dem Obduktionstisch eines Nebenzimmers lag die Leiche von Adrian Ludson, der Brustkorb zugenäht. Hinten bei den Spülbecken stand ein Student an die Wand gelehnt. Er hatte auf sein Handy gestarrt und ließ es rasch verschwinden, als Kroge und Rieker hereinkamen.
Der Pathologe winkte wie jemand, der ein lästiges Insekt verscheuchte. »Sie können gehen, Peter. Wir sind hier fertig.«
Der Student eilte hinaus.
Rieker deutete auf den Toten. »Was haben Sie herausgefunden?«
Kroge trat zum Obduktionstisch und zog das weiße Tuch, das Adrian Ludson bis zu den Hüften reichte, zu den Füßen herunter. »Sehen Sie sich die Wunden an, Rieker.«
»Ich sehe sie.«
»Was fällt Ihnen auf?«
Rieker sah genauer hin. »Es sind viele, und alle scheinen von dem Dolch zu stammen.«
»Es sind insgesamt siebzehn Stichwunden«, dozierte Kroge. »Sieben in der linken Seite, drei in der rechten, hier, tief unten, sechs in Brust und Bauch und eine in der rechten Schläfe.«
»Dort steckte der Dolch.«
»In der Tat«, sagte Kroge zufrieden.
»Der Täter hat ziemlich oft zugestochen. Das könnte auf einen Raptus hindeuten.«
»Stimmt, Rieker. Ich vermute ebenfalls einen Raptus. Aber von anderer Art, als Sie glauben.« Kroge lächelte. »Es gibt keinen Täter.«
Rieker sah ihn fragend an.
»Ich will Sie nicht mit Fachausdrücken und den Einzelheiten der Untersuchung langweilen …«
»Danke.«
Kroge holte einen USB-Stick hervor. »Falls Sie doch Wert darauf legen … Hier ist die Audiodatei der Untersuchung. Den schriftlichen Bericht bekommen Sie heute Nachmittag.«
»Was meinen Sie damit, es gibt keinen Täter?«
Kroge holte tief Luft und wippte auf den Zehenspitzen. »Adrian Ludson hat sich seine Verletzungen selbst zugefügt. Er hat sechzehnmal auf sich eingestochen, bevor er seinem Leben mit dem Dolchstoß in die rechte Schläfe ein Ende setzte.«
Rieker blickte misstrauisch auf den Toten hinab. »Sind Sie sicher?«
Kroge wölbte die Brauen. »Ob ich sicher
bin?«
»Entschuldigung, wie konnte ich nur daran zweifeln.«
»Hier kommen wir zu der guten Nachricht für Sie, Rieker.« Kroge lächelte erneut. »Da es keinen Mord gibt, müssen auch keine Mordermittlungen stattfinden. Für Suizid ist die Mordkommission nicht zuständig. Sie können Ihre Zeit wichtigeren Dingen widmen.«
Kroge langte nach dem weißen Tuch und zog es ganz hoch, bis über den Kopf des Toten.
»Warum sollte jemand auf diese Weise Selbstmord begehen?«, fragte Rieker. »Sechzehn Stiche in den Körper und der siebzehnte in die Schläfe …«
»Warum begeht überhaupt
jemand Selbstmord, Rieker? Aus Liebeskummer. Aus Verzweiflung über irgendeinen schweren Schicksalsschlag. Es gibt tausend Gründe. In jedem Jahr nehmen sich in Deutschland mehr als neuntausend Menschen das Leben, und jeder von ihnen hat einen eigenen, sehr persönlichen Grund.« Kroge deutete zur Tür. »Hier gibt es nichts mehr für Sie zu tun, Rieker. Auf Wiedersehen.«
Als Rieker eine Dreiviertelstunde später sein Büro betrat, sagte Charlotte: »Er war in Behandlung.«
»Was? Wer?« Rieker ging zu seinem Schreibtisch.
»Adrian Ludson. Ich hab herausgefunden, wo er gewohnt hat und dass er in psychiatrischer Behandlung war. In Altona, in der Psychiatrischen Tagesklinik Sonnenblick.«
»Sonnenblick?«
»So heißt sie.« Charlotte musterte ihn. »Ist dir was über die Leber gelaufen?«
»Ja, Kroge.« Rieker blickte aus dem Fenster. Der Alte unten bei der Buche stand von der Sitzbank auf und schritt langsam, auf einen Gehstock gestützt, zur Hinterhoftür.
»Punkt zwölf«, sagte Rieker. »Man könnte die Uhr nach ihm stellen.« Er drehte sich um. »Sonnenblick?«
»Ja.«
»Wenn Ludson in psychiatrischer Behandlung war … Es würde passen.«
»Wieso?«
»Kroge behauptet – Verzeihung, er ist sich sicher
–, dass Adrian Ludson Selbstmord begangen hat.«
»Er soll sich den Dolch selbst in die Schläfe gestoßen haben?«
Rieker nickte. »Nach sechzehn Stichen in den Körper. Selbstmord, sagt Kroge. Also braucht ein Kommissar der Mordkommission nicht zu ermitteln. Aber weißt du was?« Er ging wieder zur Tür. »Altona ist gleich nebenan, und Sonnenblick klingt gut. Ich werde mal fragen, wie man Depressionen vorbeugen kann.«