3.
Carolin Alberts
Der Besucher stand am breiten Fenster und blickte in den parkartigen Garten. Er trug einen bleigrauen Anzug, der seine schlanke Gestalt betonte.
»Ist es nicht ein wundervoller Tag? Vor einer Stunde sind die letzten Nebelreste verschwunden, die Sonne scheint, es ist richtig warm geworden. Fast ein Sommertag, und das Anfang Mai.«
Er sprach akzentfreies Deutsch, stellte Carolin fest. Sie trug das Tablett zum Tisch des Empfangszimmers, das einem Salon ähnelt, und stellte es ab. Hinter ihr schloss Noah die Tür.
»Möchten Sie Kaffee, Monsieur Fournier?«, fragte Carolin.
Der Mann drehte sich um. Sie schätzte ihn auf etwa vierzig, er hatte dunkles kurzes Haar, glatte Wangen, wache graue Augen und das Gesicht eines Börsenmaklers, der es gewohnt war, seine Emotionen unter Kontrolle zu halten.
»Das ist sehr nett von Ihnen.« Fournier trat auf sie zu und streckte die Hand aus. »Frau Alberts, Herr Gunnason.«
»Bitte nehmen Sie Platz.« Carolin verteilte die Tassen, schenkte Kaffee ein und setzte sich in einen der vier großen, bequemen Sessel. Danach schlug sie die Beine übereinander und nahm Gilbert Fourniers Blick zur Kenntnis. Aber es war ein beiläufiger, kühler Blick, ohne Interesse.
Der Besucher trank einen Schluck, nachdem er sich gesetzt hatte, nickte anerkennend und deutete auf die gerahmten Fotos an den Wänden. Sie zeigten Menschen, jung und alt, in urbanen Landschaften.
»Gute Aufnahmen«, sagte er, die Tasse noch in der Hand. »Wirklich
sehr gelungen. Die Bilder stammen von Ihnen, nicht wahr, Frau Alberts?«
Sie lächelte unverbindlich. »Ja. Ich fotografiere gern.« Es war eins von mehreren Hobbys, für die ihr leider allzu oft die Zeit fehlte.
»Sie haben etwas eingefangen«, sagte Fournier. »Eine Ausstrahlung. Die Menschen wirken zufrieden, einige von ihnen sogar glücklich, obwohl man es ihren Gesichtern nicht sofort ansieht. Und das trotz der manchmal eher tristen Hintergründe.« Fournier deutete auf ein Bild, das eine junge Frau zeigte, die dem Betrachter den Rücken zuwandte. Sie stand zwischen zwei alten Gebäuden, deren Fenster leer waren, ohne Glas. »Diese Frau, die man nur von hinten sieht … Vielleicht hat sie in einem der beiden Häuser gewohnt. Man kann das Gesicht nicht erkennen, aber trotzdem spürt man ihre Trauer. Und gleichzeitig vermittelt etwas den Eindruck von Hoffnung. Die Frau trauert um die Vergangenheit und erhofft sich eine bessere Zukunft.«
»Die Bilder haben eine Botschaft«, sagte Noah, der sich um Finanzen und Verwaltung kümmerte. Carolin sah den Schatten der Sorge in seinem Gesicht, vielleicht mit dem Auge der Fotografin. Sie hoffte, dass Gilbert Fournier es nicht bemerkte. »Unser Unternehmen versucht, die Welt ein kleines bisschen besser zu machen, indem wir Menschen helfen.«
Fournier stellte seine Kaffeetasse ab und saß mit geradem Rücken, ohne sich zurückzulehnen. »Bitte verzeihen Sie, wenn ich es ganz offen sage: Ihre Smart Drugs für ›physische und psychische Optimierung‹, wie es in einem Harmony-Slogan heißt, finden nicht gerade reißenden Absatz.«
»Wir sind ein Start-up«, erklärte Carolin. »Es dauert immer eine Weile, einen Markt zu öffnen. Unsere bisherigen Smarties sind nur der Anfang. Wir arbeiten an etwas Vielversprechendem. Man könnte sogar sagen: an etwas Revolutionärem.«
»Sie haben Schwierigkeiten mit der Zulassung«, entgegnete Fournier. »Das deutsche Arzneimittelgesetz ist recht streng. Wir könnten das neue Mittel außerhalb der EU genehmigen lassen.«
Mit »wir« meinte Gilbert Fournier den internationalen pharmazeutischen Konzern Kruither & Voch.
Der Mann von K & V öffnete seinen Aktenkoffer, entnahm ihm ein gefaltetes Blatt Papier und legte es in die Mitte des Tisches. »Das habe
ich Ihnen mitgebracht. Ein Angebot.«
Carolin nahm das Blatt, entfaltete es und las eine Zahl. »Fünf Millionen Euro.« Sie lächelte erfreut. »Das ist sehr großzügig von Ihnen. Mit einer so hohen Beteiligung hatten wir nicht gerechnet.«
Fournier blieb ernst. »Es ist ein Übernahmeangebot, Frau Alberts. Wir würden Harmony gern kaufen.«
Aus dem Augenwinkel sah Carolin eine Unmutsfalte auf Noahs Stirn.
»Unser Unternehmen ist mindestens zehnmal so viel wert«, sagte er.
»Vielleicht war es das einmal, Herr Gunnason, aber inzwischen hat sich die Situation geändert. Tatsache ist: Die Banken geben Ihnen kein Geld mehr. Sie können nicht mehr investieren, nicht mehr forschen, nicht mehr weiterentwickeln. Ohne einen durchschlagenden Erfolg werden Sie in einigen Monaten Konkurs anmelden müssen.«
Carolin starrte auf das Papier in ihren Händen. »Wir brauchen … Bedenkzeit«, sagte sie vorsichtig.
Gilbert Fournier von Kruither & Voch stand auf. »Natürlich. Wir sind bereit, bis Freitag auf Ihre Antwort zu warten.«
»Drei Tage?«
»Ja. Und bitte denken Sie daran: Wenn Sie gezwungen sind, Konkurs anzumelden, verlieren Sie alles. Unsere fünf Millionen sind tatsächlich sehr großzügig. Bitte überlegen Sie es sich gut.« Er ging zur Tür. »Sie wissen, wie Sie mich erreichen können. Ich wünsche Ihnen einen schönen Tag.«