5.
Alexander Rieker
Die Psychiatrische Tagesklinik Sonnenblick war in einem hellen, lichtdurchfluteten Gebäude untergebracht, mit großen Fenstern und offenen Türen. Wie von Kindern angefertigte Malereien zierten die weißen, zitronengelben und ockerfarbenen Wände: bunte Farben, lustige Gestalten, lachende Gesichter. Prächtige Topfpflanzen reckten sich aus großen Kübeln, Vasen präsentierten bunte Blumen.
»Sie haben es hübsch hier«, sagte Rieker anerkennend, während ihn die Geschäftsführerin in ein Besucherzimmer brachte.
Dr. Monika Kiepenbusch lächelte zufrieden. »Wir möchten, dass sich unsere Patienten wohlfühlen.«
»Einer von ihnen hat sich offenbar nicht sehr wohlgefühlt«, sagte Rieker, als sie sich an einem Tisch niederließen, auf dem mehrere Zeitschriften lagen. Eine Schlagzeile lautete: Wie werde ich glücklich?
»Ich spreche von Adrian Ludson. Wir haben ihn heute Morgen tot auf einem Ausflugsboot an den Landungsbrücken gefunden.«
»Oh, das tut mir sehr, sehr leid«, erwiderte Monika Kiepenbusch betroffen. Sie war ein mütterlicher Typ, fand Rieker: etwa fünfundvierzig, etwas mollig, doch durchaus attraktiv, mit dunklem, schulterlangem Lockenhaar und spitzer Nase. »Was ist passiert?«
»Wir fanden ihn mit zahlreichen Stichverletzungen im Körper und einem Dolch in der Schläfe«, erklärte Rieker.
Kiepenbusch hob die Hand zum Mund. »Wie schrecklich!«
»Ja, es war bestimmt kein angenehmer Tod. Adrian Ludson wurde hier bei Ihnen behandelt, nicht wahr? Er war Patient im Sonnenblick.«
»Ja, ja«, murmelte die Geschäftsführerin. »Seit einer Woche. Er kam
jeden Tag zu uns, und solange er hier war, ging es ihm besser, das hat er stets gesagt.«
»Weshalb kam er zu Ihnen?«, fragte Rieker. »Woran litt er?«
Kiepenbusch zögerte.
»Die ärztliche Schweigepflicht dient dazu, den Patienten zu schützen«, erklärte Rieker geduldig. »Hier gibt es niemanden mehr, den man schützen könnte. Ihre Angaben würden uns dabei helfen, diesen Fall zu klären, Doktor Kiepenbusch.«
»Ja, Sie haben recht. Bei Adrian … bei ihm wurde der Beginn einer paranoiden Schizophrenie diagnostiziert.«
»Was genau bedeutet das?«
»Er fühlte sich verfolgt«, sagte Kiepenbusch. »Und manchmal hörte er Stimmen, die ihm ›den Weg wiesen‹, wie er sich ausdrückte.«
»Stimmen?«
»Ja. So klar und deutlich, wie Sie meine Stimme hören.«
»Und Sie haben ihn behandelt.«
»Ja«, bestätigte die Geschäftsführerin. »Machen Sie sich keine Notizen?«
Rieker lächelte freundlich. »Ich hab ein gutes Gedächtnis. Sind Ihre Patienten nur tagsüber hier?«
»Die meisten von ihnen. Bei besonders kritischen Fällen – wenn sich der Zustand eines Patienten verschlimmert und wir keine andere Möglichkeit sehen – bieten wir auch Übernachtungen an. Zu diesem Zweck stehen vier Zimmer zur Verfügung.«
»Aber das war bei Adrian Ludson nicht nötig?«
Kiepenbusch schüttelte den Kopf. »Nein. Wie gesagt, wenn er bei uns war, ging es ihm schnell besser.«
»Haben Sie ihm Medikamente gegeben?«
»Ja.«
»Welche?« Als Rieker die Namen hörte, holte er doch Notizbuch und Stift hervor. »Könnten Sie das bitte wiederholen?«
Kiepenbusch nannte noch einmal die Namen der Arzneien. »Wissen Sie schon, wer ihn umgebracht hat?«
Rieker wich der Frage aus. »Kennen Sie Ludsons persönlichen Hintergrund?«
»Der Arzt, der ihn zu uns geschickt hat, kann Ihnen da vermutlich besser helfen. Doktor Heinrichs in Stade.«
Ein Psycho, dachte Rieker. Jemand, der sich verfolgt gefühlt und Stimmen gehört hatte. Es passte zu Kroges Selbstmord-Diagnose. Vielleicht hatte sich Adrian Ludson den Dolch in den Kopf gestoßen, um die Stimmen zum Verstummen zu bringen.
Er stand auf. »Danke, dass Sie sich Zeit für mich genommen haben, Doktor Kiepenbusch.«
Sie begleitete ihn zur Tür. »Da fällt mir ein … Vielleicht gibt es da noch jemand anders, der Ihnen mehr über den armen Adrian sagen könnte.«
»Wer?«, fragte Rieker auf der Türschwelle. Vögel zwitscherten, das Wasser eines Springbrunnens plätscherte. Die Sonne schien warm und hell. Es war kein Tag, um sich einen Dolch in den Kopf zu rammen.
»Adrian hat von Harmony erzählt. Offenbar war er sehr stolz darauf.«
»Harmony?«
»Ein Unternehmen, das die neuen Smart Drugs herstellt«, sagte Monika Kiepenbusch. Sie blinzelte im Sonnenschein. »Sie haben auch uns welche angeboten. Adrian erzählte, dass er für Harmony arbeitet. Es klang so, als hätte er sich viel davon versprochen.«
»Haben Sie die Adresse von Harmony?«, fragte Rieker.
»Ich hole sie Ihnen.«