6.
Das Anwesen lag eingebettet zwischen zwei sanften Hügeln, halb hinter einer hohen Hecke verborgen. Auf der linken Seite strömte die Elbe hinter hoch aufragenden, Schatten spendenden Bäumen. Ein Containerschiff, ein blauroter Riese aus Stahl, glitt dort auf den Hamburger Hafen zu.
Rieker war an mehreren teuren Villen vorbeigefahren. Eine noble Gegend, der Wohnort von Oskar Brois, bevor ihn der Immobilienskandal ins Gefängnis gebracht hatte.
Ein Mann in einem bleigrauen Anzug kam Rieker entgegen, als er vor Harmonys offenem Tor anhielt und vom Rad stieg. Der Mann hatte die schlanke Statur eines Sportlers und bewegte sich mit der Selbstsicherheit von jemandem, der es gewohnt war, Verantwortung zu tragen und wichtige Entscheidungen zu treffen; Rieker hatte ein Auge für so etwas. Der Blick des Mannes streifte ihn, wache graue Augen musterten ihn kurz, dann stieg der Mann in eine silbergraue Limousine auf dem Parkplatz neben dem Tor, nahm im Fond Platz, hinter abgedunkelten Scheiben, und der Fahrer lenkte den Wagen auf die Straße.
Rieker trat durchs Tor, lehnte das Rad an die hohe Hecke und schritt über den Weg zum Eingang, vorbei an Bäumen, blühenden Büschen und Blumenbeeten, die geometrische Muster bildeten. Als der Weg einen Bogen beschrieb, sah er weitere weiße Gebäude hinter dem ersten, keins von ihnen höher als die Bäume, die sie umgaben; vom Elbufer aus waren sie sicherlich kaum zu sehen.
Die Glastür des Eingangs öffnete sich vor ihm automatisch, und er betrat einen Raum wie die Lobby eines modernen Hotels. Die Frau am Tresen sah auf und lächelte.
»Mein Name ist Dorothea«, stellte sie sich vor. »Wie kann ich Ihnen helfen?«
»Ich bin Alexander Rieker.« Er zeigte seinen Ausweis.
Dorothea wölbte die Brauen. »Kriminalpolizei?«, fragte sie.
»Von der Mordkommission«, präzisierte Rieker. »Ich würde gern mit jemandem sprechen, der Auskunft über Ihr Personal geben kann. Am besten mit dem Geschäftsführer.«
Die junge, augenscheinlich besorgte Dorothea stand auf. »Natürlich. Bitte haben Sie einen Moment Geduld.«
Sie verschwand in einem nahen Flur, kehrte aber schon nach kurzer Zeit zurück.
»Bitte hier entlang, Herr Kommissar.«
Sie führte Rieker in ein Zimmer mit zwei Personen, einem Mann und einer Frau. Der Mann war kräftig gebaut, hatte einen rotbraunen Vollbart und etwas dunkleres mittellanges Haar, hinter die Ohren zurückgestrichen. Er trug keinen Anzug, sondern eine helle Leinenhose und ein graues Hemd. Rieker schätzte ihn auf Mitte dreißig. Die Frau war einige Jahre jünger, ebenso groß wie der Mann und eine echte Schönheit, gehüllt in eine Aura klassischer Eleganz. Ihr kurzer mintgrüner Rock zeigte viel von den wohlgeformten langen Beinen, und die weiße Bluse darüber betonte die Brüste, ohne sie zu sehr hervorzuheben. Glattes, schulterlanges schwarzes Haar umrahmte ein Gesicht mit vollen Lippen, gerader Nase und großen Augen fast in der gleichen Farbe wie der Rock.
Die Frau reichte ihm die Hand. »Ich bin Carolin Alberts, und das ist Noah Gunnason. Wie können wir Ihnen helfen?«
Das war erstaunlich genug, fand Rieker. Sie fragte nicht: »Um Himmels willen, was ist passiert?«, und sie sprach ruhig und gefasst.
»Gehören Sie zur Geschäftsleitung?« Rieker warf einen Blick über die Schulter. Dorothea hatte die Tür geschlossen und war vermutlich zum Empfangstresen zurückgekehrt.
»Wir sind die Inhaber.« Carolin Alberts deutete auf den Mann. »Mein Partner Noah und ich. Oh, bitte entschuldigen Sie. Nehmen Sie Platz.«
Drei Kaffeetassen standen auf dem Tisch, wie Rieker bemerkte. Offenbar hatten Alberts und Gunnason Besuch gehabt. Ihm fiel der Mann im bleigrauen Anzug ein, den er draußen gesehen hatte.
»Sie sind von der Kriminalpolizei, hat uns Dorothea mitgeteilt«, sagte Gunnason, als sie saßen. »Von der Mordkommission. Wer ist ermordet worden?«
»Heute Morgen wurde die Leiche von Adrian Ludson bei den Landungsbrücken von St. Pauli gefunden. Ein Dolch steckte in seiner Schläfe.«
»Na so was«, murmelte Gunnason.
»Ach, der arme Adrian«, sagte Carolin Alberts.
»Er hat für Sie gearbeitet, nicht wahr?«
»Ja«, bestätigte Alberts. »Ja, er hat für uns gearbeitet. Er gehörte zu unseren Testpersonen.«
»Testpersonen?«
»Männer und Frauen, die unsere Produkte testen«, erklärte Carolin Alberts bereitwillig. »Sie probieren sie aus, unter kontrollierten Bedingungen.«
»Und in uneingeschränkter Kenntnis der Risiken, die damit verbunden sind«, fügte Noah Gunnason hinzu.
»Ja«, bestätigte Alberts. »Im frühen Stadium lassen sich Nebenwirkungen nicht ausschließen.«
Rieker stellte sich vor, was das bedeutete. »Menschliche Versuchskaninchen?«
Carolin Alberts lächelte nachsichtig. »Nein, ganz und gar nicht. Es handelt sich hierbei um Entwicklungsarbeit. Zur Perfektionierung fast fertiger und nahezu marktreifer Produkte. Wir stellen Smart Drugs her, auch ›Smarties‹ genannt. Wissen Sie, was Smart Drugs sind, Herr Rieker?«
Es klang nicht herablassend, sondern freundlich und hilfsbereit. Gesicht, Stimme und Haltung vermittelten die Botschaft: Ich bedauere zutiefst, was mit Adrian Ludson geschehen ist, und ich bin bereit, alles zu tun, um bei der Aufklärung dieses Falls zu helfen.
»Sogenannte Lifestyle-Medikamente, nicht wahr?«
Alberts nickte. »Sie verbessern Konzentration, Aufmerksamkeit und Aufnahmefähigkeit, erhöhen Intelligenz, Denkfähigkeit und Kreativität.«
»Tuning für das Gehirn.«
»So könnte man es nennen, Herr Rieker«, sagte Gunnason. »Vorstellungsvermögen, Verstehen, Erinnerung … alles wird auf ein höheres Niveau gehoben. Solche Mittel eignen sich besonders gut für Studium und Beruf, und genau deshalb hat sich Adrian Ludson zur Mitarbeit entschlossen. Weil er sich davon bessere Leistungen im Studium erhoffte. Er hat Medizin studiert, hier in Hamburg, und deshalb wusste er noch besser als die meisten anderen, worauf er sich einließ.«
Carolin Alberts hob wie beschwichtigend die Hand. »Was nicht heißen soll, dass das Risiko sehr hoch war. Wie gesagt, das Produkt, das Adrian nahm, war so gut wie fertig. Wir haben beim Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte bereits die Zulassung beantragt. Adrian war sehr zufrieden und voll des Lobes.«
Rieker dachte an die sechzehn Stichwunden in Adrian Ludsons Körper und den Dolch in seiner Schläfe. »Was genau hat Ludson von Ihnen bekommen?«
Carolin Alberts und Noah Gunnason wechselten einen Blick.
»Keine Sorge«, sagte Rieker, »ich verrate der Konkurrenz nichts.«
»Unser neues Produkt heißt ›Sleepless‹«, antwortete Alberts. »Schlaflos.«
»Das Gegenteil von einer Schlaftablette?«, fragte Rieker.
»Davon gibt es reichlich«, erklärte Noah Gunnason. »Aufputschmittel. Amphetamine und dergleichen. Kokain, Speed und andere Drogen. Damit haben wir natürlich nichts zu tun.«
»Natürlich«, murmelte Rieker misstrauisch.
»Kennen Sie NZT-48?«, fragte Alberts.
Rieker schüttelte den Kopf. »Nicht dass ich wüsste.«
»Dann haben Sie den Film ›Ohne Limit‹ vermutlich nicht gesehen.«
»Oh, ich lese lieber.«
»In dem Film – es gibt übrigens auch eine Fernsehserie – bewirkt eine synthetische Droge namens NZT-48, eine Smart Drug, erhebliche Leistungssteigerungen des menschlichen Gehirns. Der Protagonist ist damit zu Dingen fähig, die ihm vorher unmöglich waren. Er wird zu einem Genie, das es zu Reichtum und Macht bringt.«
»Gibt es so etwas wirklich?«
»Nein«, sagte Alberts, »noch nicht. Aber irgendwann könnte tatsächlich etwas wie NZT-48 auf den Markt kommen. Wer auch immer es entwickelt, produziert und verkauft …«
»… darf damit rechnen, steinreich zu werden«, vervollständigte Rieker den Satz.
»Ganz gewiss. Wir sind auf dem Weg dorthin.« Carolin Alberts lächelte erneut. »Sleepless ist zweifellos ein Schritt in die richtige Richtung.«
»Wie wirkt es? Eben haben Sie gesagt, Adrian Ludson nahm es in der Hoffnung, bessere Leistungen in seinem Medizinstudium zu erreichen.«
»Er hat es nicht nur gehofft«, warf Gunnason ein. »Unser Produkt hat bei ihm genau so gewirkt, wie es wirken soll. Das Studium fiel ihm erheblich leichter. Und außerdem bekam er auch noch Geld von uns. Ein doppelter Vorteil für ihn.«
»Sleepless reduziert das Schlafbedürfnis«, erklärte Carolin Alberts. »Wer es regelmäßig nimmt, kommt mit weniger Schlaf aus, ist wacher und geistig leistungsfähiger. Aber«, sie hob den Zeigefinger, »es handelt sich nicht um ein Aufputschmittel. Die natürliche Regeneration des Gehirns wird gefördert, der biochemische Austausch von Informationen zwischen den Neuronen stimuliert. Man kann weniger schlafen, ohne einen Preis dafür zu bezahlen. Auch nach Wochen droht kein Kollaps. Die üblichen Symptome fortgesetzten Schlafentzugs wie Reizbarkeit, Vergesslichkeit, Schwächung des Immunsystems, Verlangsamung des Reaktionsvermögens und kognitive Störungen bleiben vollständig aus.«
»Und man wird nicht müde«, fügte Gunnason hinzu. »Man braucht einfach weniger Schlaf und bleibt die ganze Zeit wach und fit.«
»Wer Sleepless nimmt, hat mehr vom Leben«, sagte Alberts.
»Na ja, das kann man von Adrian Ludson nicht behaupten«, entgegnete Rieker. »Wäre es möglich, dass die Einnahme von Sleepless etwas mit seinem Tod zu tun hat?«
»Das ist völlig ausgeschlossen«, sagte Noah Gunnason sofort.
Carolin Alberts ließ sich etwas mehr Zeit. Sie überlegte sich ihre Worte. »Ich weiß nicht, wo es eine Verbindung zwischen Sleepless und Adrians Ermordung geben könnte.«
»Seit wann hat er als Testperson für Sie gearbeitet?«
»Seit einem Monat«, antwortete Alberts. »Und er war immer guter Dinge. Ich kann Ihnen seine Berichte zeigen, wenn Sie möchten.«
»Jeder unserer Probanden ist zu einem kurzen täglichen Bericht verpflichtet«, erläuterte Gunnason.
»Hat Adrian Ludson in seinem Bericht Depressionen erwähnt?«, fragte Rieker. »Oder dass er sich verfolgt gefühlt und Stimmen gehört hat?«
Carolin Alberts sah ihn groß an und bewies mit den nächsten Worten, dass sie sehr aufmerksam und intelligent war. »Ich glaube, Sie haben uns noch nicht alles gesagt, Herr Rieker.«
»Es besteht die Möglichkeit, dass Adrian Ludson Selbstmord begangen hat. Auf eine ziemlich scheußliche Art und Weise. Mit sechzehn Messerstichen in den Leib und schließlich einem Dolchstoß in den Kopf.«
Carolin Alberts schien etwas blasser zu werden. »Weshalb sollte sich jemand auf so schreckliche Weise das Leben nehmen?«
»Paranoide Schizophrenie«, sagte Rieker. »Wäre das ein plausibler Grund?«
Alberts schüttelte langsam den Kopf. »Adrian war nicht krank, er war stabil, in sich gefestigt. Alle Kandidaten werden gründlich untersucht und durchgecheckt, bevor wir sie in unser Testprogramm aufnehmen. Es wäre absolut verantwortungslos, einer psychisch kranken Person Smart Drugs zu geben.«
Rieker betrachtete ihr Gesicht. Wie auch immer hier die Rollen verteilt waren, Carolin Alberts schien diejenige zu sein, die letztendlich entschied. »Ludson wandte sich an seinen Hausarzt in Stade, Doktor Heinrichs«, sagte er, »und der verwies ihn an die Psychiatrische Tagesklinik Sonnenblick hier in Hamburg, in Altona. Dort war er seit einer Woche in Behandlung, wegen paranoider Schizophrenie.«
Diesmal bestand kein Zweifel – die Farbe wich aus Alberts Wangen. Sie hielt sich unter Kontrolle, ihr Gesichtsausdruck blieb freundlich, die entspannte Haltung änderte sich nicht. Aber Rieker erkannte, dass sie nicht nur betroffen war, sondern auch sehr besorgt.
»Er hat uns nichts davon gesagt!« Es klang ein wenig defensiv von Gunnason, fand Rieker.
»Wenn die Tagesklinik nichts von Sleepless wusste, wenn Adrian Psychopharmaka bekommen hat …« Carolin Alberts atmete tief durch, und Rieker nahm zur Kenntnis, wie sich dabei ihre Brust hob. Er sah nicht hin, das hatte er sich abgewöhnt, aber manchmal war der männliche Instinkt in ihm stark. »In dem Fall kann es zu gefährlichen Wechselwirkungen zwischen den Psychopharmaka und unserem Produkt gekommen sein. Die Folgen wären …« Sie suchte nach einem geeigneten Wort. »… unabsehbar. Unsere Kandidaten werden ausdrücklich darauf hingewiesen. Es steht in den Bedingungen des Testprogramms: Während der Einnahme von Sleepless sind Medikamente jedweder Art streng untersagt. Ohne unsere Genehmigung hätte Adrian nicht einmal ein Aspirin nehmen dürfen, von Neuroleptika, also Mittel gegen Psychosen, ganz zu schweigen.«
»Allem Anschein nach hat sich Adrian Ludson über dieses Verbot hinweggesetzt«, stellte Rieker fest.
»Aber wenn es wirklich Selbstmord war, Herr Rieker …«, sagte Carolin Alberts. »Warum sind Sie dann hier? Ich meine, die Mordkommission ermittelt doch nicht bei einem Suizid, oder?«
Rieker stand auf. »Wir ziehen alle Möglichkeiten in Betracht. Frau Alberts, Herr Gunnason … Ich danke Ihnen sehr für Ihre Hilfsbereitschaft.«
Draußen, auf dem Weg zum Fahrrad an der Hecke, holte Rieker sein stumm geschaltetes Handy hervor. Zwei verpasste Anrufe, einer von Clemens Kowalski, dem Leiter der Mordkommission, der andere von Charlotte.
Er blieb neben der Hecke stehen, rief die Telefonnummer des Büros auf und drückte die grüne Taste.
»Hallo, Alex«, meldete sich Charlotte, die seine Nummer auf dem Display sah.
»Neuigkeiten?«, fragte Rieker. Er richtete den Blick auf das weiße Gebäude, ob er womöglich von einem der Fenster aus beobachtet wurde, von Alberts und Gunnason.
»Kowalski hat angerufen«, antwortete Charlie. »Offenbar liegt ihm bereits Kroges Bericht vor. Er sagte etwas von ›Wo kein Mord, da auch keine Mordermittlungen‹.«
»Was? Ich hab nicht verstanden. Die Verbindung ist schlecht. Ich mache einen Abstecher nach Stade, zu einem gewissen Doktor Heinrichs.«
»Mit dem Rad?«, fragte Charlie verwundert.
»Und ja, mit dem Rad, falls du dich das fragen solltest. Es ist ein schöner Tag, und ich habe nichts Besseres zu tun. Bis später!«
Rieker steckte das Handy ein und radelte los.