7.
Carolin Alberts
Carolin sah aus dem Fenster und beobachtete, wie Rieker durch den Garten ging, zum Tor, wo er sein Fahrrad an der hohen Hecke abgestellt hatte.
»Er ist mit dem Rad gekommen«, sagte Noah neben ihr.
Ein schlanker, sehr sportlicher Mann, um die fünfzig, schätzte Carolin, ein Kommissar der Mordkommission in Jeans, Hemd und weißblauen Sneakern, das aschblonde Haar kurz. Die Offenheit in seinen blaugrauen Augen hatte ihr gefallen.
Er telefonierte kurz mit seinem Handy, bevor er davonradelte.
»Was hältst du von ihm?«, fragte Noah.
»Ein freundlicher Mann«, antwortete Carolin spontan und fügte hinzu: »Aber er trägt die Freundlichkeit wie eine Maske. Dahinter steckt ein messerscharfer Verstand.«
»Wir haben uns nichts zuschulden kommen lassen.«
»Manchmal genügt das nicht. Sagt dir sein Name etwas?«
»Rieker?« Noah schüttelte den Kopf.
»Du hast nur Zahlen, Bestimmungen und Verträge im Sinn«, sagte Carolin liebevoll. Manchmal vergaß Noah den ziemlich großen Rest der Welt. »Vor einigen Monaten, der Immobilienskandal um Innensenator Oskar Brois.«
»Er kam ins Gefängnis, nicht wahr? Brois, meine ich.«
»Ja. Und rate mal, wer ihn ins Gefängnis gebracht hat.«
»Rieker?«
»Genau. Alexander Rieker von der Kriminalpolizei.« Carolin sah wieder nach draußen und ließ den Blick durch den menschenleeren Garten schweifen. »Von der Mord kommission. Man munkelt, dass er auf eigene Faust ermittelt hat, weil Oskar Brois ein Verhältnis mit seiner Ex hatte. Offenbar lag ihm die Trennung schwer im Magen. Vielleicht hat er gehofft, seine Ehe doch noch retten zu können.«
»Und Oskar Brois machte diese Hoffnung zunichte?«
»So könnte es gewesen sein«, sagte Carolin. »Die Leute reden viel, das eine oder andere ist sicher erfunden. Die linke Presse hat ihn gefeiert, insbesondere bei den Anarchos galt er als Held. Die Rechten hielten ihn für einen Unruhestifter und Miesmacher. Schlimmer noch, für jemanden, der ihre Geschäfte ruiniert hat. Die Bürokraten wiesen darauf hin, er habe gegen die Regeln verstoßen und die Grenzen seiner Zuständigkeit weit überschritten. Brois hatte Freunde mit Einfluss. Einige von ihnen waren vielleicht ebenfalls in den Skandal verwickelt, ohne dass ihre Namen bekannt wurden. Sie haben jedenfalls für ein mildes Urteil gesorgt, nur ein Jahr, der Rest auf Bewährung. Rieker bekam ein Disziplinarverfahren, soweit ich weiß.«
»Aber er ist noch immer bei der Kriminalpolizei, noch immer bei der Mordkommission.«
»Das ist er, ja.«
»Ein Mann, der mit dem Kopf durch die Wand geht und gegen Regeln verstößt«, sagte Noah. »Eigensinnig und … dumm?«
»Nein, dumm ist er gewiss nicht«, widersprach Carolin. »Alles andere als das. Rieker scheint mir jemand zu sein, der nach eigenen Regeln lebt und sich in erster Linie seinem Gewissen verpflichtet fühlt. Solche Menschen sind selten geworden, Noah. Und sie können sehr, sehr gefährlich sein.«
»Uns trifft keine Schuld«, betonte Noah noch einmal.
Carolin war in Gedanken längst ein Stück weiter. Sie wandte sich vom Fenster ab, ging einige Schritte, blieb am Tisch stehen und blickte auf Gilbert Fourniers Kaffeetasse.
»Weißt du, was passiert, wenn die Sache mit Adrian bekannt wird?«
»Ob es Mord oder Selbstmord war, wir haben nichts damit zu tun.«
»Allein die Möglichkeit, allein der Verdacht, dass Sleepless etwas damit zu tun hat, könnte uns ruinieren. Endgültig, für immer, aus und vorbei.«
Carolin fühlte sich plötzlich am Rand eines Abgrunds stehen, mit den Zehen über einer bodenlosen Tiefe.
»Adrian, dieser verdammte Idiot!«, entfuhr es ihr. »Wenn er Neuroleptika genommen hat, kann praktisch alles passiert sein!«
»Soll ich bei der Klinik nachfragen, was er bekommen hat?«
Für einen Moment schien sich alles um Carolin zu drehen, und sie glaubte zu fallen, in den dunklen Abgrund direkt vor ihr. Sie atmete etwas schneller, schloss die Augen und öffnete sie wieder.
»Wir müssen jetzt schnell sein, Noah«, sagte sie. »Wir brauchen die Zulassung für Sleepless, sofort. Wir müssen Sleepless auf den Markt bringen und allen zeigen: Wer unser Produkt nimmt, hat ein besseres Leben. Sprich noch einmal mit den Banken und Gläubigern. Sag ihnen, dass wir gerade eine große Marketingkampagne vorbereiten und Sleepless noch in dieser Woche auf den Markt bringen.«
»Noch in dieser Woche?« Noah sah sie aus großen Augen an.
»Und ruf Arents an«, fuhr Carolin fort. »Vereinbar einen Termin mit ihm. Sag ihm, dass ich ihm alle Unterlagen bringe. Heute Abend um acht. Er lehnt nicht ab, da bin ich sicher. Auf eine solche Gelegenheit hat er lange gewartet.«
Noah machte ein finsteres Gesicht.
Carolin hauchte ihm einen Kuss auf die Lippen. »Es muss sein, es geht nicht anders.«
»Und du? Was hast du vor?«
Carolin war bereits an der Tür. »Ich gebe den Leuten im Labor Bescheid. Und ich mache beim Marketing Dampf. All in, Noah. Wir gehen all in. Etwas anderes bleibt uns nicht übrig.«