8.
Den Kopf voller Gedanken, schritt Carolin durch Harmonys Laboratorium, das aus sechs großen Räumen bestand. Der größte von ihnen, der »Hexenkessel«, enthielt die Becken und Öfen, in denen neue chemische Verbindungen gewaschen und gebacken wurden. Dort stellte sie sich ans Sichtfenster, beobachtete ölige Flüssigkeiten in Bottichen und die hell erleuchteten Backöfen.
Von den fünf anderen Zimmern blieben vier den Entwicklern vorbehalten, dort arbeiteten Biochemiker mit Computerspezialisten zusammen. Man simulierte die Wirkung neuer, für Smart Drugs infrage kommender Substanzen auf den menschlichen Organismus und das Nervensystem bis in die kleinsten Details, was viel Rechenpower und spezielle Algorithmen aus dem Bereich der künstlichen Intelligenz erforderte. Tierversuche gab es keine; dagegen hatte sich vor allem Noah von Anfang an ausgesprochen. Die Computersimulationen erfüllten den gleichen Zweck, waren viel schneller und lieferten Ergebnisse, die direkt in den Produktionsprozess übertragen werden konnten.
»Wie weit sind wir mit Sleepless?«, fragte sie immer wieder und bekam zur Antwort: »Wir sind fast fertig. Nur noch ein kleines Stück des Weges liegt vor uns, ein letzter Schritt.«
Carolin ließ sich ihre Unruhe nicht anmerken, sie lächelte und sprach in einem gelassenen Ton. »Lassen Sie uns diesen letzten Schritt noch heute machen, alles andere soll ruhen. Das Ziel, es ist so nahe, vielleicht erreichen wir es noch heute, wenn wir uns bemühen, oder spätestens morgen.«
Ihr Lächeln wirkte ansteckend, sie säte Optimismus, Zuversicht und Eifer, und die Männer und Frauen, viele von ihnen jung, setzten ihre Arbeit mit erneuertem Enthusiasmus fort.
Im sechsten Zimmer des Labors, einem Aufenthaltsraum, der auch als »Thinktank« diente – ein Ort für den Austausch von Ideen –,
sprach sie von einer großen Zukunft für Harmony und alle, die mit dem Start-up zu tun hatten, das sie gemeinsam aufgebaut hatten. Der große Durchbruch, betonte sie, stehe unmittelbar bevor.
Sie sprach mit Mika und Helena vom Marketing, die natürlich längst alles für die große Werbekampagne vorbereitet hatten und nur noch auf den Startschuss warteten. Soziale Medien, Streaming-Dienste, TV und Kino, die Monitore in U- und S-Bahn, Großplakate, Anzeigen in Zeitungen, Zeitschriften und digitalen Magazinen – ein Knopfdruck genügte, und die Welt würde von »Sleepless« erfahren, der neuen Smart Drug, die das Leben leichter, länger und lebenswerter machte.
Zwei Stunden später saß Carolin in ihrem Büro in der Entwicklungsabteilung. Sie legte beide Hände auf die Schreibtischplatte, wie um einen Ruhepunkt zu finden, einen Anker, der ihr Halt gab. Ihre Gedanken flogen und tanzten noch immer, gingen alle Möglichkeiten durch, verwarfen Ideen, drehten andere hin und her.
Dies war der entscheidende Moment.
Die nächsten Tage brachten entweder völligen Ruin oder einen Erfolg, der Harmony ganz nach oben bringen konnte.
Carolin betrachtete das Bild an der gegenüberliegenden Wand, ein nicht am Computer bearbeitetes Schwarz-Weiß-Foto, das auch im Besucherzimmer hing. Es zeigte, von hinten gesehen, eine junge Frau, die zwischen zwei alten Gebäuden stand, die Fenster leer, ohne Glas, die Türen offen. Unkraut wuchs aus Rissen im Asphalt der Straße. Es herrschte eine graue Dämmerung ohne Schatten, mit dunklen Wolken am Himmel, doch am Horizont vor der Frau glühte Licht durch eine Lücke in der Wolkendecke.
Man konnte ihr Gesicht nicht sehen, und doch spürte der Betrachter, dass die junge Frau traurig und hoffnungsvoll zugleich war. Es gab keine Resignation in ihr, nur die Gewissheit, dass sie etwas zurückließ und gleichzeitig Neues erwartete.
Plötzlich breitete sich Ruhe in Carolin aus. Sie wusste, was es zu tun galt. Der letzte endgültige Beweis, dass Sleepless harmlos war und dem Menschen das versprochene Geschenk machte.
Sie öffnete die Schreibtischschublade und holte eine kleine elfenbeinfarbene Schatulle hervor, die grüne Pillen enthielt. Ohne zu zögern, nahm sie zwei davon und schluckte sie.