9.
Carolin erwachte mitten in der Nacht in einem fremden Bett. Neben ihr schlief Dr. Felix Arents, Leiter der Zulassungsabteilung beim Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte, ein Mann in mittleren Jahren, nicht unattraktiv.
Aber ob attraktiv oder nicht, darauf kam es nicht an. Er hatte Einfluss, er konnte entscheiden, seine Unterschrift zählte. Und er würde unterschreiben, da war sich Carolin sicher. Immerhin hatte sie ihm weitere Treffen in Aussicht gestellt, und mit den Sleepless-Unterlagen war alles in Ordnung. Es wurde kein Gesetz gebrochen; es ging nur darum, die ganze Angelegenheit zu beschleunigen.
Sie sah auf die Uhr – es war kurz nach drei.
Felix Arents hatte ihr das Gesicht zugewandt und schlief tief und fest. Im durchs Fenster fallenden Mondschein sah sie, wie sich seine Augen unter den Lidern bewegten. Wovon träumte er?
Es geschah nicht zum ersten Mal, dass sie mitten in der Nacht wach wurde, aber meistens schlief sie sofort wieder ein. Diesmal war es anders. Sie fühlte
sich anders: ruhig, entspannt, vollkommen ausgeschlafen, jeder Gedanke klar wie Glas, ohne den geringsten Hauch von Benommenheit.
Sie strich die Decke zurück und stand lautlos auf. Arents murmelte leise im Schlaf, bewegte sich aber nicht. Carolin trat ans Fenster, blickte hinaus und beobachtete, wie sich der Mondschein auf der Außenalster spiegelte. Sie sah ein einzelnes Boot mit einem Segel, weiß wie Schnee, gesteuert vielleicht von jemandem, der keine Ruhe fand oder die Einsamkeit der Nacht liebte.
Carolin wandte sich vom Fenster ab, öffnete die Tür des Schlafzimmers und begann mit einer Wanderung durchs Haus. Sie ging die Treppe hinunter, schaltete unten eine Stehlampe ein, sah sich die große Küche und das Esszimmer an und betrachtete die Fotos auf einer Vitrine.
Mehrere von ihnen zeigten eine Frau, die ihr zu jung erschien, um als Partnerin für Arents infrage zu kommen. Vielleicht eine Tochter? Was wusste sie von ihm? So gut wie nichts.
Im Kaminzimmer mit der dunklen Holzdecke und den beiden Bücherwänden blieb sie stehen und überlegte, ob sie die Gelegenheit nutzen sollte, mehr über Dr. Felix Arents herauszufinden. Die Schubladen der Schränke und Sideboards, der Schreibtisch im Arbeitszimmer … Bestimmt gab es Interessantes zu entdecken.
Nein. Das Risiko war zu groß. Vielleicht waren einige Dinge auf eine ganz bestimmte Weise angeordnet, und wenn Arents sie später anders vorfand, wäre ihm sofort klar, dass jemand spioniert hatte. Außerdem bestand die Gefahr, dass er ebenfalls erwachte und sie überraschte. Dann wäre ihr sehr persönlicher Einsatz für Harmony, der Schmerz für Noah bedeutete, umsonst gewesen.
Hellwach stand Carolin in halbdunkler Stille, überlegte und hatte eine Idee. Sie kehrte in die Küche zurück, sah im Kühlschrank und in der Speisekammer nach und lächelte – sie würde Felix Arents mit einem opulenten Frühstück überraschen.
Doch bis dahin blieb noch Zeit, mindestens drei bis vier Stunden. Auf leisen Sohlen ging sie die Treppe hoch, nahm einen Bademantel aus dem Garderobenschrank, streifte ihn unten im Kaminzimmer über, wählte ein Buch, sank in den großen, bequemen Ledersessel und begann zu lesen.
»Das nenne ich eine angenehme Überraschung«, sagte Felix Arents Stunden später am Frühstückstisch. »Womit habe ich einen solchen Luxus verdient?«
Carolin schenkte ihm ihr schönstes Lächeln. »Lass es dir schmecken.«
Arents deutete auf die Speisen. »Das ging nicht im Handumdrehen. Seit wann bist du schon auf den Beinen?«
»Seit drei Uhr in der Nacht.«
»Konntest du nicht schlafen? Habe ich geschnarcht?«
Carolin lächelte erneut. »Ich musste nicht schlafen.« Sie trank einen Schluck Kaffee, ohne den Blick von Arents abzuwenden. »Wie wäre es, wenn du jeden Tag drei, vier oder fünf Stunden mehr Zeit hättest? Für all die Dinge, die du gern tun würdest.«
»Mit dir?«
»Wer weiß«, sagte sie freundlich.
»Bis zu fünf Stunden mehr pro Tag …« Arents dachte darüber nach. »Das wäre eine feine Sache. Ich habe ständig das Gefühl, dass mir Zeit fehlt. Du meinst Sleepless, nicht wahr?«
»Die Unterlagen, die ich dir gestern mitgebracht habe, sind eine Sache«, sagte Carolin. »Ich
bin eine ganz andere.« Sie griff nach ihrer Handtasche und holte die kleine elfenbeinfarbene Schatulle daraus hervor. »Und ich hab noch etwas anderes für dich, Felix, ein kleines Geschenk.«
Carolin öffnete die Schatulle mit den grünen Pillen. Sie nahm eine, steckte sie in den Mund und trank erneut aus ihrer Kaffeetasse. Dann schob sie die Schatulle über den Tisch.
»Gestern Nachmittag habe ich Sleepless zum ersten Mal genommen, und in der vergangenen Nacht sind mir bereits einige Stunden geschenkt worden. Es ist keine Schlaflosigkeit. Ich bin nicht müde. Ganz im Gegenteil, ich fühle mich vollkommen ausgeschlafen. Was auch immer dieser Tag bringen mag, ich bin bereit.«
Felix Arents blickte auf die Schatulle.
»Eine pro Tag, das ist die Dosis«, fuhr Carolin fort. »Möchtest du ein besseres, längeres Leben? Möchtest du mehr Zeit für all die Dinge, die dich interessieren? Sieh mich an, mir hat Sleepless nicht geschadet.« Sie hob die Kaffeetasse wie zu einem Trinkspruch. »Sei wach und lebe!«
Arents zögerte nicht länger, nahm eine der grünen Pillen und schluckte sie.
»Ich bin gespannt«, sagte er.
Carolin zwinkerte ihm zu. »Du wirst nicht enttäuscht sein.«