10.
Alexander Rieker
Rieker stand am Fenster seines Büros, blickte in den Hinterhof und beobachtete, wie der Alte um Punkt neun Uhr zur Buche ging und dort auf der Sitzbank Platz nahm. Ein einsamer alter Mann, der drei Stunden lang neben einem einsamen alten Baum sitzen würde.
»Er ist wieder da, wie jeden Morgen«, sagte er. »Was ist das für ein Leben? Jeden Tag drei Stunden neben einem Baum zu sitzen und ins Leere zu starren.«
»›Es geht einzig darum, den Geist zu befreien‹«, erwiderte Charlotte, die schon seit einer Stunde an ihrem Platz saß.
»Das klingt nach einem Zitat.«
»Funakoshis sechste Karateka-Regel. Vielleicht meditiert der alte Mann dort unten. Vielleicht lässt er jeden Morgen von neun bis zwölf sein Leben Revue passieren. Vielleicht fühlt er sich wohl dabei.«
Rieker schüttelte langsam den Kopf. Er kannte den Alten nicht, er hatte nie ein Wort mit ihm gesprochen, aber irgendetwas sagte ihm, dass er nicht glücklich war.
»Du wirkst heute Morgen sehr nachdenklich«, bemerkte Charlotte.
»Oh, ich denke immer nach, auch wenn es nicht danach aussieht.« Rieker setzte sich an seinen Schreibtisch.
»Du hast noch nicht erzählt, wie es gestern in Stade gelaufen ist.«
»Der gute alte Doktor Heinrichs.« Ein kleiner, greisenhafter Mann, verschrumpelt wie ein Apfel, den man in der Obstschale vergessen hatte, dachte Rieker, sprach es jedoch nicht aus, sondern fuhr laut fort: »Fünfundsiebzig Jahre alt und noch immer im Einsatz. Früher war er viel unterwegs, mit Hausbesuchen und so, aber inzwischen
empfängt er seine Patienten nur noch in der Praxis. Den Stress von damals will er sich in seinem Alter nicht mehr antun, sagt er. Adrian Ludson kannte er schon als kleines Kind.«
»Hat sich was ergeben?«, fragte Charlotte.
»Wie man’s nimmt.« Rieker hatte den Computer noch nicht eingeschaltet und blickte auf den leeren Monitor. »Heinrichs hat mir erzählt, Adrian Ludson sei immer kerngesund gewesen. Ein netter Junge, der sich zu einem netten Jugendlichen und dann zu einem netten jungen Mann entwickelt hat. Intelligent und aufgeweckt. Offenbar haben sie oft über den Arztberuf gesprochen. Vielleicht war das einer der Gründe, warum sich Ludson für ein Medizinstudium in Hamburg entschieden hat.«
»Irgendwelche psychologischen Probleme?«, fragte Charlotte.
»Keine. Nichts, nada. Nach der Meinung von Doktor Heinrichs war Adrian Ludson ein Musterbeispiel an geistiger Stabilität. Bis vor zehn Tagen. Da kam ein völlig veränderter Adrian zu ihm, einer, den er kaum wiedererkannte. Er diagnostizierte den Beginn einer Psychose und überwies ihn an die Psychiatrische Tagesklinik Sonnenblick.«
»Und eine Woche später brachte sich Adrian Ludson an den Landungsbrücken von St. Pauli um«, sagte Charlotte. »Mit einem Dolchstoß in die Schläfe.«
»Nachdem er sich den Dolch zuvor sechzehnmal in den Leib gerammt hat.«
»Weil er übergeschnappt ist?«
»Genau das ist die Frage.« Rieker merkte, dass er mit den Fingern der rechten Hand auf den Schreibtisch klopfte. Er zog die Hand zurück.
Charlotte musterte ihn, das Gesicht offen und voller Sommersprossen.
»Es lässt dir keine Ruhe«, stellte sie fest.
»Nein. Ich werde das Gefühl nicht los, dass Harmony etwas damit zu tun hat. Adrian war eine ihrer Testpersonen.«
»Es gibt da ein Problem, Alex.«
»Ich weiß, ich weiß. Wo kein Mord, da auch keine Mordermittlung.«
»Gestern, als die Telefonverbindung so schlecht war …«
»O ja, ich konnte dich kaum verstehen«, behauptete Rieker, ohne mit der Wimper zu zucken. »In Blankenese scheint das Netz nicht besonders gut zu sein.«
»Kann passieren«, entgegnete Charlotte. »Ein Funkloch. Ich wollte dir sagen, dass Kowalski mehrmals angerufen hat, auch später am Nachmittag, als du nach Stade unterwegs warst. Mit dem Fahrrad.«
Rieker nickte. »War ’ne schöne Tour. Bis auf den Rückweg, da hat’s geregnet.«
»Vielleicht solltest du zurückrufen, Alex.«
Es klopfte an der Tür, und gleich darauf schwang sie auf. Herein kam jemand, den Rieker gut kannte: ein gut vierzig Jahre alter Mann mit Halbglatze, der sich gern sportlich kleidete, wobei es ihm allerdings immer ein wenig an Geschmack mangelte. Erschwerend kam hinzu, dass er zu Übergewicht neigte. Clemens Kowalski, Leiter der Mordkommission, lebte in ständiger Diät, seit er vor einigen Jahren mit dem Rauchen aufgehört hatte.
»Schönen guten Morgen allerseits«, sagte er. »Da der Herr Kommissar nicht auf meine Anrufe reagiert, habe ich mir gedacht: Schau einfach mal vorbei. Charlotte, Alexander …« Er blieb in der Mitte des Raums stehen. »Schön haben Sie’s hier.«
»Mit herrlichem Blick in den Hinterhof.« Rieker deutete zum Fenster.
»Offenbar sind Sie ein sehr beschäftigter Mann, Alexander. So sehr beschäftigt, dass Sie keine Telefonanrufe entgegennehmen können.«
»Seit gestern stimmt mit meinem Handy was nicht. Kann passieren.«
»Na so was.« Kowalski sah sich um. Diesmal trug er ein etwas zu knapp sitzendes hellblaues Hemd und eine etwas zu weite beigefarbene Stoffhose. »Gibt es hier einen Ort, wo wir uns ungestört unterhalten können?«
Rieker lächelte. »Kein Problem. Wir können aufs Klo gehen. Ich überlasse Ihnen dort den einzigen Sitzplatz.«
Clemens Kowalski verzog das Gesicht. Hinter ihm schmunzelte Charlotte, wurde aber sofort ernst, als Kowalski den Kopf wandte. Sie richtete den Blick auf den Monitor und tippte auf der Tastatur.
Kowalski nahm einen Stuhl und setzte sich vor Riekers Schreibtisch. »Der Fall ist abgeschlossen.«
»Ich nehme an, Sie meinen Adrian Ludson.«
»Wen sonst? Doktor Kroge hat in seinem Autopsiebericht ausdrücklich auf Suizid hingewiesen. Ludson wurde nicht ermordet. Er
hat sich selbst umgebracht. Damit ist der Fall erledigt. Der viel beschäftigte Kommissar hat etwas weniger zu tun.«
Rieker lächelte strahlend. »Klasse. Dann kann ich für den nächsten Marathon trainieren. Ihnen würde etwas mehr Bewegung auch nicht schaden.« Er deutete aufs stramm sitzende Hemd.
Kowalski zog den Bauch ein. »Auf die faule Haut legen können Sie sich nicht.« Er holte einen USB-Stick hervor und legte ihn auf die Schreibtischplatte. »Ihr neuer Fall. Offizieller Auftrag des LKA 41. Petersen ist krank; was mit der Prostata, der arme Kerl. Sie übernehmen.«
Rieker blickte auf den Stick.
»Alle relevanten Daten sind darauf gespeichert. Dies ist das digitale Zeitalter. An die Arbeit, Rieker.« Clemens Kowalski stand auf. Wenn er »Rieker« sagte, meinte er es ernst. »Sie sind ein tüchtiger Mann, bis heute Abend erwarte ich erste Resultate. Vielleicht ist der Fall bei Ihnen sogar besser aufgehoben als bei Petersen. Sie haben doch schon ein wenig bei Harmony herumgeschnüffelt, wegen der Ludson-Sache. Jetzt können Sie dort weiterschnüffeln.«
Rieker hob fragend die Brauen.
»Es geht um einen Laborassistenten, der dort gearbeitet hat. Einen gewissen Henkens. Kein Selbstmord, so viel steht fest. Er wurde erschossen. Ist alles da drin.« Er deutete auf den USB-Stick und richtete dann einen mahnenden Zeigefinger auf Rieker. »Und keine Mätzchen wie bei Sie wissen schon. Ich weiß Eigeninitiative durchaus zu schätzen, aber sie sollte auf den Fall beschränkt bleiben. Noch einen schönen Tag allerseits.« Er ging zur Tür und verließ das Büro.
Charlotte hörte auf zu tippen.
»Ein richtig netter Kerl«, sagte Rieker.
Charlotte verzichtete auf einen Kommentar.
Rieker deutete auf den Stick. »Wir sollten das Ding auf Viren überprüfen. Es würde mich nicht überraschen, wenn Kowalski die eine oder andere Überraschung darin verpackt hat.«