11.
Der »offizielle Auftrag«, wie Kowalski ihn genannt hatte, betraf einen gewissen Manfred Henkens, in der Szene »Sabinchen« genannt und erschossen von Erik Meurer, einem stadtbekannten Dealer, der seit einem Tag in Untersuchungshaft saß. Es konnte kein Zweifel daran bestehen, dass Meurer tatsächlich der Täter war, denn er hatte ein umfangreiches Geständnis abgelegt. Allerdings mit dem ausdrücklichen Hinweis auf Notwehr, wie es im Vernehmungsprotokoll hieß.
Rieker und Charlotte betrachteten auf ihren Monitoren die Bilder der Wohnung, in der Manfred Henkens’ Leben ein gewaltsames Ende gefunden hatte.
»Sieht ziemlich wüst aus«, bemerkte Rieker. Dass ein Kampf stattgefunden hatte, ließ sich auf den ersten Blick erkennen: umgestürzte Stühle und Sessel, ein auf der Seite liegender kleiner Tisch, der große Flachbildfernseher auf dem Boden, verstreut liegende Bücher und Fotos, Blutflecken auf dem beigefarbenen Teppich, eine Leiche unter einem Tuch.
Charlotte konsultierte die Datenblätter. »Henkens wurde erschossen, und zwar mit einer SFP9 von Heckler & Koch. Ein Schuss aus großer Nähe traf ihn ins linke Auge. Die Waffe gehört Meurer.«
»Waffenschein?« Ein etwas unscharfes Bild zeigte eine Vitrine mit offenen Schubladen. Davor lagen aufgerissene Schachteln, die nach Medikamentenpackungen aussahen. Rieker vergrößerte das Bild, aber dadurch wurde die Aufschrift der Packungen nur unleserlich.
»Hat er«, bestätigte Charlotte. »Seltsam, oder? Ein Dealer mit Waffenschein?«
Rieker zuckte mit den Schultern. »Vielleicht ein Sportschütze. Oder er hat gute Beziehungen. Das ist Meurers Wohnung, nicht wahr?«
»Ja.«
»Sieht teuer aus.« Rieker rief weitere Bilder auf den Monitor.
»Elegante Einrichtung, keine billigen Möbel. Eine große, heil gebliebene Vase mit Pharaonendarstellungen und ägyptischen Hieroglyphen. Die Geschäfte scheinen ausgesprochen gut zu gehen.«
»Vielleicht sogar noch besser als gut«, sagte Charlotte. »Die Wohnung, ein Penthouse, befindet sich in St. Georg, an der Langen Reihe. Eine nach der Gentrifizierung ausgesprochen teuer gewordene Gegend.«
St. Georg beim Hauptbahnhof, das frühere Schmuddelviertel von Hamburg, geprägt von Drogenhandel und Prostitution. Vor etwa fünfzehn Jahren waren die ersten Mietshäuser saniert worden, und damit hatte es angefangen. Inzwischen galt St. Georg mit dem Hansaplatz als angesagtes Szeneviertel; eine Eigentumswohnung kostete dort ein kleines Vermögen.
»Meurer behauptet, angegriffen worden zu sein«, fügte Charlotte hinzu. »Henkens sei plötzlich durchgedreht, hat er bei der Vernehmung behauptet.«
»Hast du bessere Bilder?«, fragte Rieker. »Ich würde gern wissen, was es mit den Schachteln und Packungen vor der Vitrine auf sich hat.«
»Da muss ich leider passen.«
Rieker wechselte zu den Datenblättern. »Haben wir eine Liste der Dinge, die in der Wohnung gefunden wurden?«
Tasten klickten unter Charlottes Fingern. »Leider nein. Es befindet sich alles in der Asservatenkammer. Auch Meurers Notebook. Noch eingeschaltet. Für den Fall einer Passwortsicherung beim Hochfahren. Unsere Computerleute wollen sich später darum kümmern.«
Rieker klickte zu dem Bild von der Vitrine zurück. »Ich frage mich, ob Meurer so dumm war, Drogen bei sich zu Hause aufzubewahren.«
»Ein so dummer Dealer könnte sich keine Wohnung in der Langen Reihe leisten«, antwortete Charlotte sofort.
»Ja, das denke ich auch. War Manfred Henkens drogensüchtig oder krank? Irgendwelche Beschwerden? Wurde bei der Obduktion was gefunden?«
»Darauf gibt es keine Hinweise in Kowalskis Bericht.«
»Das ist der Kleinkram, den wir erledigen dürfen.« Rieker stand auf. »Ich hole den Schlüssel und sehe mir die Wohnung an. Anschließend mache ich einen kleinen Abstecher zur Asservatenkammer.« Er warf
einen Blick auf die tickende Uhr. »Es ist noch früh. Vielleicht schaffen wir es tatsächlich, Kowalski bis heute Abend einen ersten Bericht vorzulegen.«
»Er rechnet bestimmt nicht damit.«
»Genau deshalb. Eine kleine Überraschung für ihn. Ein Beweis für die Effizienz des Teams Charlotte und Alexander, inspiriert von der angenehmen Arbeitsatmosphäre des neuen Büros.«
Als Rieker hinter seinem Schreibtisch hervortrat, kam er am Fenster vorbei und sah in den Hof hinab. Der Alte saß noch immer neben der Buche und dachte vielleicht über sein Leben nach.