15.
Alexander Rieker
»Hallo, aufgewacht.«
Rieker öffnete die Augen.
»Ich wusste gar nicht, dass Kommissare im Dienst schlafen«, sagte Lily.
»So was passiert nie«, behauptete Rieker. »Ich hab nicht geschlafen, sondern nachgedacht.«
»Über mich?«, fragte Lily. »Über uns?«
Rieker griff nach dem Buch, das ihm aus den Händen gerutscht war. Der Titel lautete On the Silk Road Again.
»Gefällt dir das Buch?«, fragte Black Lily mit ihrer rauchigen Stimme. Inzwischen trug sie Jeans und T-Shirt und hatte Gelegenheit gefunden, Lippenstift aufzutragen, natürlich schwarz.
»Ist sehr … technisch.«
»Sagt dir der Autorenname was?«
Rieker las ihn. »Rossella Ulbricht. Es gab da mal einen Walter Ulbricht …«
Lily rollte mit den Augen. »Es gab auch einen Ross William Ulbricht, Gründer und Erstbetreiber des Darknet-Schwarzmarkts ›Silk Road‹.«
»Ach, und dieses Buch ist von seiner Schwester?«, fragte Rieker.
»Es ist von mir«, sagte Lily. »Ich hab mir ein passendes Pseudonym zugelegt.«
»Du schreibst?«
»Kleiner Nebenverdienst.«
Riekers Blick strich über die Bücherregale neben dem großen Doppelbett. »Wahrscheinlich bist du längst steinreich.«
Lily stemmte die Hände in die Hüften. »Macht mich das interessanter für dich?«
Rieker legte das Buch beiseite und stand auf. »Ich liebe dich auch ohne Geld, mein Schatz.« Er zeigte zum Schreibtisch. »Hast du was entdeckt?«
Das Notebook, wieder zusammengebaut, stand mit geschlossenem Deckel vor dem langen, gewölbten Monitor. Daneben lag ein Blatt Papier mit handschriftlichen Notizen. Lily nahm es und reichte es Rieker.
Er las den Text.
»Wie hast du das mit dem Passwort geschafft?«, fragte er.
»Betriebsgeheimnis.«
Rieker starrte auf das Blatt und versuchte, die Zusammenhänge zu verstehen.
»Harmony ist ein Start-up in Blankenese, schon ziemlich groß geworden«, erklärte Lily. »Inhaber sind Carolin Alberts und Noah Gunnason. Sie scheinen ein Paar zu sein, aber so ganz klar ist das offenbar nicht. Vielleicht eine Art On-off-Beziehung, so ähnlich wie bei du weißt schon. Ich hab ein bisschen nachgeforscht und festgestellt, dass das Unternehmen sehr schnell gewachsen ist und derzeit finanziell mit dem Rücken an der Wand steht. Die letzten Smart Drugs, die es auf den Markt gebracht hat, sind zwar erfolgreich, aber nicht erfolgreich genug. Den Durchbruch erhofft man sich mit Sleepless.«
Rieker dachte an die Pillenschachtel, die er aus der Asservatenkammer mitgenommen hatte.
»Übrigens hat Harmony für die Vermarktung von Sleepless seit heute Morgen eine offizielle Zulassung«, fuhr Lily fort. »Das ist bemerkenswert, weil so etwas normalerweise etwas länger dauert. Manfred Henkens – in der Schwulenszene als ›Sabinchen‹ bekannt – hat als Laborassistent bei Harmony gearbeitet. Offenbar hat er immer wieder Smarties mitgehen lassen und an Erik Meurer verkauft, der sie im Darknet anbot.«
»Auch Sleepless?«
»Auch und gerade Sleepless. Seit einem guten Monat. Der Preis dafür ist im Darknet in den letzten zwei Wochen um das Dreifache gestiegen. Mit diesen Geschäften dürfte allerdings Schluss sein, sobald Sleepless auf den Markt kommt.«
»Ein kleiner Nebenverdienst für Manni Henkens?«, fragte Rieker. »Das war alles? Er ließ bei Harmony Smarties mitgehen und vertickte sie an Meurer?«
»Sieht so aus«, sagte Lily.
»Könnte er selbst Kunde bei Meurer gewesen sein? War er drogensüchtig?«
»Offenbar nicht. Ich habe einen Blick in den Obduktionsbericht geworfen …«
»Ach, hast du bei Meister Kroge und Co vorbeigeschaut?«, fragte Rieker.
»Es gibt Mittel und Wege, Herr Kommissar.« Lily deutete zu ihrem Computer. »Wie dem auch sei, es wurden keine Hinweise auf Drogen gefunden. Was allerdings nicht viel bedeutet. Der neue synthetische Kram lässt sich nur sehr schwer nachweisen.«
Rieker dachte nach. »Meurer verkauft also Drogen im Darknet. Was Henkens’ Tod anbelangt, will er sich mit Notwehr herausreden, und vielleicht schafft er das sogar. Könnten wir ihn mit den Drogen festnageln?«
»Das sollte nicht unmöglich sein, wenn es gelingt, die IP-Adressen in den Darknet-Verkaufsbörsen seinem Computer zuzuordnen. Was aber wiederum nicht ganz leicht ist, weil er das anonyme Tor-Netzwerk benutzt. Allem Anschein nach lautet sein Nick ›Sweet Dreams‹.«
»Süße Träume? Lieber Himmel.« Rieker dachte an Carolin Alberts, schob diesen Gedanken aber zunächst beiseite. »Das alles hast du in einer Stunde herausgefunden?«
Black Lily hob die dunklen Brauen. »In vierzig Minuten. Ich hab dich etwas länger schlafen lassen.«
»Na so was.« Rieker blickte auf die Uhr. »Schlafen ist verlorene Zeit.«
Lily lächelte. »Kommt darauf an, mit wem.«
»Wenn ich um etwas bitten dürfte …«, sagte Rieker.
Lily kam einen Schritt näher. »Ja?«
»Könntest du weitere Nachforschungen anstellen? Was Meurers Drogengeschäfte im Darknet betrifft. Seine Verbindungen und so. Alles, was du herausfinden kannst.« Rieker überlegte kurz. »Außerdem würde ich gern wissen, wer Sleepless gekauft hat. Namen und Adressen wären sehr nützlich.«
»Das ist alles?«, erwiderte Black Lily mit unüberhörbarer Ironie. »Mehr nicht?«
»Leute wie Meurer müssen aus dem Verkehr gezogen werden«, sagte Rieker und ging zur Tür. »Deine Nachforschungen wären dabei eine große Hilfe.«
Lily folgte ihm. »Was krieg ich dafür?«
»Meine ewige Dankbarkeit.« Rieker öffnete die Tür.
»Aber es geht dir nicht nur darum, oder?«, fragte Lily. »Warum interessierst du dich so sehr für Sleepless?«
Rieker zögerte, die Tür halb geöffnet. »Stell dir vor, du müsstest nicht mehr schlafen. Stell dir vor, du wärst immer munter und frisch …«
»Schlaflos wie Sleepless?«
»Ja.«
»Ohne einen Kollaps nach ein paar Tagen?«
»Ohne einen Brummschädel oder was in der Art«, sagte Rieker. »Tag und Nacht, immer hellwach und fit.«
Lily nickte langsam. »Klingt nach einem guten Angebot. Es könnte nicht schaden, mehr Zeit zu haben. Für viele Dinge. Sehen wir uns heute Abend?«
»So gegen neun. Es wäre toll, wenn du bis dahin was herausfinden kannst.«