16.
Erik Meurer war ein unscheinbarer Mann: ein paar Jahre älter als Rieker, Mitte fünfzig, grauweißer Haarkranz, eine Brille mit dünnem Gestell und runden Gläsern – ein gesetzter, biederer Typ, den man sich gut dabei vorstellen konnte, wie er mit Ärmelschonern an einem Schreibtisch saß und Zahlen addierte. Doch in seinen Augen gab es etwas, das nicht zu diesem Bild passte, etwas, das aufmerksam beobachtete und nach schwachen Stellen Ausschau hielt.
Neben Meurer im Vernehmungszimmer der Untersuchungshaftanstalt Hamburg, von den Gefangenen »Dammtor« genannt, saß Antonius Jarre von »Jarre & Jarre«, der Ältere der beiden Jarre-Brüder, einer der teuersten Anwälte weit und breit. Er hatte auch Brois vertreten und dafür gesorgt, dass der ehemalige Innensenator eine überraschend milde Strafe erhielt und nur ein Jahr ins Gefängnis hatte gehen müssen, während der Rest zur Bewährung ausgesetzt worden war.
»So sieht man sich wieder, Kommissar Rieker«, sagte Antonius Jarre und lächelte. Erik Meurer lächelte nicht. Er saß wie ein Häufchen Elend da und sah aus wie jemand, der Mitleid verdiente.
»Wie geht’s Brois?« Rieker setzte sich an den Tisch, den beiden so verschiedenen Männern gegenüber, die offenbar nur eins gemeinsam hatten: ihre Liebe zum großen Geld. »Grüßen Sie ihn von mir.«
Jarre, wie fast immer in einen dunklen Anzug gekleidet, legte ein Smartphone auf den Tisch. »Ich zeichne das Gespräch auf, wenn Sie gestatten.«
Rieker zuckte mit den Schultern und wandte sich an Meurer. »Ihre Geschäfte scheinen gut zu laufen. Ich meine, das Penthouse in der Langen Reihe hat bestimmt eine Stange Geld gekostet.«
Meurer seufzte nur.
»Die ›Sweet Dreams‹ haben Ihnen ein hübsches Einkommen beschert, nicht wahr?«, fragte Rieker.
Meurer blinzelte.
»Wir kennen Ihren Nick.« Rieker lehnte sich zurück und verschränkte die Arme. »Wir kennen Ihre Darknet-Geschäfte. Und da Sie uns netterweise Ihr Notebook hinterlassen haben, werden wir auch imstande sein, die IP-Adressen mit Ihnen in Verbindung zu bringen.«
Der unscheinbare Mann schüttelte den Kopf. »Ich weiß nicht, wovon Sie reden.«
»Von Ihren Geschäften mit Drogen. Eine schwarze Blume ist gerade damit beschäftigt, ihnen auf den Grund zu gehen.«
»Was?«, entgegnete Meurer verwundert.
»Eine Blume, schwarz. Dunkel wie das Darknet, in dem Sie gern unterwegs sind. Hat einen sehr scharfen Blick, diese Blume. Sie wird finden, was wir brauchen. Wir kriegen Sie dran, Herr Meurer. Vergessen Sie Ihr hübsches Penthouse. Vergessen Sie Ihre lukrativen Geschäfte. Wir bringen Sie wegen Drogenhandel hinter Gitter, für mindestens zehn Jahre.«
Meurer sah ihn nur an.
»Wenn Sie erlauben, Kommissar Rieker«, warf der Anwalt ein. »Mein Mandant sitzt nicht wegen Drogenhandel in Untersuchungshaft, sondern weil ihm Mord zur Last gelegt wird. Ich schlage vor, Sie kommen zur Sache.«
»Wir sind bei der Sache, meiner bescheidenen Meinung nach«, erwiderte Rieker ruhig, ohne Jarre anzusehen. »Eine Auseinandersetzung zwischen zwei Dealern, einem kleinen und einem großen. Und der große erschießt den kleinen. Sozusagen ein geschäftlicher Konflikt, der eskaliert ist.«
»Es war Notwehr«, sagte Antonius Jarre. »Mein Mandant wurde plötzlich angegriffen.«
»Hat sich Sleepless gut verkauft?«, fragte Rieker.
Die Augen hinter den runden Brillengläsern beobachteten ihn.
»Wie viel hat Ihnen Manfred Henkens beschafft?«, fuhr Rieker fort. »Von Sleepless und den anderen Smart Drugs, die Harmony entwickelt? Er saß direkt an der Quelle. Kleiner Nebenverdienst für ihn. Wollten Sie mehr von ihm, Meurer? Mehr, als Henkens liefern konnte? Kam es deshalb zu einer Auseinandersetzung? Weil Sie mehr von ihm verlangt haben, als er beschaffen konnte?«
Erik Meurer schwieg noch immer.
»Oder ging es vielleicht um etwas ganz anderes? Betraf der Streit eine sehr persönliche Sache zwischen Ihnen beiden?« Rieker lächelte. »Waren Sie ein Paar? Hatten Sie ein Verhältnis mit Sabinchen?«
Das kratzte ein bisschen an Meurers gleichgültiger Fassade. »Ich bin nicht homosexuell.«
»Pech für Sie. So was scheint heutzutage zum guten Ton zu gehören.«
»Sind Sie schwul, Kommissar Rieker?«, fragte Antonius Jarre.
Rieker zuckte mit den Schultern. »Ich war verheiratet. Mit einer Frau, wenn Sie’s genau wissen wollen.«
»Vielleicht hat Ihre Frau deshalb Schluss gemacht«, sagte Jarre. »Vielleicht ist sie deshalb zu Brois.«
Rieker merkte, dass er sich ärgerte. Und dann ärgerte er sich darüber, dass er sich ärgerte. Es war dumm, sich von jemandem wie Antonius Jarre provozieren zu lassen.
»Warum haben Sie Manfred Henkens erschossen, Meurer?«
»Herr Meurer!«, intervenierte Jarre.
»Um mein Leben zu retten«, antwortete Meurer.
»Er hatte keine Waffe«, sagte Rieker. »Sie hatten eine Pistole.«
»Sie hätten ihn sehen sollen.« Meurers Worte klangen seltsam. Sie hatten eine Eindringlichkeit, der sich Rieker nicht entziehen konnte. »Als er zu mir kam, dachte ich zuerst, er hätte Fieber. In seinen Augen lag ein seltsamer Glanz, und er hatte Schweiß auf der Stirn …«
»Warum kam er zu Ihnen?«, warf Rieker ein.
Erik Meurer achtete nicht darauf. Er nahm die Brille ab und rieb sich die Augen. »Er konnte nicht still sitzen, stand immer wieder auf und ging unruhig umher. Wie ein Raubtier in einem Käfig. Und dann wurde er plötzlich fuchsteufelswild. Er begann zu schreien, riss Bilder von den Wänden und warf mit Gegenständen um sich. Er geriet völlig außer sich. Schließlich schnappte er sich einen Aschenbecher und wollte mir damit den Schädel einschlagen.«
Rieker nickte bedächtig. »Rauchen schadet der Gesundheit.«
»Ich rauche nicht, Kommissar«, erwiderte Erik Meurer ungerührt. »Der Aschenbecher war ein Ziergegenstand, ein Souvenir aus Massa Carrara in Italien. Aus rotem Marmor.«
»Hoffentlich ist er nicht zerbrochen«, kommentierte Rieker.
»Ihre seltsame Art von Humor ist hier fehl am Platz, Kommissar Rieker«, betonte der Anwalt. »Das Leben meines Mandanten stand auf dem Spiel.«
»Ich holte meine Pistole hervor, um Henkens in Schach zu halten, um ihn abzuschrecken und zur Vernunft zu bringen«, sagte Meurer. »Aber er wurde noch verrückter und wollte sich auf mich stürzen. Sie hätten ihn erleben sollen, es war unglaublich.«
»Und da haben Sie geschossen.«
»Ich wollte das Bein treffen.«
»Sie haben auf das Bein gezielt und den Kopf getroffen?«, vergewisserte sich Rieker.
»Es ging drunter und drüber«, entgegnete Meurer. »Ich wollte ihn nicht töten, nur aufhalten.«
»Ein klarer Fall von Notwehr«, sagte Antonius Jarre. »Wir haben bereits Haftentlassung beantragt. Ich bin guter Hoffnung, dass mein Mandant bis heute Abend wieder auf freiem Fuß ist.«
Rieker stand auf. »Versprechen Sie Ihrem Mandanten nicht zu viel. Ich werde der Staatsanwaltschaft neue Ermittlungsergebnisse vorlegen und bin ziemlich sicher, dass sie dann auch Anklage wegen Drogenhandel erheben wird.«
Er ging zur Tür.
»Bestellen Sie Brois einen schönen Gruß«, sagte er zum Abschied.
»Ich richte es ihm gern aus«, erwiderte Antonius Jarre ungerührt. »Ihm und Ihrer Ex.«