17.
Carolin Alberts
Carolin sah besser, hörte mehr und dachte schneller. Es erinnerte sie an ihre besten Zeiten, wenn die Arbeit wie zu einem Rausch wurde, zu einer Art angenehmer Besessenheit, wenn sich alles schnell und leicht zusammenfügte, als hätte sie es mindestens ein Dutzend Mal geübt. Sie beobachtete sich selbst, während sie mit Mika und Helena vom Marketing sprach und den vorbereiteten Werbekampagnen den letzten Feinschliff gab. Sie lauschte den eigenen Worten und hörte Klarheit in ihnen. Alles war deutlicher. Ein grauer Schleier schien von der Welt gezogen, die Farben waren kräftiger, die Kontraste schärfer. Damit einher ging eine schattenlose gute Stimmung, keine gefährliche Euphorie, die die Vernunft trübte, sondern ein permanenter, unerschütterlicher Optimismus, eine Zuversicht, die alles leicht von der Hand gehen ließ.
Bei Produktion und Vertrieb steckte sie Jonathan, Nils und Erika mit ihrem Enthusiasmus an. »Es geht los«, sagte sie. »Große Geschäfte stehen in Aussicht, ein steiler Aufstieg, von dem alle profitieren werden, wir sind wie eine große Familie.«
Die eigenen Produktionskapazitäten reichten natürlich nicht aus, es musste mit Lizenznehmern verhandelt werden. »Kein Problem, wir kümmern uns um alles«, bekam Carolin zur Antwort. »Wir sprechen mit unseren Partnern, wir fahren die Produktion hoch, Sleepless steht ab sofort an der Spitze unseres Smarties-Angebots.«
Als Carolin auf die Uhr sah, stellte sie fest, dass vier Stunden vergangen waren, und sie hatte das Gefühl, in dieser Zeit mehr geschafft zu haben als sonst in zwei Tagen.
Auf dem Weg zum Büro kam ihr Dorothea vom Empfang entgegen. »Er ist wieder da.«
»Wer?«, fragte Carolin und dachte daran, ob sie eine weitere Pille nehmen oder bis zum Abend damit warten sollte. Eine pro Tag, das war die empfohlene Dosis, Noah hatte sie daran erinnert. Aber vielleicht waren zwei besser.
»Der Kommissar von der Kriminalpolizei«, sagte Dorothea. »Von der Mordkommission. Er wartet im Besucherzimmer.«
Die gute Stimmung verließ Carolin nicht, als sie das Besucherzimmer betrat. Rieker stand dort, wo tags zuvor Gilbert Fournier von Kruither & Voch gestanden hatte – er betrachtete das Foto der jungen Frau zwischen den beiden alten Gebäuden.
»Hallo, Frau Alberts«, sagte er freundlich. »Ein erstaunliches Bild. Die Frau ist traurig, man spürt es irgendwie. Vielleicht hat sie in einem der beiden Häuser gewohnt. Gleichzeitig strahlt sie irgendwie Zuversicht aus.«
»Manchmal kann man mit der Kamera mehr einfangen, als das Auge sieht«, erwiderte Carolin. »Darf ich Ihnen etwas anbieten? Möchte Sie einen Kaffee?«
»Nein danke. Von wem stammen die Bilder? Sie haben mich schon bei meinem ersten Besuch beeindruckt.«
»Von mir.«
Rieker nickte anerkennend. »Offenbar sind Sie eine sehr begabte Fotografin.«
»Ich wünschte, ich hätte mehr Zeit dafür«, antwortete Carolin. Und dann dachte sie voller Freude: Jetzt habe
ich mehr Zeit dafür. Ich kann abends und nachts auf Motivsuche gehen.
Sie deutete auf einen der Sessel. »Ich hoffe, es ist nicht wieder jemand ermordet worden.«
Rieker setzte sich. Carolin nahm auf der anderen Seite des Tisches Platz. Sie saß mit geradem Rücken, die langen Beine zur Seite geneigt.
»Adrian Ludson wurde nicht ermordet«, sagte Rieker. »Er beging Selbstmord. Aber jemand anders wurde erschossen. Jemand, den Sie kennen.«
»Ach?« Sie hätte besorgt sein sollen, das wusste sie, aber sie war nur neugierig. An ihrer guten Stimmung änderte sich nichts.
»Manfred Henkens«, sagte Rieker.
Er wartete auf eine Reaktion. Carolin wich seinem Blick nicht aus und sah ihren ersten Eindruck bestätigt. Kommissar Rieker von der Kriminalpolizei trug seine Freundlichkeit tatsächlich wie eine Maske, hinter der ein messerscharfer Verstand steckte. Aber mit ihrer besonderen Klarheit sah sie noch etwas mehr: einen jung gebliebenen, sportlichen Mann um die fünfzig, der immer und überall nach seinen eigenen Prinzipien lebte, jemanden, der nur dann Kompromisse einging, wenn es seine Vorstellungen von Moral und Ethik zuließen. Als Freund und Verbündeter war ein solcher Mann eine große Hilfe, doch wenn man ihn zum Gegner hatte, konnte man schnell in Schwierigkeiten geraten. Ein Unbestechlicher: Es hatte keinen Sinn, seinem Ego zu schmeicheln, auf welche Art auch immer, denn das Ego spielte keine Rolle für ihn.
»Einer unserer Laborassistenten«, sagte Carolin.
»Man hat seine Leiche in der Wohnung eines Drogendealers in St. Georg gefunden. Ich habe mit dem mutmaßlichen Täter gesprochen, der in Untersuchungshaft sitzt. Angeblich war es Notwehr. Henkens soll durchgedreht sein.«
Carolin erkannte sofort die Verbindung. »So wie Adrian Ludson?«
Rieker zuckte mit den Schultern. »Auch möglich, dass sich der Dealer damit herausreden will. Notwehr, das bekommen wir oft zu hören. Was meinen Sie?«
»Sie fragen mich nach meiner Meinung?«, wunderte sich Carolin.
»Warum nicht?«
Ein Test, dachte sie. Er stellt mich auf die Probe.
»Der arme Manfred«, sagte sie. »Ich hab ihn gemocht. Er hat immer gute Arbeit geleistet und war sehr nett.«
»Er hat Sie beklaut.«
»Wie bitte?«
Rieker holte eine Schachtel mit grünem Balkenmuster hervor und legte sie auf den Tisch. »Kommt Ihnen das bekannt vor?«
»Natürlich«, antwortete Carolin sofort. »Das ist eine unserer Packungen.«
»Sie wurde bei dem Dealer gefunden.«
»Und wie kam sie dorthin?«
»Wie es scheint, hat ihm Manfred Henkens Ihre neuen Smart Drugs
verkauft, darunter auch das hier.« Rieker deutete auf die Schachtel. »Sleepless.«
Carolins gute Stimmung trübte sich ein wenig. Hier bahnte sich etwas an, das ihr nicht gefiel.
Sie streckte die Hand nach der Schachtel aus, aber Rieker kam ihr zuvor und steckte die Packung mit dem grünen Balkenmuster wieder ein.
»Tut mir leid«, sagte er. »Beweismaterial.«
»Ich verstehe. Sie vermuten einen Zusammenhang.«
Rieker lehnte sich zurück und faltete die Hände im Schoß. »Adrian Ludson stieß sich einen Dolch sechzehnmal in den Leib und rammte ihn sich dann in die Schläfe. Zuvor war er eine Woche in psychiatrischer Behandlung. Er nahm Ihre Testversion von Sleepless, einen Monat lang.«
Carolin hörte stumm zu.
»Und dann haben wir Manfred Henkens, der zwar gute Arbeit geleistet hat und nett war, wie Sie sagen, aber nicht ehrlich. Er ließ Ihre Smarties mitgehen und hat sie einem Dealer verkauft, der im Darknet mit Drogen aller Art handelt. Und auch Henkens ist durchgedreht.«
»Behauptet der Dealer«, warf Carolin ein.
Rieker nickte. »Behauptet der Dealer. Der sich, wie gesagt, vielleicht nur herausreden will. Immerhin hat er Henkens erschossen und möchte sich nicht wegen Mord verantworten müssen. Wissen Sie, Frau Alberts, unsere forensischen Spezialisten verstehen ihr Handwerk. Es sind wirklich gute Leute. Sie sind dabei, jedes noch so klitzekleine Detail des Kampfes, der in der Wohnung des Dealers stattfand, zu rekonstruieren. Außerdem gibt es im Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf einen Gerichtsmediziner, den ich gut kenne und der bei der Obduktion sehr gründliche Arbeit leisten wird. Wir werden herausfinden, ob Henkens durchgedreht ist oder nicht. Wir stellen auch fest, ob er selbst Sleepless genommen hat.«
»Selbst wenn, was würde es beweisen?«
»Die Gefährlichkeit Ihrer neuen Smart Drug?«, entgegnete Rieker freundlich.
»Sie ist nicht gefährlich«, sagte Carolin ganz ruhig, aber mit Nachdruck. »Ganz im Gegenteil, sie schenkt den Menschen ein
besseres, längeres, erfüllteres Leben. Wir haben die Zulassung bekommen und können Sleepless endlich auf den Markt bringen. Außerdem … Sehen Sie mich an.«
»Ich sehe Sie an«, sagte Rieker mit einem angedeuteten Lächeln.
»Ich nehme selbst Sleepless. Halten Sie mich für jemanden, der gleich Amok laufen könnte?«
Rieker schwieg einige Sekunden und hielt den Blick auf sie gerichtet. Carolin fragte sich, was ihm durch den Kopf ging. Sein Gesicht verriet nichts.
»Ich halte Sie für eine sehr kluge Frau«, sagte er schließlich und stand auf.
Carolin erhob sich ebenfalls. »Wenn ich Ihnen irgendwie behilflich sein kann …«
»Dann komme ich gern auf Sie zurück.« Rieker ging zur Tür, öffnete sie und zögerte. »Da wäre noch eine Sache.«
»Ja?«
»Wer hat die Zulassung für Sleepless erteilt?«
Carolin gab sofort Antwort, alles andere wäre dumm gewesen. »Doktor Felix Arents, Leiter der Zulassungsabteilung beim Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte.«
Rieker nickte. »Ich wünsche Ihnen viel Erfolg«, sagte er und ging.
Carolin stand am Fenster und sah Rieker nach, wie bei seinem ersten Besuch. Diesmal telefonierte er nicht erst mit dem Handy, sondern schwang sich sofort aufs Fahrrad und verschwand wenige Sekunden später hinter der hohen Hecke.
Sie blickte noch eine Zeit lang nachdenklich nach draußen, bevor sie ihr Büro aufsuchte und mit dem Eifer arbeitete, der sie seit den frühen Morgenstunden begleitete. Als es draußen dunkel zu werden begann, sah Noah zu ihr herein.
»Heute Abend?«, fragte er.
»Aber klar, Noah«, sagte Carolin liebevoll, »ich hab’s nicht vergessen.«
»Bis später«, erwiderte Noah erfreut und zugleich erleichtert und schloss die Tür.
Carolin beobachtete, wie das Tageslicht schwand. Nach einer Weile zog sie die Schreibtischschublade auf, nahm die kleine
elfenbeinfarbene Schatulle, öffnete sie und betrachtete die grünen Pillen darin. Sie fühlte sich so fit und ausgeruht wie nach acht Stunden erholsamem Schlaf. Ein langer Tag lag hinter ihr, aber der Abend begann gerade erst, und sie hatte noch eine ganze Nacht vor sich.
Sie schluckte eine der grünen Pillen, lächelte in halbdunkler Stille und fügte der ersten eine zweite hinzu.
Sie legte die kleine Schatulle nicht zurück in die Schublade, sondern steckte sie in ihre Handtasche, griff nach ihrer Digitalkamera und machte sich auf den Weg in die Stadt, um nach Fotomotiven zu suchen.