18.
Gilbert Fournier
Ein Besucher, der die Büroräume im zehnten Stock erreichte, bekam das Gefühl, eine Welt kühler grauer Eleganz zu betreten. Sie passte zu dem Mann, der gern bleigraue Anzüge trug und schon früh am Schreibtisch des größten Büros saß. Die breiten Fenster boten Blick auf die Elbphilharmonie, doch das urbane Panorama interessierte Gilbert Fournier nicht. Ihn faszinierten die Zahlen auf den drei Computermonitoren.
Sie berichteten von Geschäften, erzählten von Gewinnen und Verlusten, Krediten, Aktienkursen, Sicherheiten und Prognosen. Ihre Geschichten steckten voller Spannung und Überraschungen. Nur wenige von ihnen gaben Auskunft über Verkäufe von Arzneien und Medikamenten aus dem Angebot von Kruither & Voch. Die meisten betrafen geschäftliche Erweiterungen: Tochtergesellschaften, Mehrheitsbeteiligungen an formell unabhängigen Unternehmen, geplante Übernahmen, Wachstum in Entwicklungsmärkten wie Osteuropa und vielversprechende Start‑ups, die genau beobachtet wurden.
Das finanzielle Geflecht, das diese Zahlen beschrieben, bildete, wenn man es mit den Augen des Ästheten sah, ein Gemälde von stiller, erhabener Schönheit, das Gilbert Fournier stundenlang genießen konnte, wenn ihm genug Muße blieb.
Eins der Unternehmen auf der Beobachtungsliste war mit einem Prioritätszeichen markiert. Es hieß Harmony.
Für einen gewöhnlichen Bilanzprüfer hätten die Zahlen schlecht ausgesehen: hohe Entwicklungs- und Personalkosten, zu geringe
eigene Produktion, eine Verwaltung, der es an Effizienz mangelte – der Ertrag stand in keinem angemessenen Verhältnis zum Kapitalaufwand. Aber Fournier konnte in die verborgenen Tiefen hinter diesen Daten blicken, und was er dort sah, erfreute ihn. Er war Wachstumsmanager, der beste, den Kruither & Voch je gehabt hatten. Er wusste, auf welche Zahlen es im großen Bild ankam, und er hatte ein Gespür für ihre Entwicklungen, für die Richtung, die sie einschlagen würden.
Deshalb hatte er wie bei anderen Gelegenheiten auf sein Netzwerk aus Kontakten und guten Beziehungen zurückgegriffen, um den Weg für eine schnelle Übernahme zu ebnen, bevor sich Harmonys finanzielle Lage besserte und aus dem Start-up, das relativ billig erworben werden konnte, ein Unternehmen von nationaler oder gar internationaler Bedeutung wurde, ein Konkurrent von Kruither & Voch.
Fournier hatte dafür gesorgt, dass die Banken mit ihren Krediten weniger großzügig wurden, was den finanziellen Spielraum von Harmony immer mehr einengte. Mit dem Einsatz solcher Mittel musste man natürlich sehr vorsichtig sein, aber man konnte damit große Wirkung erzielen. Es würde nur noch wenige Tage dauern, bis Carolin Alberts und Noah Gunnason gar keine andere Wahl blieb, als Harmony zu verkaufen, wenn sie einen ruinösen Konkurs vermeiden wollten.
Mit tiefer Zufriedenheit betrachtete Gilbert Fournier die Zahlen. Fünf Millionen Euro für ein Unternehmen, das tatsächlich zehnmal so viel wert war, wie Gunnason gesagt hatte. Und das in wenigen Monaten, spätestens in ein, zwei Jahren, fünfhundert Millionen Euro wert sein konnte.
Für Fournier bedeutete die erfolgreiche Transaktion einen Bonus von dreihunderttausend Euro. Er mochte Zahlen, auch auf seinem Konto.
Ein kleines akustisches Signal wie das Läuten einer fernen Glocke wies auf den Eingang einer Nachricht hin. Fournier klickte mit der Maus, ein Bildschirmfenster öffnete sich, und er las den Text.
Schon nach wenigen Sekunden bildeten sich dünne Falten auf seiner Stirn.
Es hatte zwei Tote gegeben, die womöglich mit Sleepless in Verbindung standen, dem neuen Produkt, in das Carolin Alberts und
Noah Gunnason so große Hoffnung setzten. Die Polizei ermittelte, ein gewisser Kommissar Rieker …
Der Name berührte etwas in Fournier. Er hatte ein gutes Gedächtnis und erinnerte sich an den Mann, dem er unmittelbar nach seinem Besuch bei Harmony vor dem Anwesen der Firma begegnet war. Das Gesicht hatte vertraut gewirkt, und nun bekam es einen Namen:
Alexander Rieker, der Polizeikommissar, der Innensenator Brois zu Fall gebracht hatte. Ein neugieriger Mann, der sehr hartnäckig sein konnte – so beschrieben ihn Gilbert Fourniers Kontakte. Der Skandal hatte hohe Wellen geschlagen, aber nicht alles an die Oberfläche gespült. Nur ein kleiner Teil von dem, was hinter den Kulissen von Stadt und Senat geschah, war ans Licht gekommen. Der Rest befand sich noch immer in den Schatten, die gute Geschäfte ermöglichten, unsichtbar für die meisten.
Auch die zweite wichtige Information in der Mail betraf das neue Produkt von Harmony: Sleepless hatte eine offizielle Zulassung des Bundesinstituts für Arzneimittel und Medizinprodukte bekommen. Vertrieb und Verkauf konnten beginnen.
Dadurch veränderte sich die Situation. Die Karten wurden neu gemischt.
Sleepless würde frisches Geld in Harmonys Kassen bringen, und dadurch bekamen Carolin Alberts und Noah Gunnason neuen finanziellen Spielraum. Mit anderen Worten: Sie würden ihre Firma nicht in wenigen Tagen für fünf Millionen Euro verkaufen müssen!
Gilbert Fournier überlegte.
Nach einer Minute griff er nach seinem Handy und wählte eine Nummer.
Beim zweiten Klingeln nahm jemand ab. »Ja?«
»Ich bin in zwanzig Minuten bei Ihnen«, sagte Fournier, unterbrach die Verbindung und steckte das Handy ein.
Er fuhr den PC herunter, nahm ein leeres Blatt Papier, schrieb eine Zahl darauf, faltete das Blatt und schob es in die Innentasche des Jacketts.
Dann stand er auf und verließ das Büro.
Die Schaufenster zeigten Bilder von Eigentumswohnungen, Villen und Ferienhäusern in Südeuropa.
Richard M. Richardson aus Leeds, Yorkshire, führte seit mehr als zwanzig Jahren eine erfolgreiche Immobilienagentur, die aber nur Fassade für seine eigentlichen Geschäfte war – er handelte vor allem mit Informationen.
Fournier trat ein. Ein junger Mann in Anzug und mit Krawatte und Gel im Haar sah vom Schreibtisch auf. »Guten Tag«, sagte er betont freundlich. »Wie kann ich Ihnen helfen?«
»Herr Richardson erwartet mich«, erwiderte Fournier.
Richard Mason Richardsons mehr als zwanzig Quadratmeter großes Büro war eingerichtet wie ein altenglischer Salon, mit dunklem Holz an Wänden und Decke, wuchtigen Polstermöbeln und einem vier Meter langen Schreibtisch aus Mahagoni. Der alte Richardson – inzwischen war er fast achtzig – erhob sich mit steifer britischer Würde, nickte einen wortlosen Gruß und deutete auf den großen Sessel vor dem Schreibtisch.
Gilbert Fournier setzte sich und hörte, wie das Lederpolster unter ihm knarrte. Die Vorhänge am Fenster waren halb zugezogen. Zu viel Licht blendete den alten Richardson.
»Ich brauche Ihre Hilfe«, sagte Fournier.
Richardson nickte bedächtig. »Wie wichtig ist es?«, fragte er mit einer rauen Stimme, die etwas mühsam klang. »Und wie eilig?«
»Sehr wichtig und sehr eilig.«
Richardson sah ihn aus wässrigen grauen Augen an. Sein blasses Gesicht war eine Faltenlandschaft. »Das kostet extra, wie Sie wissen.«
Fournier zog das gefaltete Blatt aus der Innentasche des Jacketts, legte es auf den Schreibtisch und schob es zur anderen Seite.
Richardson betrachtete das Papier einige Sekunden lang, bevor er es nahm und entfaltete.
»Das ist sehr großzügig«, sagte er.
Es lohnte sich nicht, knauserig zu sein, fand Fournier. Und außerdem musste er den hohen Betrag nicht aus eigener Tasche zahlen, er konnte ihn unter »Spesen« verbuchen.
»Worum geht es?«, fragte Richardson.
»Wir möchten ein Start-up namens Harmony kaufen und benötigen Informationen, die den Kauf erleichtern.«
Gilbert Fournier erklärte, was er meinte …