19.
Alexander Rieker
Die schwarze Lilie hatte aufgeräumt – sie hatte sich richtig Mühe gegeben, das musste man ihr lassen. Der große Raum wie eine Mischung aus Schlafzimmer, Büro, Küche und Rumpelkammer sah nicht mehr ganz so wüst aus, das Bett war gemacht und mit zwei roten Kissen geschmückt. Der Essenstisch am Fenster war für zwei Personen gedeckt, eine Kerze brannte zwischen den Tellern.
Rieker sah sich um. »Hübsch.«
»Gefällt’s dir?« Das schwarze Haar offen, die Augen dunkel, Fingernägel wie üblich in Pearl Black, dazu ein Kleid aus schwarzer Spitze, schwarze Strümpfe und schwarze Schuhe – Black Lily sah aus wie die Gothic-Version von Schneewittchen.
»Bei dir braucht man nicht lange zu raten, was deine Lieblingsfarbe ist«, bemerkte Rieker.
Lily deutete zum Tisch. »Setz dich. Es gibt dein Lieblingsgericht.« Sie ging zur Küchenzeile, wo die Dunstabzugshaube über dem Herd summte. »Spaghetti.«
»Schwarze?«, fragte Rieker.
Er nahm am Tisch Platz und sah aus dem Fenster. Es war dunkel geworden. Hier und dort brannte noch Licht hinter den Fenstern des nahen Polizeipräsidiums am Bruno-Georges-Platz.
»Einige deiner Kollegen sind weiterhin fleißig«, sagte Lily und brachte den Salat.
»So sieht’s aus.«
Sie warf ihm ein dunkles Lächeln zu. »Von hier aus wäre es für dich nur ein Katzensprung zur Arbeit.«
Rieker seufzte laut. »Mein neues Büro befindet sich in St. Pauli, mit herrlichem Blick in einen Hinterhof, wo ein alter Mann von neun bis zwölf neben einer alten Buche sitzt, jeden Tag, bei jedem Wetter, ob es regnet oder stürmt.«
»Klingt nach einem interessanten Typen.« Lily kam mit den Spaghetti. Sie waren weiß, mit roter Frutti-di-mare-Soße.
»Klingt nach ziemlich viel Einsamkeit, wenn du mich fragst.« Rieker probierte die Spaghetti und nickte anerkennend. »Hervorragend!«
Lily nickte zufrieden.
»Wie war dein Tag?«, fragte sie beim Essen, eine dunkle, anmutige Präsenz auf der anderen Seite des Tisches. »Bist du weitergekommen?«
»Du willst Ermittlungsdetails wissen? Tut mir leid, die dürfen niemandem außerhalb des Polizeidienstes anvertraut werden.«
»Du isst meine Spaghetti«, sagte Lily.
»Stimmt. Tja, also … Ich bin bei Meurer in der Untersuchungshaft gewesen. Er streitet alles ab. Ich meine, er streitet ab, Manfred Henkens ermordet zu haben. Er besteht auf Notwehr.« Die Spaghetti waren wirklich gut. Rieker aß mit Heißhunger.
»Kein Wunder in seiner Situation.« Lily trank einen Schluck Wein. Rieker blieb wie üblich bei Orangensaft.
»Anschließend bin ich noch einmal bei Harmony gewesen und habe mit Carolin Alberts gesprochen. Eine sehr beeindruckende Frau.«
Lily schürzte die dunklen Lippen. »Muss ich eifersüchtig werden?«
»Ach, ich liebe nur dich, mein Schatz«, sagte Rieker munter. »Zwei Tote, und bei beiden war Sleepless im Spiel, die neueste Smart Drug von Harmony. Ich habe Carolin Alberts die Schachtel mit den Pillen gezeigt, die wir bei Henkens gefunden haben.«
»Und?«
»Und nichts. Sie nimmt selbst Sleepless, hat sie gesagt. Ob sie aussähe wie jemand, der gleich Amok laufen würde.«
»Hat sie so ausgesehen?«
Rieker sah sie vor dem inneren Auge, langbeinig und schön, sehr intelligent, sehr selbstsicher, sehr aufmerksam und sehr, sehr wach. »Definitiv nicht.«
»Also ist Henkens nicht durchgedreht, zumindest nicht wegen Sleepless. Übrigens wird das Smartie seit heute verkauft.«
»Oh, das ging schnell.« Rieker genoss die Spaghetti, schloss genießerisch die Augen und reckte den Daumen nach oben. »Carolin Alberts hat die Zulassung erwähnt, aber ich dachte, bis zu Vertrieb und Verkauf würde es einige Tage dauern.«
»Es dürfte alles gut vorbereitet gewesen sein. Ebenso das Marketing. Die Sleepless-Werbung ist ganz groß angelaufen. Online ist sie geradezu omnipräsent, in allen sozialen Medien, ganz groß bei YouTube. Die bekanntesten Influencer sind voll des Lobes.«
»Weil sie dafür bezahlt werden.«
»So läuft das, ja. Die Influencer heißen eben nicht umsonst Influencer, wenn du das kleine Wortspiel gestattest. Sie haben Einfluss. Über sie erreicht man mehr Menschen und mehr potenzielle Kunden als über die traditionellen Marketingkanäle. Harmony darf mit einem glänzenden Geschäft rechnen. Und Meurer kann Sleepless von der Liste seines Angebots streichen.«
Rieker legte die Gabel auf den leeren Teller. »Hast du was herausgefunden, Lily?«
»Genug, um Erik Meurer festzunageln, denke ich. Nicht wegen Mordes, aber wegen Drogenhandel im Darknet. Er ist schlau und sehr vorsichtig gewesen, aber selbst die Schlauen und Vorsichtigen machen Fehler, vor allem dann, wenn sie sich sicher fühlen.«
»Konntest du die IP-Adressen zuordnen?«
Lily lächelte hintergründig. »Ich habe den ganzen Nachmittag damit verbracht, seine Spuren im Darknet zu verfolgen.« Sie deutete zum Schreibtisch mit dem langen gewölbten Monitor. »Es ist alles fertig. Eine Liste, die du Kowalski vorlegen kannst. Wie auch immer die Sache mit Manfred Henkens ausgeht, ob Meurer mit Notwehr durchkommt oder nicht, ihr könnt ihn auf jeden Fall wegen Drogenhandel drankriegen.«
»Sehr gut«, sagte Rieker. »Danke, Lily.«
»Mehr hast du nicht zu bieten?« Sie gab vor zu schmollen. »Nur ein Danke?«
Rieker lächelte.
»Das ist noch nicht alles«, fügte sie ernster hinzu. »Ich habe auch einige Nachforschungen hinsichtlich Harmony angestellt. Was man im Internet so findet. Was man so sieht und hört, wenn man aufmerksam ist.«
Rieker schwieg und fragte sich erneut, ob Black Lily Verbindungen zum Geheimdienst hatte. Ihre »besonderen Quellen«, die sie manchmal erwähnte, befanden sie sich vielleicht beim Bundesnachrichtendienst? Oder bei einer der Abteilungen für die Abwehr von Cyberangriffen? Er hatte Lily nie direkt danach gefragt, weil er sie nicht zu einer Lüge zwingen wollte.
»Der internationale pharmazeutische Konzern Kruither & Voch hat Interesse an Harmony.« Lily drehte ihr Weinglas in den Händen. »Angeblich gab es einen Deal mit den Banken: Eine finanzielle Durststrecke sollte Harmonys Inhaber zum Verkauf zwingen.«
»Hat offenbar nicht funktioniert«, meinte Rieker.
»Nein. Aber es war sehr, sehr knapp. In einigen Tagen hätten Alberts und Gunnason verkaufen müssen, denn die Banken hatten weitere Kredite abgelehnt. Jetzt scheint Harmony aus dem Schneider zu sein.«
»Mit Sleepless.«
»Genau. Sie haben die Zulassung gerade rechtzeitig bekommen. Bald fließt neues Geld in die Kassen, und dann ist der finanzielle Engpass endgültig vorbei.« Lily stellte ihr Glas ab. »Es ging ziemlich schnell mit der Zulassung. Schneller als sonst. Es heißt, Carolin Alberts habe sich persönlich darum gekümmert. Auf sehr
persönliche Weise. Sie traf sich mehrmals mit Doktor Felix Arents, dem Leiter der Zulassungsabteilung beim Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte.«
»Interessant«, kommentierte Rieker.
»Sie verbrachte die vergangene Nacht bei ihm«, sagte Lily. »Und siehe da, am Morgen hatte sie die Zulassung.«
»Sie ist mit ihm ins Bett gegangen?«
»Glaubst du etwa, sie hat auf dem Sofa geschlafen?« Lily rümpfte die Nase. »Nun ja, ich bin nicht dabei gewesen. Kommen wir noch mal zu Kruither & Voch …«
»Ja?«
»Es gibt Verbindungen zwischen K & V und der Finanzgruppe um Innensenator Brois. Du hast Brois ins Gefängnis gebracht, aber sein Netzwerk in Politik und Wirtschaft existiert noch. Die großen grauen Eminenzen von Geld und Macht in Stadt und Land haben ihren Einfluss nicht verloren.«
»Ich weiß«, sagte Rieker. »Ich verdanke ihnen mein neues Büro.« Harmony, Kruither & Voch und Brois’ Finanzclique – das war ein echtes Wespennest, und wenn er es anstieß … Rieker stellte sich vor, selbst einmal ein alter Mann zu sein, der allein in irgendeinem Hinterhof saß und mindestens drei Stunden am Tag über die großen Fehler seines Lebens nachdachte.
»Und noch etwas.« Lily richtete ihren dunklen Blick auf ihn. »Es gibt jemanden, der Nachforschungen anstellt, der Informationen über Harmony, Sleepless und die beiden Toten sammelt. Er geht sehr, sehr geschickt vor.«
»Du meinst, so geschickt wie du?«
»Ja.« Lily blieb ernst. »Ja, so geschickt wie ich. Und er tarnt sich gut. Es ist mir nicht gelungen, ihn zu identifizieren. IP-Adressen bringen uns hier nicht weiter. Er hat auch nach Informationen über dich gesucht, vermutlich, weil du im Zuge deiner Ermittlungen Kontakt mit Harmony hattest.«
»Ein mysteriöser Unbekannter«, murmelte Rieker.
»Ja.«
»Das alles hast du an einem einzigen Nachmittag herausgefunden?«
»Es war harte Arbeit«, betonte Lily.
»Ich frage mich, was du herausfinden könntest, wenn du ein paar Tage Zeit hättest.«
»Nach ein paar Tagen lägen alle Geheimnisse deines Lebens offen vor mir.« Lily stand auf. »Ich bin gleich wieder da.«
»Ich laufe nicht weg.«
Rieker sah aus dem Fenster. Noch immer brannte Licht im Polizeipräsidium. Er stellte sich vor, dass Kowalski dort in seinem Büro saß und überlegte, wie er einem gewissen Alexander Rieker das Leben schwer machen konnte.
Zwei Tote und Sleepless als gemeinsames Element. Ein aufstrebendes junges Unternehmen, das einem großen pharmazeutischen Konzern trotzte und dessen Inhaberin sich auf sehr persönliche Weise für den Erfolg einsetzte. Während im Hintergrund die alte Finanzseilschaft von Innensenator Brois werkelte, höchstens ein wenig angekratzt von dem Immobilienskandal, der Brois ins Gefängnis gebracht hatte. Hinzu kam ein gewiefter Unbekannter, der Informationen über alle Beteiligten sammelte.
Lily kehrte zurück, trat aber nicht zu ihrer Seite des Tisches, sondern legte von hinten die Arme um Rieker.
»Komm ins Bett.«
Er drehte den Kopf. Lily stand hinter ihm, nackt, warm und geschmeidig.
»Und wenn ich jetzt sagen würde, dass ich Kopfschmerzen habe?«, fragte er.
»Dann würde ich antworten, du lügst.« Sie ergriff seine Hand. »Komm.«