21.
Hamburg schlief nie, aber in der tiefen Nacht kehrte ein wenig Ruhe ein. Im Norden und Westen der Stadt leuchteten Ampeln über leeren Straßen, das Licht der Straßenlaternen fiel auf verlassene Bürgersteige. Fast alle Fenster waren dunkel.
Carolin machte einen Bogen um das Rotlichtviertel, um nicht für eine der Bordsteinschwalben gehalten und angesprochen zu werden, fotografierte Obdachlose, die auf Sitzbänken schliefen, einen Waschbären, der zwischen Abflussrohren an einem Gebäude emporkletterte, Bagger und Bulldozer, die wie Ungetüme vor einem halb abgerissenen Haus aufragten. Die Nacht schuf eine andere Welt, kleidete Vertrautes in neue Gewänder. Das Spiel von Licht und Schatten und die manchmal fließenden Übergänge, wo Helligkeit und Finsternis miteinander zu ringen schienen, faszinierten Carolin.
Gelegentlich verharrte sie an dunklen Stellen, unter Bäumen oder zwischen zwei weit auseinanderstehenden Straßenlaternen, und fotografierte andere Nachtschwärmer: Betrunkene, die den Weg nach Hause suchten; Arbeiter, die von der Spätschicht heimkehrten; Jugendliche, die von irgendwelchen Partys kamen. Sie alle hatten eins gemeinsam: die Suche nach dem Schlaf, sie kapitulierten vor ihm oder sehnten sich nach ihm. Schlaf, der Vergessen brachte, Mattigkeit und Schwäche abbaute, die Gedanken neu ordnete und Perspektiven zurechtrückte. Schlaf, der all diesen Menschen eine Zeitspanne ihres Lebens stahl.
Aber nicht mehr lange, dachte Carolin und lächelte in der Nacht, als sie an einer Plakatwand mit der neuen Werbung für Sleepless vorbeikam: Sei wach und lebe!, hieß es über einem glücklichen, abenteuerlustig wirkenden jungen Paar.
In Blankenese wanderte sie am Elbufer entlang und beobachtete ein großes Containerschiff, das in Richtung Nordsee über den dunklen Fluss glitt. Der Hafen im Osten erschien ihr wie eine Stadt in der Stadt, voller Lichter.
Als ein erstes mattes Glühen am Horizont die Morgendämmerung ankündigte, nahm Carolin auf einer Sitzbank am Elbufer Platz, nicht, weil sie müde war, sondern weil sie diesen besonderen Moment genießen wollte, das Ende der Nacht. Sie war lange in der Stadt unterwegs gewesen und spürte die zurückgelegten Kilometer in den Beinen, doch geistig war sie immer noch frisch und entspannt. Sie horchte in sich hinein, prüfte sich selbst und fand nicht die geringsten Anzeichen von Müdigkeit.
Jemand näherte sich von Westen, eine Silhouette, die aus der Dunkelheit zwischen den Bäumen kam. Ein Mann, hochgewachsen, die Hände in den Jackentaschen. Weit und breit war sonst niemand zu sehen
Carolin beobachtete ihn und dachte an den Taser in ihrer Handtasche. Sie blieb entspannt und fühlte sich zu gut für Sorge.
»Hallo«, sagte der Mann, als er die Sitzbank erreichte. Carolin schätzte ihn auf Mitte dreißig. Ein sportlicher, athletischer Typ. »Sie sind früh auf den Beinen.«
Carolin nickte freundlich.
Der Mann deutete über den Fluss. »Ist es nicht wunderbar um diese Zeit? Wenn die Stadt doch immer so ruhig und friedlich wäre.«
Carolin nickte erneut. Das Problem bestand darin, dass manche Männer zu viel Freundlichkeit als Einladung verstanden.
»Darf ich mich zu Ihnen setzen?«
Carolin rückte ein wenig zur Seite.
Eine Zeit lang saßen sie still nebeneinander und beobachteten ein Frachtschiff, das in Richtung Hafen lief und von einem Schlepper in Empfang genommen wurde.
»Sind Sie allein?«, fragte der Mann plötzlich.
In seiner Stimme hörte Carolin eine Veränderung, die ihr nicht gefiel. Sie wollte aufstehen, doch plötzlich fühlte sie eine Hand auf der Schulter. »Bleiben Sie doch sitzen. Lassen Sie uns ein wenig plaudern.«
»Bitte lassen Sie mich los«, sagte sie ruhig, aber unmissverständlich.
Stattdessen rückte der Mann näher und wandte sich ihr zu. Seine andere Hand erschien direkt vor ihrem Gesicht.
Die Ruhe verschwand aus Carolin, verwandelte sich aber nicht in Angst. Es blieb keine Zeit, den Taser aus der Handtasche zu holen. Sie musste sich mit dem zur Wehr setzen, das ihr zur Verfügung stand.
Carolin schlug zu, nicht einmal, sondern mehrmals schnell hintereinander. Ihre Fäuste flogen, gelenkt von kaltem Zorn, trafen Kehle und Nase. Sie hörte ein Ächzen, die Hand verschwand von ihrer Schulter, der Mann stand plötzlich. Carolin sprang auf, schlug und trat, bis er schließlich neben der Sitzbank auf dem Boden lag und sich nicht mehr rührte.
Sie starrte auf ihn hinab, verblüfft von der eigenen Kraft und Schnelligkeit. Nach einigen Sekunden bückte sie sich, betastete den Hals des Reglosen und stellte erleichtert fest, dass er noch lebte.
Sie ging einige Schritte, unsicher, den Kopf voller ungeordneter Gedanken, machte kehrt und nahm Handtasche und Kamera.
Der Mann bewegte sich noch immer nicht. Sollte sie den Notarzt verständigen? Es hätte Unannehmlichkeiten bedeutet, vielleicht sogar eine Vernehmung durch die Polizei. Sie hätte erklären müssen, wie es ihr gelungen war, einen viel kräftigeren Mann niederzuschlagen.
Ihre Beine trafen die Entscheidung. Mit schnellen, zielstrebigen Schritten ließ Carolin den Mann zurück. Es war nicht weit bis zu dem Ort, wo sie ihre nächtliche Wanderung begonnen hatte.