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eute ist der Jahrestag.
„Mami?“
Ich blinzle, blicke in den Rückspiegel und versuche zu lächeln. „Ja, Baby?“
„Deine Augen glänzen.“ Josh runzelt die Stirn. „Bist du traurig?“
„Oh Liebling, ich bin nicht traurig. Siehst du?“ Ich lächle breiter.
„Du bist schön“, sagt er, wobei das Wort eher wie shööhn
herauskommt, was das Lächeln auf meinem Gesicht echt werden lässt.
„Und du auch.“
„Mama! Jungs sind nicht schön.“
„Nein, du hast recht. Du siehst gut aus.“ Ich biege auf den Parkplatz der Schule ein und fahre um den Kreis der Mütter, die ihre Kinder hier abgeben, herum. Es ist eine Grundschule, in der
ich als Lehrerassistentin in der Kindergartenklasse arbeite, während Josh in der Vorschule betreut wird.
Es gibt nicht viele Möglichkeiten für alleinerziehende Mütter und ich bin recht glücklich, diese Schule gefunden zu haben. Josh und ich haben ein kleines Häuschen in der Nähe gemietet und die Schule ist die einzige für die drei kleinen Städte, die uns umgeben, so dass sie für Philadelphia-Verhältnisse zwar nicht groß ist, aber groß genug. Estes Park, das etwa eine Stunde entfernt liegt, ist die nächste größere Stadt.
Auch wenn es nicht der bestbezahlte Job der Welt ist, könnte ich mir anders keine Kinderbetreuung leisten, also passt das ganz gut. Und bringt mich dem näher, was ich letztendlich tun möchte, nämlich unterrichten. Ich habe mich bereits angemeldet, um Online-Kurse zu beginnen und im nächsten Semester meinen Abschluss zu machen.
Ich parke meinen Jeep auf einem der leeren Stellplätze und höre zu, wie der Motor gurgelt, als ich ihn abstelle. Er muss bald und noch vor dem Wintereinbruch in die Werkstatt, aber das ist eine Ausgabe, an die ich jetzt einfach nicht denken möchte.
Ich drehe mich um und schaue Josh an, der ‚liest’. Ich nehme ihm das Buch Gute Nacht, Gorilla
aus der Hand und gebe es ihm mit der richtigen Seite nach oben zurück
.
„Das müssen wir heute in der Bibliothek zurückgeben.“
„Okay.“
„Weißt du schon, was du als Nächstes lesen willst?“
„Skippyjon Jones und die großen Knochen!“
„Schon wieder?“
Er nickt begeistert und sein Lächeln wird breiter. Seine schokoladenbraunen Augen funkeln, er bekommt dieses Grübchen in der rechten Wange und ich erstarre. Mein Herz flattert, als es einen Schlag auslässt. Er sieht Lev so ähnlich. Zuerst sah er ihm gar nicht ähnlich. Als er geboren wurde, waren seine Augen tiefblau, und er sah keinem von uns ähnlich, aber ich schwöre jeden Tag, dass er seinem Vater immer ähnlicher wird.
„Also gut. Bereit für die Schule, Kleiner?“
„Ja.“
Ich steige aus, schließe den Mantel wegen des kalten Colorado-Windes und öffne die hintere Tür. Josh hält mir seine Arme entgegen, damit ich ihn losschnalle und heraushebe. Es ist zu schwer für ihn, die Gurte des Autositzes zu lösen.
Ich schiebe die Hände unter seine pummeligen Arme. Der dicke Mantel lässt ihn wie das Michelin-Männchen aussehen.
Ich hebe ihn heraus, drücke ihn kurz an mich und stelle ihn dann auf den Boden. Ich greife ins Auto und schnappe mir seinen Minions-Rucksack,
der bis auf das Mittagessen leer ist. Ich öffne den Reißverschluss, schiebe das Buch hinein, schließe die Tür und nehme seine kleine Hand in meine. Er braucht auch neue Handschuhe für den Winter. Seine kleinen Finger sind bereits kalt.
„Wir werden nach der Schule ein Paar Handschuhe kaufen.“
„Nach der Bibliothek?“
„Nach der Bibliothek“, sage ich, während wir zum Eingang der Schule gehen.
Ein Flüstern des Windes veranlasst mich, mich dem Wald zuzuwenden, der die Rückseite des Grundstücks begrenzt. Dichte Kiefern machen es dem Licht unmöglich durchzudringen und einen Moment lang glaube ich, eine Bewegung zu sehen.
So war es schon in den letzten Wochen. Ich habe es wieder gefühlt, dieses Hochstehen meiner Nackenhaare. Dieser leichte Duft, von dem ich nicht weiß, ob ich ihn mir einbilde oder ob es zufällig ein anderer ist, der das gleiche Aftershave trägt, das Lev trug. Ich weiß nicht mal, warum ich mich noch an dieses Detail erinnern kann und wünsche mir, ich könne es vergessen.
„Miss Katie!“, ruft ein kleines Mädchen, und ich zucke zusammen.
Ich wende mich von den Wäldern ab.
Ich bin nur wegen des Jahrestags nervös. Heute ist der Tag, an dem Nina und ihre Familie getötet wurden. Nun, heute Abend. Es ist die Nacht, in der
ich erfuhr, dass ich mit Levs Baby schwanger war. Die Nacht, in der ich zu ihrem Haus gegangen war, um es ihr zu sagen, als sie mir den USB-Stick in die Hand drückte und mich zum Gehen zwang, mich versprechen ließ, nicht zurückzukommen, bis sie mich anrief.
Sie hat nie angerufen.
In dieser Nacht brannte das Haus ab, und im Inneren wurden drei verkohlte Leichen gefunden. Fremdeinwirkung. Brandstiftung. Kugeln.
„Was sagst du, Katie?“
Ich schüttle den Kopf. Katie. Manchmal vergesse ich, darauf zu antworten.
„Tut mir leid?“, frage ich.
„Warum kommen du und Josh nicht am Freitag nächste Woche zum Abendessen vorbei? Es ist Emmas halber Geburtstag und wir machen einen Kuchen“, sagt Emmas Vater, Luke Foreman. Er ist ein netter Kerl. Bereits mit Mitte vierzig verlor er seine Frau durch Krebs.
„Können wir, Mami?“, fragt Josh. Er zerrt an meiner Hand und ich beuge mich zu ihm nach unten. Er hebt die Augenbrauen und drückt sich eng an mich heran. „Es gibt Kuchen“, flüstert er laut.
Luke lächelt und zwinkert mir zu, als ich mich aufrichte. „Klingt großartig“, sage ich, obwohl ich aufpassen muss, dass ich Luke nicht auf falsche Gedanken bringe. Er lud mich vor einer Weile zum Essen ein und ich sagte ihm, es widerspräche der
Schulpolitik, mit einem Elternteil auszugehen, was nicht gelogen war, aber das war nicht der einzige Grund. Nach allem, was passiert ist, habe ich mich für niemanden mehr wirklich interessiert. Meine Priorität ist es, mich und Josh zu schützen, denn ich bin mir nicht sicher, ob Lev oder die Männer, mit denen er arbeitet, herausgefunden haben, dass ich an diesem Abend dort war. Dass ich den USB-Stick habe, nach dem sie gesucht haben. Dass ich weiß, dass sie Nina und ihre Familie getötet haben.
Aber ich gehe kein Risiko ein. Ich kann es nicht tun, weil jetzt nicht nur mein Leben auf dem Spiel steht. Ich werde nicht zulassen, dass meinem Kind etwas passiert, und dazu gehört auch, dass er mich verliert. Denn ich weiß, was passiert, wenn man allein auf der Welt ist. Ich kenne die Monster, die Jagd auf die Schwächsten machen, und ich werde keine Monster in Joshs Leben lassen.
Und außerdem interessiere ich mich nicht für Luke, außer als Freund. Seit Lev habe ich mich für niemanden mehr interessiert.
Ein weiterer Windstoß lässt mich Joshs Hand fester umklammern.
„Es heißt, dass ein zeitiger Schneesturm kommen wird“, sagt Luke.
„Ich hoffe nicht.“ Die erste Glocke läutet. „Wir gehen besser rein.“
Der Morgen vergeht wie üblich und obwohl ich normalerweise meine Mittagspause mit Josh
verbringe, ziehe ich heute Mantel und Mütze an und mache mich auf den Weg zum Parkplatz.
Es sind bereits 30 Zentimeter Schnee vorhergesagt und ein Blick in den sich verdunkelnden Himmel bestätigt das. Josh und ich leben seit etwas mehr als drei Jahren hier und obwohl ich den Schnee liebe, hasse ich es, durch den Schnee zu fahren und hoffe, dass es nicht so schlimm wird, wie sie es vorhersagen.
Als ich in den Jeep einsteige, blicke ich zu der Stelle im Wald, die zuvor meine Aufmerksamkeit erregt hat, aber jetzt ist nichts mehr da. Und der Wald sieht nicht mehr so dunkel und unheimlich aus wie am frühen Morgen.
Nachdem ich den Parkplatz verlassen habe, fahre ich zum Floristen in der Stadt, um den Strauß abzuholen. Er hat ihn fertig und dafür bin ich dankbar. Ich habe nicht mehr viel Zeit, bevor ich zurück zur Schule muss, auch wenn der Lehrer der Klasse weiß, dass ich ein paar Minuten später kommen könnte.
Ich lege die Blumen auf den Beifahrersitz und fahre aus der Stadt hinaus. Die eleganten, langen, weißen Callas sehen auf dem abgenutzten Polster des Jeeps fehl am Platz aus.
Als ich die kurvenreiche Straße bis zu Daniel’s Point hinauf navigiere, sind bereits leichte Windstöße zu spüren. Durch Zufall habe ich den Ausblick gefunden. Er ist nicht leicht zu erreichen, was
bedeutet, dass ich dort nicht oft jemandem begegne, aber heute bin ich unruhig, da die Straße an Höhe zunimmt und die Sicht ein Problem wird.
Ich schalte das Radio ein und höre Songs, die immer wieder durch Rauschen unterbrochen werden, bis ich zwanzig Minuten später die Abzweigung zum Ausblick erreiche.
Die Reifen knirschen auf losen Steinen, während ich den Jeep so nahe wie möglich an der Stelle parke. Ich ziehe mir die Strickmütze über, nehme die Blumen und steige aus, wobei meine Stiefel auf denselben Steinen knirschen. Ich gehe um die Absperrung herum und auf den kaum erkennbaren Pfad, für einen Moment ist das einzige Geräusch, das ich höre, das meiner Stiefel, die auf einen Ast oder ein vertrocknetes Blatt treten.
Hier herrscht absolute Stille. Wo Josh und ich leben, ist es auch ruhig, aber hier ist es anders als in Philadelphia. Es ist, als würden die Berge die Geräusche fressen, und wenn ich stehen bleibe, um sie zu hören, um zuzuhören, dann hat es eine Art, mich zu beruhigen und mich mit Frieden zu erfüllen. Es ist sehr merkwürdig, aber wann immer ich zum Aussichtspunkt komme, ist es, als würde sich die Welt vor mir öffnen, und ich stehe einfach da und höre diesem Klang zu. Ein Teil von mir wünscht sich, ich könne für immer hierbleiben und müsse niemals zurückkehren.
Meine Mutter starb, als ich drei Jahre alt war, bei
einem Autounfall auf einer Straße, die dieser hier sehr ähnlich war, da sie abgelegen und größtenteils menschenleer war. Wir waren zwei Tage lang allein dort gewesen, bevor sie uns fanden. Es war auch Herbst gewesen. Herbst ist eine unglückliche Zeit für mich.
Ich hätte diesen Unfall nicht überleben sollen, aber irgendwie geschah es doch.
Mein Telefon summt in der Tasche und ich bin dankbar für die Unterbrechung. Ich ziehe es heraus und schalte den Alarm aus, den ich für mich selbst eingestellt habe. Ich habe etwa zehn Minuten Zeit, bevor ich zurückgehen muss, und stelle für alle Fälle einen zweiten Alarm ein. Ich gehe so weit wie möglich auf dem überhängenden Stein nach vorne und hocke mich hin, um die Blumen abzulegen.
Nina liebte Callas. Sie waren ihre Lieblingsblumen. Sie beklagte sich immer darüber, dass sie nie Blumen von Jungs geschenkt bekam.
Ich verbringe ein paar Minuten damit, die vier langen Stiele zu arrangieren. Einen für jedes Jahr, das sie weg ist.
„Ich vermisse dich“, sage ich dem Wind. „Ich hätte dich in jener Nacht dazu bringen sollen, mit mir zu kommen.“ Ich grabe in meinen Taschen nach einem Taschentuch, aber ich finde keines, also wische ich mir mit dem Handrücken die Augen ab. Ich brauche auch Handschuhe, denn meine Finger sind wie erfroren
.
Aber in diesem Moment fühle ich es wieder.
In meinem Nacken kribbelt es, die Haare stehen mir zu Berge, und dieses Gefühl ist wieder da. Als würde mich jemand beobachten.
Ich erstarre, unfähig oder nicht willens, mich umzudrehen. Es zu sehen.
Hinter mir knirscht etwas, ein Zweig, und ich keuche, richte mich auf und drehe mich um, greife in die Tasche und ziehe das Taschenmesser heraus. Ich habe in jeder Tasche ein Taschenmesser. Das mache ich, seit ich Philly verlassen habe.
Ich trete einen Schritt zurück, stolpere und fange mich gerade noch, als ein Hirsch über den Weg und in den dichten Wald springt. Ich atme laut aus und umklammere meinen Bauch, als sich mein Körper vor Erleichterung entspannt.
Ein Hirsch. Es ist nur ein Hirsch.
Ich lache laut auf, aber es klingt ein wenig verrückt, und der zweite Alarm meines Telefons geht los und warnt mich, dass ich zu spät kommen werde, wenn ich nicht gehe. Ich laufe schnell zum Jeep zurück und renne fast, als ich dort ankomme.
Die Fernbedienung funktioniert nicht, und da meine Finger so kalt sind, braucht es mehrere Versuche, um den Schlüssel ins Schloss zu bekommen. Als ich endlich drin bin, sperre ich von innen ab und starte den Motor. Noch nie hatte ich es so eilig, von hier wegzukommen. Ich hatte noch nie so viel Angst, schon lange nicht mehr
.
Ich bin in Sicherheit. Es war nur ein Hirsch. Ich bin nervös wegen des Jahrestages. Ich bin nur nervös wegen des Jahrestages.
Das sage ich mir immer wieder, während ich ein wenig zu schnell die Bergstraße hinunterfahre und in den Rückspiegel blicke, wenn ich denke, dass ich einen Scheinwerferblitz sehe, aber durch die Wolken und den dichter werdenden Schnee sehe ich nichts. Ich bin allein auf der Straße. Nur ich allein. Und nach einer weiteren Kurve bin ich zurück in der Zivilisation.
In Sicherheit.