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Kat
I ch überlasse Lev das Lesen, bleibe aber direkt vor dem Schlafzimmer stehen und höre zu, wie er die Geräusche der verschiedenen Charaktere macht. Trotz allem muss ich bei einigen von ihnen lächeln, da ich Josh kichern höre.
Er wird Josh nicht wehtun und das weiß ich. Davor habe ich eigentlich überhaupt keine Angst. Aber es ist noch ein anderer Gedanke da, der an mir nagt. Würde er versuchen, mir Josh wegzunehmen?
Allein der Gedanke lässt mich schaudern und ich lege meine Arme um mich selbst. Ich gehe in die Küche und setze den Wasserkocher auf, um Tee zu kochen. Als ich am Fenster vorbeigehe, fällt eine Wolke aus Schnee zu Boden. Ich weiß nicht, ob es der Wind ist, der den bereits gefallenen Schnee in die Luft wirbelt, oder ob es der nächste Schneefall ist, der vorhergesagt ist .
Ich konzentriere mich auf mein Spiegelbild auf der Scheibe. Ich sehe blass und müde aus.
Der Wasserkessel pfeift und erschreckt mich. Ich beeile mich, ihn von der Flamme zu nehmen und ihn auf eine ausgeschaltete Platte zu stellen, während ich losen Jasmin-Grüntee in einen Teebeutel löffle. Diesen lege ich in die Teekanne, die Josh und ich zusammen im örtlichen Keramikladen bemalt haben, und gieße heißes Wasser darüber.
Als ich das nächste Mal nach oben schaue, ist mein Spiegelbild nicht das einzige im Fenster.
Mein Atem stockt und als ich mich umdrehe, treffe ich Levs Blicke. Das Häuschen ist nicht groß, genau richtig für Josh und mich, aber wenn Lev hier ist, scheint es winzig zu sein. Wie ein Puppenhaus. Er ist eine mächtige Figur in der Küche und allein seine Größe lässt meinen Bauch flattern. Ich will das nicht wollen. Ihn wollen. Hat mir die Gewalt des Nachmittags nicht bewiesen, wie schlecht er für mich ist? Für uns?
Aber ich kann nicht leugnen, dass die Nähe zu ihm etwas mit mir verändert.
„Er ist ein süßes Kind“, sagt Lev, holt sich einen Stuhl und nimmt Platz. „Das hast du gut gemacht.“
Ich bin über das Kompliment überrascht. Ich denke nicht, dass ich bei Josh versagt habe, aber es kommt unerwartet, als er das sagt.
„Danke“, antworte ich und beginne, den Teebeutel herauszufischen. Er sollte länger ziehen, aber ich weiß nicht, was ich mit meinen Händen machen soll. „Tee?“, frage ich, während ich mich umdrehe.
„Hast du etwas Stärkeres?“
„Ähm ...“ Ich schaue mich in der Küche um und erinnere mich dann an die fast volle Flasche Wodka im Kühlschrank. Luke hatte sie vor langer Zeit mitgebracht. Ich kann mich nicht mal an den Anlass erinnern, weil ich im Allgemeinen nicht viel trinke. „Hier“, sage ich, nehme sie heraus und beschließe nicht zu erwähnen, dass sie von Luke ist.
Er nimmt die Flasche und liest das Etikett. „Das wird reichen, aber morgen besorgen wir gutes Zeug.“
„Ich trinke nicht viel. Das muss nicht sein.“
„Ich trinke viel“, sagt er. Ist das seine Art mir zu sagen, dass er bleibt?
Ich hole ihm ein Glas. „Willst du Eis?“
Er schüttelt den Kopf. „Das ist kalt genug.“
Ich stehe da und weiß nicht recht, was ich tun soll.
„Setz dich, Katerina.“
„Warum? Mache ich dich nervös – wegen all der scharfen Messer hier?“
Seine Mundwinkel ziehen sich nach oben. „Ich kann die Lektion von heute Nachmittag wiederholen, wenn du willst.“ Er schiebt den Stuhl mit dem Fuß heraus. „Setz dich.
Ich setze mich und zucke zusammen, als mein Hintern das Holz berührt.
Wenn er es bemerkt und ich bin mir dessen sicher, gibt er keinen Kommentar ab. Stattdessen schenkt er sich zwei Finger breit Wodka ein. Ich überlege, ob ich aufstehen soll, um mir ein Kissen zu holen, aber ich will ihm diese Genugtuung nicht geben.
„Du kannst nicht hierbleiben“, sage ich und schenke mir eine Tasse Tee ein.
„Ich dachte, ich hätte klargestellt, dass das nicht zur Diskussion steht.“
„Wo willst du schlafen?“
Er hebt nur die Augenbrauen und trinkt von dem Wodka.
„Was soll ich Josh sagen? Wie erkläre ich ihm, dass mein ‘Freund’ in meinem Bett schläft?
„Das kriegen wir schon hin. Wir haben wichtigere Dinge zu besprechen.“
Ja, das weiß ich. Wenn Lev mich gefunden hat und sein Freund oder derjenige, der meine Festplatte gelöscht hat, von wo auch immer er es gemacht hat, wer weiß sonst noch, dass ich hier bin? Weiß, dass ich diese Informationen hatte?
„Wer hat meine Computerdateien gelöscht und wie?“
„Mein Cousin. Er ist ein Computergenie, so könnte man wohl sagen. Er hat mir auch einige andere Dinge über dich erzählt.
Ich versuche, mein Gesicht regungslos zu halten. „Was zum Beispiel?“
„Dass deine Mutter starb, als du drei Jahre alt warst, bei einem Autounfall ohne Fremdverschulden, und dass du erst einige Tage später gefunden wurdest. Dass du in einer Pflegefamilie aufgewachsen bist und dass deine letzte Adresse die Jugendstrafanstalt in Blackwood, New Jersey, war.“
Mein Herz schlägt schneller und das Blut pocht in meinen Ohren.
„Wie hat er–?“
„Wir werden später über all das reden, aber ich möchte erst noch etwas anderes wissen.“
„Was?“
„Joshua Blake. Ich nehme an, er ist der Josh, nach dem du meinen Sohn benannt hast. Der, nach dem du gerufen hast, als wir das letzte Mal zusammen waren.“
Ich spüre, wie ich blass werde.
Er richtet seine Aufmerksamkeit auf den Wodka, füllt sein Glas noch einmal auf und schiebt es dann mir zu.
„Du siehst aus, als könntest du das brauchen, Kat.“
„Katie“, sage ich abwesend. „Ich bin jetzt Katie.“
Er schüttelt den Kopf. „Nicht mehr lange, Schätzchen. Trink das.“
Ich schaue auf die klare Flüssigkeit hinunter, stelle meine Tasse beiseite und trinke den Inhalt des Glases. Er hat recht. Ich brauche es.
„Dein Cousin ... weiß er, wo wir sind?“
„Er ist keine Gefahr für dich.“
„Aber wir sind in Gefahr? Josh und ich?“
Jetzt ist er an der Reihe, den frisch eingeschenkten Wodka aus seinem Glas zu trinken. „Ich werde nicht zulassen, dass einem von euch beiden etwas passiert. Sag mir jetzt, warum du meinen Sohn nach einem anderen Mann benannt hast.“
Ich neige den Kopf zur Seite und überlege, ob er das ernst meint. „Dachtest du wirklich, ich würde ihn nach dir benennen? Nach dem, was ich gesehen habe?“ Ich spüre, wie sich meine Augenbrauen heben.
„Nicht so sehr das, obwohl es nett gewesen wäre, sondern vor allem, warum du ihn nach einem anderen Freund benannt hast.“
„Joshua war kein solcher Freund. Er war mein Pflegebruder und Freund. Das habe ich dir schon vor langer Zeit gesagt. Lev, du hast–“ Ich halte inne, senke meine Stimme und schaue zur Tür. Josh kommt manchmal raus, um sich ein Glas Wasser zu holen. Meistens tut er das, wenn er Angst hat. „Glaubst du, dass ich nach dem, was passiert war, noch etwas mit dir zu tun haben wollte?“
„Ich habe dir gesagt, dass ich Nina nichts getan habe. Sie sollte nicht sterben.
„Ob du es getan hast oder nicht, ich weiß, was ich damals gesehen habe.“
„Ich möchte etwas über Joshua Blake wissen.“
„Wir waren irgendwann einmal zusammen in derselben Pflegestelle. Joshua, Cassie und ich. Das ist alles.“
„Wer ist Cassie?“
„Joshuas jüngere Schwester. Sie war dreizehn, ich war fünfzehn und Joshua war sechzehn.“ Ich schiebe meinen Stuhl zurück und stehe auf. „Und ich will nicht darüber reden.“
Er fängt mein Handgelenk. „Setzen.“
„Ich meine es ernst, Lev. Ich will nicht darüber reden.“
Er drückt mein Handgelenk, und ich werde wieder daran erinnert, wie viel größer er ist. Wie viel stärker. „Ich sagte: Setz dich.“
Ich gehorche.
„Wie ist Joshua gestorben?“
Ich wende den Blick ab.
„Wie bist du im Jugendgefängnis gelandet?“
Ich lege meine Hände um die lauwarme Teetasse.
„Warum wurden deine Unterlagen versiegelt?“
Ich wende mich an ihn. „Warum fragst du nicht deinen Cousin?“, sage ich, stehe auf und rutsche außer Reichweite, bevor er mich wieder packen kann. „Ich gehe ins Bett.“