1. Kapitel, in dem Lara bei einer Tasse Kakao herausfindet, dass ein Schlüssel nicht immer gleich ein Schlüssel ist.

Leben, das ist das Allerseltenste in der Welt – die meisten Menschen existieren nur.

Imagebird Oscar Wilde

Das Wetter ist ein Verräter.

Genau das dachte Lara, als sie zum ersten Mal an diesem Tag aus dem Fenster auf den tiefgrauen Himmel über Edinburgh sah. Aber was wollte man erwarten, wenn man im Januar Geburtstag hatte?

Ruhig lag sie da, die Stadt der Treppen. Das Athen des Nordens. Die Stadt der sieben Hügel, auf deren höchstem das Castle thronte. Mit ihren Giebeln und Schornsteinen, ihren Gassen und Treppen. Ja, vor allem mit ihren Treppen, denn davon gab es mehr als genug in dieser Stadt.

Lara hasste dieses Wetter. Konnte nicht ein Mal, ein einziges Mal in sechzehn langen Jahren die Sonne an ihrem Geburtstag scheinen? Natürlich nicht. Was wäre das denn auch für ein schottischer Neujahrstag, wenn nicht wenigstens das Wetter dem Ruf des Landes alle Ehre machen würde! Es musste rau sein, wie es sich gehörte.

Sie setzte sich auf, schwang ihre Füße aus dem Bett, hinein in die flauschigen blauen Pantoffeln, mit denen es auf dem Holzboden in ihrem Zimmer nicht ganz so kalt war, und schlurfte zu ihrer Fensterbank unter der Dachgaube. Abgestützt auf beide Hände seufzte sie. Ja, sie hatte es schon vom Bett aus richtig gesehen. Der Himmel war grau. Grelles, furchtbar grelles Winterhimmelgrau. Sie schüttelte sich, stellte fest, dass sie Durst hatte, und sah auf die Uhr. Punkt zwölf. Kein Wunder, war doch gestern Hogmanay – das schottische Silvester – gewesen. Außerdem meinte ihr Großvater andauernd, solange sie jung sei, habe sie die Verpflichtung, lange zu schlafen. Früh aufstehen könne man, wenn man müsse oder wenn das Alter einen nicht mehr lange schlafen ließe.

Es klopfte. Lara verfluchte sich im Stillen, da sie das Knarren der Stufen zu ihrem Dachzimmer nicht gehört hatte. Hätte sie es gehört, hätte sie sich schnell wieder ins Bett legen können, um ihrem Großvater das Vergnügen zu lassen, sie mit dem obligatorischen Geburtstagsfrühstückstablett zu wecken.

Die Tür ging langsam auf und ein vielsagender Duft streckte sich diebisch nach Laras Nase aus. Verstohlen spähte das hagere Gesicht von Henry McLane über ein randvolles Tablett hinweg durch den Türspalt. Als er Lara nicht in ihrem Bett liegen sah, war es aus mit der Vorsicht. Die Tür bekam einen leichten Tritt und schwang vollständig auf.

»Nanu«, verschaffte sich die Verwunderung des alten Mannes Raum. »Bist du so aufgeregt, dass du das Schlafen vergessen hast?«

Lara musste schmunzeln.

»Nein, ich habe es nur nicht mehr rechtzeitig zurück ins Bett geschafft.«

Er grinste.

»Soll ich wieder rausgehen? Ich gebe dir zwei Minuten, sonst wird der Kakao kalt.«

Mit einem Satz sprang Lara ins Bett, die Pantoffeln schleuderte sie im Flug gekonnt von sich.

»Nicht nötig«, strahlte sie.

Henry McLane trat ein und stellte das Tablett auf der zerwühlten Bettdecke ab, beugte sich vor und umarmte seine Enkeltochter behutsam.

»Herzlichen Glückwunsch zum Geburtstag.«

»Sagtest du heute Nacht schon.«

»Und ein frohes neues Jahr«, setzte er hinzu. »Ich weiß, das habe ich heute Nacht auch schon gesagt. Dennoch halte ich den doppelten Glückwunsch nicht für verschwendet.«

Lara beäugte gespannt das Tablett. Dort war alles aufgehäuft, was zu einem ausführlichen schottischen Frühstück gehörte: Eier, Speck, gegrillte Tomaten, gebackene Bohnen, Toastbrot, Pilze, Black Pudding und eine Portion des schottischen Nationalgerichts Haggis – scharf angebratene Schafsinnereien –, auf der eine kleine Kerze thronte.

Sie verzog das Gesicht.

»Hätte es nicht ein Stückchen Kuchen getan? Für die Kerze?«

»Kuchen gibt es erst heute Nachmittag«, sagte ihr Großvater. »Aber wieso interessiert dich eigentlich das Essen? Ich dachte, du würdest zuerst die Geschenke an dich reißen.«

Lara warf ihm einen gespielt vorwurfsvollen Blick zu.

»Ich bin sechzehn. Ich denke, in diesem Alter sollte die Vernunft anfangen, den Verstand zu lenken.«

Henry zog die Augenbrauen hoch. »So intellektuell am frühen Morgen? Ich dachte, du bist immer schon vernünftig gewesen?«

»Weder ist es früher Morgen, noch bin ich vernünftig«, protestierte Lara und rieb sich die Schläfe. »Ich hatte wohl nur etwas zu viel Sekt heute Nacht.«

Wieder stahl sich ein vielsagendes Lächeln auf Henry McLanes Gesicht.

»Dann ist dieses Frühstück ja genau das Richtige. Trotzdem gibt’s das hier zuerst!«

Ein dünnes Päckchen mit Schleife flog über das Tablett in Laras Schoß.

Sie nahm es hoch, drehte und wendete es, schüttelte es und riss schließlich das Geschenkpapier mit einer geübten Bewegung herunter, um einen MP3-Player in den Händen zu halten. Fragend sah Lara ihren Großvater an.

Der zuckte mit den Schultern und wies in die Ecke mit den CD-Ständern, denn dort stapelte sich Laras Leidenschaft: Musik. Von Alanis Morissette bis Led Zeppelin türmten sich dort die Silberscheiben, für deren Bezahlung Lara Stunde um Stunde im Touristenbüro auf der Royal Mile ausgeholfen hatte. Sie wusste nicht, wie viele es waren, aber sie schätzte ihre Zahl auf zwei- bis dreihundert Stück.

»Ich dachte, es ist sicher lästig, immer einen Haufen davon mit dir herumzuschleppen, und im Laden sagte man mir, das sei eine elegante Lösung.«

Lara dachte kurz nach. Eigentlich hatte es bis jetzt irgendwie zu ihrem persönlichen Stil gehört, immer und überall einen Stapel CDs mitzuschleppen. Es gehörte dazu, genau wie der lange rote Schal, die abgenutzte Jeanstasche und die Mütze, aus der immer akkurat-chaotisch auf der rechten Seite ein paar Strähnen des bernsteinfarbenen Haars hervorlugen mussten, das ansonsten in Korkenzieherlocken von ihrem Kopf herabfiel. Auf der anderen Seite war ein MP3-Player so verdammt praktisch. Immerhin lief ihr in die Jahre gekommener tragbarer CD-Player nur noch mit diversen Tricks. Man musste ihn zum Beispiel auf den Kopf stellen.

»Ich kann dir nicht um den Hals fallen«, meinte sie schließlich übertrieben theatralisch. »Das Frühstück trennt uns. Aber wie soll ich denn überhaupt meine CDs da draufbekommen?«

Henry McLane zuckte wieder bloß mit den Schultern.

»Mit dem Computer geht’s«, meinte er und deutete in Richtung Tür und Holztreppe, unter der er einen Schreibtisch eingebaut hatte, auf dem tatsächlich ein Computer stand. In manchen Dingen, hatte Lara den Eindruck, war ihr eigener Großvater trotz seines Alters erheblich fitter als manch weitaus jüngerer Vater ihrer Schulkameraden.

»Probier’s doch mal aus!«, forderte er ungeduldig. Ein wenig fühlte Lara sich an einen kleinen Jungen erinnert, wobei sich der schelmische Humor von Henry McLane von einem solchen wahrscheinlich auch gar nicht so sehr unterschied.

Lara setzte sich also die Kopfhörer auf und drückte auf On. Ein Orchester dröhnte in ihrem Kopf, mit Bläsern und Streichern und viel Enthusiasmus. Reflexartig riss sie die Hörer herunter und starrte auf das Display. Beethovens 9. Symphonie stand dort. Sie sah ihren Großvater an, der wieder nur unschuldig mit den Schultern zuckte.

»Du hast doch nicht gedacht, ich geh an deine Schätze, oder? Also musste ich es mit einer eigenen CD ausprobieren.«

Beide mussten lachen. Lachen, dass der Kakao gefährlich nahe an den Rand seiner Tasse schwappte.

Als sie sich beruhigt hatten, warf Henry McLane seiner Enkelin ein weiteres Päckchen von ähnlicher Größe zu.

»Das«, sagte er in verschwörerischem Ton, »ist ein Test. Sieh, ob du etwas damit anfangen kannst.«

Der Tonfall irritierte Lara, denn entgegen seiner sonst so humorvollen Art, schimmerte diesmal etwas hindurch, das nicht so ganz zu dem gut gelaunten alten Mann zu passen schien. Aber Lara hätte nicht sagen können, was es war. Vielleicht täuschte sie sich auch.

Doch auch in ihren chaotischsten Träumen hätte Lara nicht zu vermuten gewagt, was sich hinter dem harmlosen Päckchen mit der roten Schleife verbarg. Nicht geahnt, nicht gewusst, nicht ausgemalt, dass in diesem Päckchen der Wendepunkt ihres jungen Lebens lag. Eines Lebens, das glücklich gewesen war. Glücklich auf eine Weise, die Lara oft mit einem Herbstregen im Oktober verglich: Wenn man das Falsche anzog, wurde man nass, aber wenn man hinein ins Trockene kam, war es warm und gemütlich.

Lara war eine Waise. Schon seit jeher. Ein unglückliches Schicksal hatte das damals noch winzige Mädchen und den freundlichen und gewitzten älteren Herrn zusammengeführt, als sowohl Laras Eltern als auch ihre Großmutter von einem Abend im Theater nicht zurückgekehrt waren. Sie selbst erinnerte sich an gar nichts. Ihr Großvater dagegen an alles, und insgeheim war Lara schon oft der Gedanke gekommen, dass dessen unbändige Lebensfreude in gewisser Weise von diesem Abend – an dem er die schwersten Verluste seines Lebens hatte hinnehmen müssen – herrührte. Nur Lara war geblieben, denn Henry McLane hasste sowohl Theater als auch Kino und begründete dies auch sehr genau: »Weißt du Lara, einen Film oder ein Bühnenstück kann ich auch auf dem heimischen Fernseher sehen«, sagte er immer. »Dazu muss ich nicht raus in das verdammte Mistwetter. Und geselliger ist es auch nicht, denn währenddessen müssen ja doch alle die Klappe halten. Außerdem muss ich mich bei einem Video nicht an Anfangszeiten halten. Und gemütlich etwas essen gehen kann man danach auch noch. Gesellig ist es auch im Pub. Oder man kocht sich etwas, wenn das Wetter schlecht ist – wie es in Schottland nun mal meistens ist.«

So war ihm die Aufgabe damals zugefallen, auf die kleine Lara aufzupassen, damit sich der Rest der Familie einen netten Abend machen konnte.

Seit jenen verhängnisvollen Stunden war seine Liebe zu Theater und Kino gewiss auch nicht mehr gewachsen. Doch sorgte er nun für seine kleine Enkeltochter, der er als Touristenführer zwar kein luxuriöses, dafür aber ein umso schöneres Leben bieten konnte. Und wer konnte schon von sich behaupten, in einem Haus an der Royal Mile in Edinburgh zu wohnen? Denn dort lag sie, die kleine Wohnung der McLanes. Verwinkelt, mit altem Holz ausgekleidet, in einem grauen Bruchsteinhaus mit vielen Schornsteinen, so wie wohl alle Häuser in Schottland viele Schornsteine haben.

Zwar hatte Lara sich häufig gewünscht, sie hätte ihre Eltern kennengelernt, aber letztlich hatte sie sich damit arrangieren müssen, nur ihr Grab von Zeit zu Zeit aufsuchen zu können. Dann stand sie vor dem dunklen Grabstein und beobachtete, welchen Fortschritt der Efeu bei dessen Eroberung machte. Sie mochte den Efeu. Efeu vermittelte ihr seit jeher ein Gefühl von Geborgenheit. Nur den Schriftzug mit den Namen durfte er nie besetzt halten, dann griff Lara zur Schere und verbannte ihn von den geschwungenen Lettern, deren Linien für alle Ewigkeit Arthur und Layla McLane bilden würden.

Ihr Großvater hatte ihr vorbehaltlos alles erzählt, was sie über ihre Eltern hatte wissen wollen, doch eine Verbindung zu ihnen wollte sich in Laras Herz nicht herstellen lassen. Sie hatte einfach nie die Chance gehabt, das herzliche Lachen ihres Vaters oder die kastanienbraunen Augen ihrer Mutter zu erleben. So zu erleben, dass sich die Erinnerung tief auf den Boden ihres Herzens eingebrannt hätte. Dazu war es einfach nie gekommen, denn sie war schlichtweg zu jung gewesen damals, zu klein für große Erinnerungen. Und Lara hatte dies akzeptiert. Doch die verschmitzt fröhliche Art, mit der Henry McLane sie durch ihre bisher sechzehn Jahre begleitet hatte (trotz des Verlustes von Sohn und Frau – und von noch so viel mehr, wovon Lara noch nichts wusste), hatte sie gelehrt, dem Leben all jene Schönheiten abzugewinnen, die es einem jeden Tag bot.

Und hätte Lara zu jenem Zeitpunkt alles gewusst – über Tom und Baltasar, Marcion und die Vaganten, über Lee, über Flüche und Raben, über Schlüssel und Uhren, über wahre Künste und über das alles vereinnahmende, düstergoldene Ravinia – und natürlich über Winter, Winter, verdammter Winter! –, dann hätte sie vielleicht niemals das rote Band von dem kleinen, länglichen Päckchen gelöst, niemals das Papier mit einer beschwingten Bewegung heruntergerissen und niemals den Inhalt bestaunt, der alles verändern würde.

Einen Schlüssel.

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Das Leben ist ein Verräter.

Es zeigt einem so häufig erst die schöne Seite, bevor es in verzweifelte Düsternis umschlägt.

Ja, er war schön. Ausgesprochen schön. Einmalig. Sofern man das von einem Schlüssel überhaupt sagen konnte. Er hatte goldene Ränder und einen mit winzigen, schillernden Ornamenten verzierten Kopf, in den Victoria Street, Edinburgh eingraviert war.

Lara staunte und sagte – nichts.

Was hätte sie auch sagen sollen? Schließlich hatte man ihr zum Geburtstag noch nie einen Schlüssel geschenkt.

Stattdessen machte sie bloß: »Äh.«

»Du hast mir davon erzählt, wie man euch in der Schule darauf vorbereiten will, später einen Beruf zu wählen«, meinte Henry. »Betrachte das hier einfach als Möglichkeit.«

Die Fragen verschwanden nicht aus Laras Augen. Im Gegenteil, sie vermehrten sich nur noch. Aber das war es offenbar, was Henry McLane beabsichtigte.

»Wie gesagt, das ist ein Test«, wiederholte er. »Ob du die Möglichkeit ergreifst oder nicht. Ich für meinen Teil finde, du hast ein Recht darauf. Das mögen andere anders sehen. Sei’s drum, du wirst schon herausfinden, zu was der Schlüssel taugt!«

Er schlug die Hände auf die Oberschenkel und stand auf.

»Ich muss langsam los. Den größten Teil des Tages habe ich zwar frei bekommen, aber den Vormittag hast du ja bereits verschlafen. Ich bin zu Kaffee und Kuchen wieder da.«

Er hob bedauernd die Schultern. »Touristen gibt es auch am ersten Januar.«

Und damit ließ er seine – zu Recht völlig verdutzte – Enkeltochter in ihrem Bett sitzen. Vor ihr ein großes Frühstück, ein dampfender Kakao und jede Menge zerfetztes Geschenkpapier.

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Wie seltsam einem manche Augenblicke doch erscheinen, wenn man noch nicht weiß, ob sie magisch oder lächerlich sein wollen.

Lara schüttete den Schlüssel aus dem Päckchen in ihre Hand und legte verwundert den Kopf schief, denn der Schlüssel fühlte sich warm an. Es war keine direkte Wärme, die er abstrahlte, es war mehr ein Gefühl, das auf Laras Haut prickelte. Nein, es prickelte nicht, das war nicht ganz das richtige Wort. Komisch, dachte Lara. Vielleicht reagierte das Metall irgendwie mit ihrer Haut?

Sie schüttelte den Kopf, legte den Schlüssel auf das Nachttischchen und schlürfte den Kakao. Unten hörte sie die Wohnungstür ins Schloss fallen.

Als Erstes galt es also herauszufinden, wofür dieser seltsame Schlüssel gut sein sollte. Irgendetwas musste er ja aufschließen. Eine Tür, einen Schrank, ein Kästchen?

Definitiv leichter gesagt als getan.

Der Größe nach zu urteilen, war der Schlüssel eher für eine Tür gedacht. Oder einen Schrank mit einem großen Schloss. Auf keinen Fall konnte ein Schlüssel dieser Größe für eine Schatulle oder eine kleine Kommode gut sein.

Lara kramte ihren eigenen Schlüsselbund aus der Nachttischschublade und verglich die Schlüssel. Ja, am nächsten kam der goldene Schlüssel ihrem Haustürschlüssel.

Seltsam.

Ihr Großvater musste also ein Geschenk hinter einer Tür versteckt haben. Vermutlich in der Victoria Street. Nein, Victoria Street konnte auch nur ein Verweis auf den Schlüsselmacher sein. Denn warum sollte ihr Großvater etwas in der Victoria Street verstecken? Das war absurd.

Grübelnd fiel ihr Blick auf das immer noch volle Tablett. Gut, dann würde also erstmal gefrühstückt, geduscht, angezogen. Nachdenklich schlürfte Lara weiter an ihrem Kakao. Was für ein seltsames Rätsel hatte der alte Henry ihr da wohl gestellt?

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Der Gedanke war dumm. Eigentlich so dumm, dass er schon beinahe wieder lustig war. Nachdem Lara das Bad in Jeans und grauem Wollpullover verlassen hatte, stand sie schließlich vor der Wohnungsstür. Schal, Mütze und Mantel hatte sie schon angezogen (nebst der sorgfältig drapierten, bernsteinfarbenen Locke). Den neuen Schlüssel in der Hand blickte sie unentschlossen auf die Haustür. Sollte ihr Großvater ihr lediglich einen neuen, schönen Haustürschlüssel geschenkt haben? Manchmal konnte Henry McLane ganz unvermittelt von den Wertvorstellungen einer alten – für Lara antiken – Zeit angefallen werden. Dann tat er Dinge, die er meistens mit Sätzen erklärte, die mit »Ein ordentliches Mädchen« anfingen: Ein ordentliches Mädchen sollte wenigstens ein gutes Kleid besitzen. Ein ordentliches Mädchen sollte wenigstens etwas mehr als gar nicht kochen können. Ein ordentliches Mädchen sollte die grundlegendsten Regeln von Anstand kennen. Ein ordentliches Mädchen sollte … und so weiter. So etwas kam nicht oft vor. Wahrscheinlich noch nicht einmal jedes Jahr. Dennoch hatte es dazu geführt, dass Lara ein schickes Abendkleid besaß, einen Tanzkurs besucht hatte – der wiederum dazu geführt hatte, dass das Kleid wenigstens ein Mal in Gebrauch gewesen war – , dass sie einige Kochbücher im Regal stehen hatte, dass sie ein Mal piekfein für viele, viele Pfund und in eleganter Garderobe mit ihrem Großvater essen gewesen war, um alle nur erdenklichen Benimmregeln zu erproben, und dass sie außerdem noch ein paar andere Dinge besaß oder getan hatte, die ihr Großvater ab und an als notwendig erachtete.

Gehörte es vielleicht auch zu einem ordentlichen Mädchen, einen ordentlichen Haustürschlüssel zu besitzen? Aber warum war dann nicht die typische Floskel gefallen?

Oder aber ihr Vater hatte diesen Schlüssel gefertigt. Das war nämlich sein Beruf gewesen, soviel wusste sie. Aber wieso sollte er einen so wundervollen Schlüssel für eine kleine Wohnung irgendwo in Edinburgh gemacht haben? Mit diesem goldenen Schlüssel sollte man angemessenerweise einen Palast aufschließen können.

Aber es wäre zumindest ein schönes Andenken. Mal etwas anderes als Fotos.

Mit einer Handbewegung wischte sie die Gedanken zur Seite und steckte den Schlüssel ins Schloss.

Es ging erstaunlich einfach. Und drehen ließ er sich obendrein auch noch. Also doch. Ein neuer Haustürschlüssel. Lara verdrehte die Augen. Wartete auf das Klacken im Schloss, drückte die Klinke hinunter und öffnete die Tür.

Laras Herz blieb für einige Sekunden stehen. Fing sich dann aber wieder und klopfte stattdessen schnell und ungläubig weiter.

Vor der Tür konnte keine Straße sein. Niemals! Die McLanes wohnten im zweiten und dritten Stock, und vor der Tür erstreckten sich – zumindest bis gestern noch – der Hausflur samt Treppenhaus und gegenüber die Wohnungstür von Patty, die den Toffeeladen, der die Royal Mile weiter unten lag, betrieb.

Jetzt aber lag dort ein kleines Sträßchen, das in einer weiten Kurve steil abfiel. Mit Kopfsteinpflaster und Häusern aus grauem Bruchstein, so wie es sich für schottische Häuser gehörte. Schlimmer noch, Lara kannte die Gasse. Es war die Victoria Street, die lediglich zwei Häuserecken weiter lag, ebenfalls mitten in Edinburghs Zentrum. Und dort gehörte sie eigentlich auch hin. Zwei Häuserecken weiter und nicht vor die Wohnungstür der McLanes.

Lara machte die Tür wieder zu und kniete sich auf den Boden, um unter dem Türspalt hindurchzuspähen: Kein Zweifel, hinter der Wohnungstür lag die Victoria Street. Wie auch immer sie dort hingekommen war. Über Nacht hätte das Haus die Straße gewechselt haben müssen. Völlig verrückt. Vielleicht war ihr Großvater selbst überrascht, hatte bloß nichts erzählt. Kein Wunder, Lara hätte ihm wahrscheinlich erwidert, dass er langsam wirklich alt werde. Die Wohnung, die sich im neuen Jahr vorgenommen hatte, in eine neue Straße zu ziehen? Wie irre war das denn? Und sie musste lachen. Ein kurzes, knurriges, hilfloses Lachen. Dann stand sie auf, griff an die Klinke und trat hinaus auf die Victoria Street.

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Kein Zweifel, es war die echte Victoria Street. Es roch genauso grau wie in Edinburgh, die Geräusche waren dieselben, und man konnte das Castle über den Dächerspitzen thronen sehen. Aber was hatte sie auch erwartet? Irgendwie kam Lara jedoch nicht von dem Gedanken los, das alles müsse ein Traum sein. Ein seltsam realer Traum. Sie bekam einen Schreck. Vielleicht lag sie im Koma? Hatte sich am Alkohol vergriffen, war aus einem Fenster gestürzt oder … Nein.

Die Tür, die Lara hinter sich zuzog, sah von dieser Seite auch überhaupt nicht aus wie die Haustür zu der Wohnung an der Royal Mile. Sie untersuchte die Klingelschilder. Nichts. Dann kam ihr die vermeintliche Lösung in den Sinn: Sie müsste nur einfach wieder hineingehen.

Doch der Schlüssel weigerte sich von dieser Seite sehr beharrlich, sich im Schloss zu drehen, ja ihn überhaupt hineinzuzwängen war beinahe unmöglich. Sie stöhnte entnervt. Was sollte denn das jetzt wieder?

Und dann plötzlich sah sie es. So, als ob es der Zufall gewollt hätte. Aber sagt man zum Zufall nicht bisweilen auch Schicksal? Das Schild gehörte zu einem Laden auf der gegenüberliegenden Straßenseite:

Schlüssel, Uhren, Feinmechanik. Inhaber B. Quibbes.

Na immerhin! Dort würde ihr sicherlich jemand erklären können, warum der Schlüssel plötzlich den Dienst verweigerte. Sie ging über die Straße und schlug sich vor die Stirn. Es war der erste Januar. Bestimmt hatte der Schlüsselmacher geschlossen. Aber klare Gedanken waren sowieso ein Gut, mit dem Lara zurzeit nicht dienen konnte. Sie schalt sich leise einen Dummkopf.

Doch da bemerkte sie, dass sich im Inneren des Ladens jemand bewegte.

Schicksal? Zufall? Unwichtig! Lara brauchte eine Erklärung für ihren Schlüssel.

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Beim Näherkommen wurde Lara erhobener, streitender Stimmen gewahr, die aus dem Ladeninneren kamen. Durch die verschmierten Scheiben konnte sie jedoch nicht viel erkennen. Der Ladenbesitzer musste sich mit jemandem in den Haaren liegen, doch durch das Fenster war nur eine Person auszumachen. Lara presste ihre Nase gegen die Schaufensterscheibe. Nun sah sie mehr. Drinnen stand ein genervt wirkender Mann – Lara schätzte ihn auf etwa dreißig – mit schwarzen, zerzausten Haaren und dunklem Pullover, was nicht dazu beitrug, dass sein ohnehin schon blasses Gesicht an Farbe gewann. Er machte eine abwehrende Geste mit beiden Händen und sagte etwas, das Lara nicht verstand. Sein Gegenüber, das in der anderen Ecke des Ladens stehen musste, erwiderte etwas. Aber weder verstand Lara, was dieser Jemand sagte, noch konnte sie ihn sehen. Womöglich saß er oder war kleinwüchsig oder – egal.

Sie öffnete die Tür und löste bimmelnde Blechglocken aus, die offenbar Kundschaft ankündigen sollten. Der Mann mit dem zerzausten Haar blickte sie an.

»Krah«, machte es aus der Ecke. Ein Rabe saß dort auf einer Art Werkbank und legte den Kopf schief. Ein großer, pechschwarzer Kolkrabe.

War der Rabe der Streitpartner des blassen Mannes gewesen? Unmöglich. Mit Raben konnte man sich nicht unterhalten, obwohl Lara schon davon gehört hatte, dass Raben sprechen lernen konnten – wie Papageien oder Wellensittiche. Möglicherweise hatte der Mann einfach nur eine blühende Phantasie und vertrieb sich so die Zeit, da er ja am ersten Januar sowieso nicht mit Kundschaft zu rechnen brauchte.

Der Laden war urig. Nicht besonders groß. Dort, wo es keine schweren Eichenregale, Ecktischchen oder Werkbänke gab, lugten Reste einer alten Holzvertäfelung hervor. Der Raum wirkte zweigeteilt. Auf der linken Seite hingen mehrere Dutzend Uhren in allen Größen und Formen an der Wand. In den Regalen lagen Zahnräder, Ziffernblätter, Federn und auch sonst alles, was man zum Bau oder zur Reparatur einer Uhr brauchte. Ähnlich verhielt es sich mit der rechten Ladenhälfte, bloß dass diese den Schlüsseln und Schlössern gehörte. Ein riesiges Schlüsselbrett, das voller Schlüssel hing, schmückte einen großen Teil der Wand. Große, kleine, breite, lange, silberne, bronzene, solche mit komischen Formen und langen Griffen, solche mit –

»Hey, junge Miss!«, kam es da vom Tresen, der genau die Mitte zwischen beiden Ladenhälften ausfüllte. Lang, schwer und dick mit einer alten Registrierkasse und – was gar nicht ins Bild des Ladens passen wollte – einem Laptop daneben. Der blasse Mann mit dem dunklen Haar hatte eine Augenbraue hochgezogen und Lara mit einer Stimme angesprochen, die viel zu tief für sein Alter klang. Offenbar war ihm nicht entgangen, dass Lara vor Staunen erstarrt war.

Lara indes schüttelte ihre Erstarrung ab und trat zu dem Mann an den Tresen heran.

»Ich habe da einen Schlüssel, der nicht funktioniert«, meinte sie und legte den goldenen Schlüssel auf den Ladentisch.

Die Augen des Mannes weiteten sich kurz. Aber nur kurz, wie ein flüchtiger Schatten. Dann nahm er den Schlüssel in eine Hand und beäugte ihn gezielt und fachmännisch.

»Wo hast du es denn versucht?«, wollte er wissen.

»An unserer Haustür natürlich. Von innen ging er, nur von außen nicht mehr.«

Der Blick wanderte vom Schlüssel zu Lara.

»Aber wir sind doch schon in der Victoria Street in Edinburgh«, stellte der Mann fest und tippte mit dem Finger auf den Schriftzug am Schlüssel. »Ein Schlüssel kann dich doch nicht von der Victoria Street in die Victoria Street bringen, das funktioniert nicht.«

Lara blieb stumm. Er hätte ebenso gut sagen können, dass Elefanten selbstverständlich nicht auf Palmen kletterten, schon gar nicht in Sibirien.

»Wollen Sie mich verschaukeln?«, fragte sie und überlegte, ob sie beleidigt sein sollte. Waren denn im neuen Jahr auf einmal alle Leute komisch?

»Krah, sie weiß nichts«, schallte es aus der Ecke. »Sie hat keine Ahnung von Schlüsseln.«

»Halt den Schnabel, Dexter«, kam die Antwort. »Warum bist du überhaupt noch hier?«

»Du hast Schlüssel«, erwiderte der Rabe, als ob das die ultimative Erklärung sei.

Schlimmer aber war, dass der Mann tatsächlich mit dem Raben sprach. Nein, eigentlich war es noch viel schlimmer, dass der Rabe mit dem Mann sprach.

Lara starrte auf den Vogel.

»Wie heißt du?«, erkundigte sich der Rabe neugierig.

»Lara«, stammelte Lara. Verwundert darüber, dass sie überhaupt einen Ton herausbrachte.

»Pst!«, machte der Mann zu ihr. »Das muss er nicht wissen. Hau ab, Dexter!«

»Willst du mich zwingen? Das könnte sich negativ auf deine Post auswirken.«

»Vielleicht, aber dafür hätte ich das einmalige Vergnügen, dich mit einem funkelnigelnagelneuen Schlüssel einzusperren und ihn wegzuwerfen. Du weißt sicher, dass ich das kann.«

Der Rabe hüstelte verlegen.

»Warte hier«, sagte der Mann, wieder zu Lara gewandt. »Ich hole jemanden, der dir sicher weiterhelfen kann.«

»Krah, gut, dann kannst du mich gleich mitnehmen«, freute sich der Rabe.

»Nein, verflucht, flieg doch dort wieder in die Stadt rein, wo du rausgekommen bist!«

»Geht nicht.«

»Warum nicht?«

»Geht dich nichts an.«

»Dann sehe ich auch keinen Bedarf, dir zu helfen. Wahrscheinlich würde ich mir nur die Finger dreckig machen an irgendeinem Mist, in dem ihr Raben wieder steckt.«

»Blödmann. Krah.«

»Tja, Schicksal.«

Schulterzuckend wandte sich der Mann mit einem weiteren flüchtigen Blick auf Lara ab und verschwand im Hinterzimmer. Lara hörte ihn eine Treppe hinaufgehen und wartete. Der Rabe hielt den Schnabel.

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Ab und zu kommt man sich unheimlich lächerlich vor. Zum Beispiel, wenn man zusammen mit einem sprechenden Raben in einem Raum darauf wartet, dass jemand kommt, der einen verrückt gewordenen Schlüssel repariert.

Nach einer Weile kam der Mann wieder. Tatsächlich in Begleitung. Ein älterer Mann – vielleicht im Alter von Henry McLane – mit längst schon ergrautem Haar, einer kleinen Brille, fröhlichen Augen und einem gemütlichen Bauch betrat den Laden durch das Hinterzimmer.

»Krah, Mr Quibbes, na endlich! Darf ich jetzt endlich zurück?«, krakeelte der Rabe frech.

»Verflucht, ich hab dir doch –«, setzte der blasse Mann an, doch der Alte unterbrach ihn mit einer Handbewegung.

»Lass ihn«, meinte er in freundlichem, beschwichtigendem Tonfall. »Der stellt nichts an, was zu unserem Nachteil wäre. Und wenn doch, dann denken wir uns irgendetwas aus.«

Er machte einen vielversprechenden Gesichtsausdruck. Hätte der Rabe die Zunge herausstrecken können, hätte er es in diesem Moment wahrscheinlich getan.

»Wenn du so freundlich wärst, Tom.«

Der Rabe flatterte auf die Schulter des blassen Mannes, der offensichtlich Tom hieß, wobei dieser erst Mr Quibbes und dann den Raben zornig anfunkelte, aber den Vogel dann ohne zu murren ins Hinterzimmer brachte.

Mr Quibbes indes lächelte Lara an, mit einem gütigen, beinahe großväterlichen Lächeln. Er wirkte wie von einer inneren Ruhe beseelt, so, als wäre die Welt ein vergnügliches Theaterstück, das man sich in einem bequemen Sessel zu Gemüte führt.

»Lara McLane, richtig?«, fragte er.

»Richtig.«

Lara war platt.

»Woher wissen Sie das?«

»Ich dachte mir, dass du noch heute vorbeikommst, wenn du auch nur halb so neugierig bist wie dein Vater es einmal war.«

»Sie kannten meinen Vater?« Jetzt gab es kein Halten mehr. Da war jemand, der Laras Eltern gekannt hatte. Jemand, der nicht Henry McLane hieß und ihr immer dieselben Eindrücke sowie ein paar angestaubte Fotos zu bieten hatte.

»Und deinen Großvater kenne ich auch«, bestätigte Mr Quibbes mit einem Zwinkern. »Was hältst du von einem Ausflug ins Starbucks? Ich war noch nie da, aber es steht auf der langen Liste der Dinge, die ich immer schon einmal tun wollte.«

Lara konnte nur nicken.

»Dort reden wir dann«, entschied Mr Quibbes.

Er schob Lara mit einer Hand Richtung Tür. Kurz drehte er sich noch einmal um, fischte den goldenen Schlüssel von der Ladentheke, legte ihn sanft in Laras Hand und schloss ihre Finger darum.

»So einen sollte man nicht einfach liegen lassen. Das wäre Verschwendung«, sagte er.

Draußen vor der Tür schüttelte Mr Quibbes eine schwarze, ägyptische Zigarette aus einer flachen Blechschachtel, klopfte mit dem Ende der Zigarette auf die Handfläche, zündete sie an und stapfte mit hochgeschlagenem Kragen voran. Eine verdutzte Lara folgte ihm automatisch.

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Hätte irgendjemand Lara später gefragt, welcher der seltsamste Moment ihres Lebens gewesen sei, hätte sie es nicht mit Bestimmtheit beantworten können. Sie hätte wohl etwas gesagt wie: »Ich weiß nicht, aber er begann, als ich damals an meinem Geburtstag aufwachte.«

Und so bekam die Kette der seltsamen Begebenheiten im Leben der Lara McLane ein neues Glied, während sie mit Mr Baltasar Quibbes – wie dieser sich mittlerweile vorgestellt hatte – an einem kleinen runden Tisch in einem Starbucks Coffee House in Edinburgh saß, eine Tasse heißen Kakao trank und ein paar traumwandlerische Dinge zu hören bekam.

»Du hast wahrscheinlich bemerkt, dass dein Geburtstagsgeschenk kein gewöhnlicher Schlüssel ist«, sagte Mr Quibbes, nachdem Lara ihm ihren Tagesverlauf geschildert hatte.

»Sie wollen mich auf den Arm nehmen«, antwortete Lara leicht gereizt. »Ja, verdammt nochmal, das habe ich gemerkt! Wollen Sie mir nun vielleicht endlich erklären, was das alles zu bedeuten hat? Glauben Sie mir, ich hasse Rätsel!«

Doch Mr Quibbes zeigte sich unbeeindruckt.

»Dein Vater war ein Schlüsselmacher«, fuhr er fort.

»Ich weiß.«

»Was du aber sicherlich nicht weißt, ist, dass dein Vater kein gewöhnlicher Schlüsselmacher war.«

Lara zog die Augenbrauen hoch.

»War er nicht?«

»Nein«, stellte Mr Quibbes entschieden fest. »Genauso wenig wie ich einer bin oder Tom, der junge Mann, der bei mir arbeitet.«

»Derjenige, der nichts von sprechenden Raben hält?«

Es war eigentlich egal, wie viel verrückte Dinge heute noch geschehen mochten. Nur sollte dieser Mr Quibbes endlich mit dem rausrücken, was er wusste.

»Genau der«, bestätigte Mr Quibbes mit einem Lächeln. »Überleg doch einmal, Lara. Der Schlüssel hat dich in der Victoria Street abgesetzt.«

»Was heißt hier abgesetzt? Meinen Sie etwa …?«

»Genau das meine ich. Denk mal darüber nach, was wäre, wenn nicht die Tür bestimmt, wohin es geht, sondern der Schlüssel, den man hineinsteckt.«

Lara glotzte. Der ältere Herr vor ihr wollte ihr tatsächlich erzählen, dass es magische Schlüssel gäbe.

»Sie sind verrückt«, sagte sie schließlich.

Mr Quibbes’ Lächeln wurde zu einem breiten Schmunzeln.

»Nun, das würde ich vielleicht so nicht sagen. Ich bin eher etwas, mhm, unkonventionell.«

Lara wollte aufstehen, aber Mr Quibbes legte rasch eine Hand auf ihren Arm, woraufhin er ein wildes Funkeln von Laras Seite erntete.

»Bitte!«, begann er. »Lass mich dir das erklären. Dann liegt es bei dir, mir zu glauben oder mich für verrückt zu erklären.«

Schnaubend ließ sich Lara zurück in den Stuhl sinken.

»Also«, setzte Mr Quibbes an. »Es gibt einige Berufe, die anders sind als die anderen. Ihnen haftet etwas Mystisches, etwas Verwegenes an. Mit ihnen kann man interessante, aber auch grässliche Dinge anstellen.«

»Sie meinen das völlig ernst, oder?«, vergewisserte Lara sich.

»Dein Vater hatte so einen Beruf. Und ich habe ihn auch. Schlüssel- und Uhrmacher. Mechaniker.«

Die erneute Erwähnung von Laras Vater zeigte ihre Wirkung. Eine leichte Entspannung, ein Funke Neugierde machte sich auf Laras Gesicht breit, als sie daran erinnert wurde, warum sie eigentlich mitgekommen war. Richtig, der Mann auf der anderen Seite des Tisches wusste etwas über ihren Vater.

Mr Quibbes beugte sich verschwörerisch zu ihr hinüber.

»Manche Schlüssel, die wir machen«, erklärte er in einem geheimnisvollen Ton, »führen dich an andere Orte. Nach London, Paris, Köln, Danzig. Wir bewahren die letzten Funken uralter Weisheiten auf. Manche Uhren lassen die Zeit Purzelbäume schlagen. Es gibt Bilder und Gemälde, die mit dir sprechen können, und Leute, die dir bis auf den Grund der Seele zu blicken vermögen.«

Laras Augen hatten sich geweitet.

»Und Sie meinen wohl, ich könnte so etwas?«

Mr Quibbes nickte.

»Was hast du gespürt, als du den Schlüssel zum ersten Mal berührt hast?«, wollte er wissen.

»Er war«, Lara suchte das richtige Wort, »irgendwie warm.«

Mr Quibbes nickte wieder nur.

»Ja, ich denke, du kannst so etwas.«

Einen Augenblick lang war Lara drauf und dran, ihm zu glauben. Was für eine phantastische Idee. Magische Schlüssel. Doch …

Wie verrückt.

Lara stand auf.

»Du glaubst mir nicht«, stellte Mr Quibbes fest.

»Na ja, Sie erzählen aber auch ziemlichen Mumpitz«, brachte Lara es auf den Punkt.

Mr Quibbes schüttelte nur andeutungsweise den Kopf und sagte leise: »Keinen Mumpitz, Lara. Deine Eltern wüssten das.«

Lara beugte sich über den Tisch.

»Hören Sie verdammt nochmal auf mit meinen Eltern. Beweisen Sie diesen Blödsinn. Niemand würde Ihnen das glauben.«

Plötzlich beugte Mr Quibbes sich vor. Mit einer schnellen Bewegung hatte er Lara den Schlüssel entrissen und marschierte so in Richtung Toilette.

»Hey!«, protestierte Lara. »Das ist meiner! Wo wollen Sie denn hin?«

Und sie eilte ihm hinterher.

Hinter der Ecke, dort, wo es zu den Toiletten ging, blieb sie stehen. Wie Mr Quibbes. Der stand nämlich vor dem Damenklo und deutete mit dem Finger auf das 00-Schild.

»Was, denkst du, ist dahinter?«, fragte er seelenruhig.

»Das Klo, was glauben Sie denn? Und jetzt geben Sie mir den Schlüssel, Sie alter …!«

Lara machte einige Schritte auf Mr Quibbes zu. Der wiederum steckte schnell den Schlüssel ins Schlüsselloch, schloss auf und drückte die Tür nach innen auf, in das vermeintliche Klo hinein. Und Lara vergaß alles, was sie zu tun im Begriff gewesen war. Dort, hinter der Tür der Damentoilette, lag die Victoria Street. Dieselbe Straße wie die heute Morgen vor ihrer Haustür. Gegenüber war der Laden von Mr Quibbes, und darin bewegte sich die Gestalt des blassen Mannes namens Tom.

»Ich würde mich beeilen, denn wenn uns jemand sieht, stellt er unangenehme Fragen«, meinte Mr Quibbes lächelnd.

Lara nickte nur stumm und trat durch die Tür, hinaus auf die Victoria Street. Nein. Kein Traum. Lara überlegte, ob ihr nicht schwindelig sein müsste. Sie wusste es nicht.

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Das Schicksal war der größte Verräter überhaupt.

Es konnte keine magischen Schlüssel geben. Nein, nein, nein. Das war einfach unmöglich. Absolut absurd!

Aber schließlich hatte Lara es jetzt zum zweiten Mal mit eigenen Augen gesehen.

Sie standen wieder auf der Victoria Street. Baltasar hatte die vermeintliche Toilettentür hinter ihnen zugezogen und einer völlig fassungslosen Lara den kleinen, goldenen Schlüssel in die Hand gedrückt.

Wäre ihr Leben ein Cartoon und kein Herbstregen gewesen, überlegte Lara insgeheim, wäre dies der Moment, in dem ihr die Kinnlade heruntergefallen wäre.

Doch was sollte sie jetzt tun?

Nach Hause gehen und sich darüber freuen, den seltsamsten Schlüssel der Welt zu besitzen?

»Was hältst du von dem Gedanken, Schlüsselmacherin zu werden?«, fragte Baltasar ganz unvermittelt. »Du hast ganz ohne Frage das Talent dazu, wenn du deinen besonderen Schlüssel nur durch eine Berührung erkennst.«

»Wie… wieso fragen Sie das?«

Baltasar zwinkerte.

»Dein Großvater hat mir erzählt, dass ihr in der Schule langsam dazu gedrängt werdet, euch Gedanken über eure Zukunft zu machen.«

Lara nickte nur.

»Und da du das Talent hast, würde es doch naheliegen, eine ganz besondere Schlüsselmacherin zu werden«, fuhr er fort.

Später würde Lara nicht mehr daran denken, dass sie diese Entscheidung ganz unbefangen, ja beinahe beiläufig getroffen hatte. Diese Entscheidung, die ihr ganzes Leben verändern sollte. Unwiderruflich.

Und Mr Baltasar Quibbes hielt das Zünglein an der Waage, als er sagte: »Du könntest bei mir in die Lehre gehen. Und schließlich hättest du denselben Beruf wie dein Vater.«

Da sagte Lara McLane einfach und ohne zu überlegen: »Ja«.