6. Kapitel, in dem ein ohnehin schon unheimliches Haus wirklich so richtig gruselig wird.

Prag lässt nicht los … Dieses Mütterchen hat Krallen.

Imagebird Franz Kafka

Würde man zu dieser Jahreszeit auch Winter sagen, wenn sie gar nicht kalt wäre?

Bald war Frühlingsbeginn, und danach blieb es erfahrungsgemäß immer noch kalt in den meisten Ländern Europas – zumindest in denjenigen, die nördlich des alpinen Walls aus Bergen lagen. In manchen sogar eiskalt, zum Beispiel in Russland oder Norwegen. Aber auch in Tschechien waren die Temperaturen mitten im März nicht dazu gemacht, Eis zu verkaufen oder ins Freibad zu gehen.

Es war einfach nur bitterkalt.

Und mitten durch diese Eiseskälte stapfte eine kleine Gemeinschaft über den Altstädter Ring durch ein tiefgekühltes Prag.

Die goldene Stadt an der Moldau lag – ähnlich wie Edinburgh – noch unberührt von den Touristenströmen Europas da und verbreitete einen milden Glanz. Helle, alte Häuser, soweit das Auge reichte, und vor allem rote Dächer. Niemand hier schien im Laufe all der Jahre auf die Idee gekommen zu sein, man könne ein Hausdach mit etwas anderem decken als mit roten Dachpfannen.

Über das breit getretene und abgenutzte Kopfsteinpflaster der Gehwege eilten sie dahin. Sieben dick eingemummelte Gestalten: Die zwei Schlüsselmacher, einer mit einer schwarzen Zigarette im Mund, der zweite missmutig mit den Händen in den Taschen seines dunklen Mantels. Die zwei Kommissare in ihren grauen Trenchcoats mit hochgeschlagenen Kragen. Die dicke Wahrsagerin, deren Bedeutung für die Ermittlungen Lara noch nicht in Erfahrung gebracht hatte. Die schlanke Nachtwächterin mit der grünen Locke, deren Schritte, jeder für sich, eine eigene Welt voll Anmut und tödlicher Präzision bildeten.

Und Lara.

Lara McLane mit eingezogenem Kopf, die Ohren unter der Mütze und zwischen dem roten Schal versteckt. Kopfhörer aufzusetzen wagte sie nicht. Kommissar Cooper schien sich alles andere als zu freuen, sie dabeizuhaben. Er hielt es offenbar für ein notwendiges Übel, und Lara hatte keinen Bedarf, sich mit ihm anzulegen.

Trotzdem wäre ihr nach Musik der Ramones gewesen oder etwas Ähnlichem. Irgendetwas, was den ständig faden Geschmack von unsagbaren Sorgen fortwischte – zumindest für einige Augenblicke.

Henry McLane war fort. Und egal, was die Leute, die ihn verschleppt hatten, von ihr wollten, es konnte nichts Gutes sein.

Nein. Entschieden nicht.

Diese grässlichen Mistkerle.

Sie seufzte und sah hoch, die Straße entlang. Über der Prager Altstadt hielten dicke Türme Wacht. Teyn-Kirche, Pulverturm, Karlsbrücke. Und über diesen wiederum lag majestätisch der Hradschin, die große Burg.

Geneva wandte im Gehen den Kopf und lächelte Lara aufmunternd an. Sie schien alles irgendwie mit der richtigen Mischung aus tödlichem Ernst und heiterer Gelassenheit zu nehmen. Lara wünschte sich, sie könnte doch nur ein wenig von dieser gelassenen Seite abbekommen. Es ging um ihren Großvater, ihren einzigen Verwandten, den sie jemals kennen- und lieben gelernt hatte. Diese Welt war ein Schlund. Einmal aufgetan, sog sie alles in sich hinein und zermalmte es zwischen Bollwerken aus ohnmächtiger Wut und Verzweiflung und nannte das Ganze obendrein auch noch Leben. Das war nicht fair. Sie war doch noch so jung.

Geneva stieß sie an.

»Das ist die Josefstadt«, raunte sie Lara zu.

Lara blickte auf. Tatsächlich hatte sich ihre Umgebung unmerklich verändert. Die Steine der Häuser wirkten plötzlich schattiger. Überhaupt schien es hier ein wenig ruhiger zu sein als im Rest der Stadt. Alles wirkte auf eine seltsame Art und Weise ineinander verwoben. Häuser, Straßen, Mauern, Bäume. Sie formten seltsame Knoten und Gebilde.

Lara dachte darüber nach, dass es hier im Sommer – wenn Laub an den Bäumen hing – bestimmt das ein oder andere lauschige Plätzchen geben musste. Aber sie verwarf den Gedanken, denn auch ihr fiel es nicht schwer, das leise, melancholische Flüstern zwischen den Steinen zu hören. So, als würde dieser Teil der Stadt trauern. Seit uralter Zeit.

»Warum ist dieser Ort so traurig?«

Lara konnte diese Frage nicht zurückhalten, doch sie stellte sie leise, und so bekam zumindest Mr Cooper nichts davon mit – oder er ließ es sich wenigstens nicht anmerken.

»Dies ist das jüdische Viertel von Prag«, erklärte Geneva. »An diesem Ort stehen noch viele uralte Gebäude, Mauern und Erinnerungen der Juden. Vielleicht mehr als sonst an einem Ort in Europa. Und die Juden sind ein von Schmerz durchsetztes Volk. Das waren sie immer schon.

Außerdem waren sie schon immer sehr begabt in handwerklichen Dingen. So ist es kein Wunder, dass ihre Werke zeit ihres Bestehens von ihren traurigen Geschichten künden.«

»Es fühlt sich ein wenig an wie auf einem Friedhof«, überlegte Lara laut.

Dann verbesserte sie sich.

»Nein, nicht ganz.«

Sie folgten einander im Gänsemarsch. Vorneweg Tom, mit hochgeschlagenem Kragen, die Hände in den Taschen. Er führte sie zu einem höheren Gebäude, ganz in Weiß mit kleinen Türmchen und spitzen Fenstern, umrandet von einem schwarzen Eisenzaun.

Es sah geschlossen aus, aber Tom steckte unbeirrt einen seiner Schlüssel in ein Gatter im Eisenzaun, schloss auf und ging hindurch.

Als Lara das Gatter hinter sich wieder zuzog, hatte Tom bereits an der Holzpforte geklopft, woraufhin nach einer kurzen Zeit des Wartens ein hagerer Mann mit weißem Bart und einer Kippa öffnete.

Unglaube zeichnete sich auf seinem Gesicht ab, als Tom eine Verbeugung andeutete und »Schalom« sagte.

»Tom?«

Der Mann im Türrahmen zögerte. Wirkte unsicher, als ob er nicht recht wüsste, ob er seinen Augen trauen konnte. Dann riss er sich plötzlich zusammen, tat einen wankenden Schritt auf Tom zu und umarmte ihn. Tom wirkte steif, als sei ihm die Umarmung unangenehm.

Nach einigen Momenten lösten sie sich voneinander, und der Mann mit der Kippa musterte Tom von oben bis unten.

»Was, um alles in der Welt, tust du hier?«, wollte er wissen.

»Schicksal«, meinte Tom.

»Na ja, dein freches Mundwerk hat offenbar nicht nachgelassen. Komm rein! Kommt alle rein!«

Der Mann winkte sie freundlich durch die Tür.

So betraten sie die hellen, runden Gewölbe, die einen seltsamen Spagat zwischen Kargheit und üppigem Zierwerk schafften. Ihre Schritte hallten von den Bodenfliesen wider.

Laras Blick fiel auf die Wände. Dort gab es ganze Abschnitte, die über und über beschrieben waren.

»Was steht dort?«, fragte sie Geneva leise, doch diese legte nur den Finger an die Lippen.

»Namen«, antwortete stattdessen der Mann mit der Kippa, ohne den Kopf zu wenden.

»Die Namen unserer Brüder und Schwestern, die den Tod in der Zeit des großen Krieges fanden.«

Lara schluckte.

»Achtzigtausend.«

Es wurde kalt. Diese Wände schrien einem den Schmerz von Generationen entgegen. Lara schauderte. War die Josefstadt wirklich die Stadt des Schmerzes?

Sie folgten dem Mann mit der Kippa weiter, eine Treppe hinunter, durch ein Türchen und kamen in eine geräumige Stube mit einem schweren Eichentisch und einigen Stühlen.

»Setzen Sie sich! Setzen Sie sich!«, forderte er alle auf. Er selbst setzte sich an den Kopf des Tisches und bedeutete Tom, sich zu seiner Rechten zu setzen.

Anschließend stellte Tom alle seine Begleiter vor, einschließlich Lara.

»Und das ist Rabbi Friedmann«, schloss er mit einem Blick auf den Kippaträger.

»Angenehm«, brummte Mr Falter.

»Sehr erfreut«, meinte Mr Cooper.

»Möchten die Herrschaften einen Tee?«, fragte der Rabbi, doch alle verneinten. Sie hatten ja vor Kurzem noch beim Tee zusammengesessen.

»Dann bestehe ich nun allerdings darauf, den Grund dieses seltsamen Besuches zu erfahren. Tom?«

Dieser nickte nur und bedeutete Mr Falter, das Wort zu ergreifen. Dieser räusperte sich und begann mit seiner Wolfsstimme zu erklären. Er erzählte lange nicht alles, was er wusste, so viel bekam Lara sehr wohl mit. Es kam ihm ganz darauf an, dem Rabbi die Dringlichkeit ihres Anliegens vor Augen zu führen. Falters ganze Erscheinung ließ an keiner Stelle einen Zweifel daran, dass er ein absoluter Profi war.

Als er geendet hatte, legte sich ein nachdenkliches Schweigen über den Raum. Rabbi Friedmann blickte über den Rand seiner Brille hinweg in die Runde.

»Das sind schwere Verdächtigungen, die Sie da hegen, Mr Falter«, überlegte er schließlich laut.

»Um ehrlich zu sein, werter Rabbi, es ist die einzige Spur, die wir haben.«

Offenbar kostete es Falter etwas Überwindung, dies einzugestehen, denn er presste es zwischen den Zähnen hervor.

Der Rabbi stand auf und begann, mit hinter dem Rücken verschränkten Armen auf und ab zu wandern.

»Und nur weil Sie nichts Besseres haben, dem sie nachgehen können, möchten Sie von mir wissen, wo sich Ruben aufhält? Das ist etwas dürftig. Ich fürchte, das kann ich nicht verantworten.«

Er warf der niedergeschmetterten Lara einen Blick zu.

»So leid es mir auch tut, meine Schweigepflicht verbietet es.«

Seine Arme ruhten nun auf der mit Schnitzereien verzierten Lehne seines Stuhls.

»Das kann nicht dein Ernst sein, Malcolm!«

Es war Tom. Er war aufgestanden, und einen Moment schien es, als würden die Augen der beiden Stehenden einen stummen Kampf austragen.

»Ich bin nicht hierher zurückgekommen, um einfach nur Guten Tag zu sagen. Du kannst uns das nicht verschweigen, so kurzsichtig kannst nicht einmal du in deinem gekränkten Stolz sein.«

»Was weißt du denn schon von Stolz, Junge?«, herrschte der Rabbi ihn an. »Wessen Stolz und Selbstachtung einmal zwischen die Bestien gerät, der trägt sie fortan hoch. Und es ist sein gutes Recht, es zu tun.«

»Warum hängt ihr immer noch in alten Zeiten fest? Warum? Ist es so erstrebenswert, sich im eigenen Leid zu suhlen? Macht es euch so blind?«

Und dann erzählte er aufgebracht von seinen Verdächtigungen in Bezug auf den abtrünnigen Nachtwächter, Ruben Goldstein und Roland Winter. Mr Falter ließ sich nicht anmerken, ob er es guthieß, was Tom alles erzählte. Er schwieg.

Zwischendurch musste sich der Rabbi setzen und wurde kreidebleich. Immer wieder schüttelte er den Kopf, als würden dort ungebetene Lieder um die Wette singen, die es zu verscheuchen galt.

Am Ende seiner Ausführungen fasste Tom den Rabbi am Arm.

»Und selbst wenn es nur ein falscher Verdacht ist, Malcolm. Wir müssen ihm nachgehen.«

Rabbi Friedmann riss seinen Arm los und stützte seinen Kopf darin ab. Er sah aus, als habe er soeben vom Tod eines geliebten Menschen erfahren.

»Und … und du bist sicher, dass man ihn zurückholen will?«, stammelte er.

Tom legte den Kopf schief.

»Ich hoffe, um Ravinias willen, dass ich mich irre.«

Der Rabbi nickte still.

Schließlich drehte er müde den Kopf.

»Also gut«, hauchte er. »Das überschreitet meine Kompetenzen bei Weitem, aber wenn es Schlimmeres verhüten kann, möge der Herr mir verzeihen.«

Eine zweite Traurigkeit hatte sich in die Augen des Rabbi gestohlen. Frischer als jene, die die ganze Zeit schon dort weilte. Ein Schatten, wie ihn der Mond bei einer Sonnenfinsternis wirft, und Lara musste daran denken, dass das Leben wie ein Herbstregen sein kann. Rabbi Friedmann tapste gerade barfüßig durch die bitterkalten Pfützen.

»Böhmisch Krumau«, sagte er leise. »Oder Cˇeský Krumlov, wie wir hier sagen. Dort wohnt er. Wartet, ich hole die genaue Adresse aus meinem Arbeitszimmer.«

So erhob er sich und schlurfte davon.

Tom war nicht anzusehen, inwiefern ihn der Streit mit dem Rabbi getroffen hatte. Seine Augen sagten wie üblich nichts über seine Gedanken oder Gefühle aus. Lara fragte sich, was Tom wohl mit diesem seltsamen, traurigen Ort verband und warum er eigentlich nicht hatte herkommen wollen.

Hermann Falter wandte sich an Tom. Seine Stimme nahm einen verhörartigen Ton an.

»Wer ist dieser Friedmann, und wieso kennt er Ravinia?«

Tom zog eine Augenbraue hoch.

»Mein lieber Mr Falter, Sie müssen nicht alles wissen. Aber ich werde es Ihnen sagen – sonst stehe ich womöglich bald selbst unter Verdacht.«

Falter schnaubte verächtlich.

»Nun haben Sie sich nicht so«, fuhr Tom auf. »Sie sollten mal ein wenig Gelassenheit tanken. Rabbi Friedmann hat vor vielen Jahrzehnten in der Synagoge von Ravinia gearbeitet. Nicht als Rabbi. Einfach nur so. Und bevor Sie fragen: Nein, er hat keinerlei besondere Talente. Die haben Sie im Übrigen ja auch nicht. Malcolm Friedmann ist einfach nur ein guter Seelsorger.«

Der Besagte war gerade im Begriff gewesen, an den Tisch zurückzukehren, stockte kurz und sah Tom fragend an.

»Oh, ich habe nur kurz deine früheren Beziehungen zur düstergoldenen Stadt erklärt. Jemand war misstrauisch.«

Friedmann nickte, offenbar genügte ihm die Antwort, und schob Tom einen Zettel über den Tisch, den dieser sorgfältig studierte, um dann Baltasar anzusehen.

»Du hast nicht zufällig einen Schlüssel in die böhmische Provinz?«

Baltasar schüttelte den Kopf.

»Dann, meine Damen und Herren«, verkündete Tom tonlos, »sieht es wohl so aus, als müssten wir zum hlavní nádraží

»Wohin?«

»Zum Hauptbahnhof.«

»Schön«, murrte Mr Charles Cooper. »Wozu haben wir Sie eigentlich dabei, wenn wir trotzdem Zug fahren?«

Tom sah ihn unverwandt an.

»Bisher haben wir Ihre Arbeit gemacht, beklagen Sie sich also nicht!«

Cooper stieß verächtlich die Luft aus.

Imagebird

Es sah ein wenig wie Herbstregen aus.

Das Wasser klatschte nur so an die Scheiben des Regionalzuges nach Südböhmen. Tiefgrau rauschte der Himmel vorbei, die blätterlosen Bäume standen wie Narben davor. Ab und an wirbelte der Zug etwas Laub auf, das ebenfalls an den Fensterscheiben kleben blieb und nur langsam vom nachfolgenden Regen wieder abgespült wurde.

Geneva, Baltasar und Lara besetzten zusammen mit Mama Zamora eine Vierer-Sitzgruppe um einen kleinen, klapprigen Tisch. In den zwei Sitzen hinter ihnen saßen die beiden Kommissare. Tom hatte sich einige Sitzreihen weiter nach hinten zurückgezogen.

Schweigend fuhren sie so durch ein regnerisches Tschechien.

Im historischen Hauptbahnhof von Prag hatte Mr Falter Geld gewechselt. Er war der Einzige gewesen, der Euro dabeigehabt hatte, die der tschechische Wechsler mit leuchtenden Augen entgegengenommen hatte. Lara hätte gewettet, dass es ihn einiges an Beherrschung gekostet haben musste, sich nicht auch noch diebisch die Hände zu reiben. Auf die Frage von Mama Zamora, ob sich Mr Falter sicher sei, nicht hereingelegt worden zu sein, murrte dieser nur: »Und wenn schon. Wird mir doch sowieso erstattet.«

So hatte er mit den eingetauschten Kronen und unter den zweifelnden Blicken von Mama Zamora sieben Fahrkarten nach Krumau gelöst und zu Laras völligem Erstaunen danach alle in ein uraltes Bahnhofscafé eingeladen, über dem ein schweres, gusseisernes Schild prangte, auf dem in großen Buchstaben »PRAGA – mater urbium« geschrieben stand.

»Ist, um die Wartezeit zu überbrücken«, hatte Falter gemurmelt, als sich Geneva und Lara artig bedankten. »Man muss die Stimmung durch stummes Warten ja nicht noch mehr strapazieren.«

Und für den Bruchteil einer Sekunde glaubte Lara, eine flüchtige Andeutung von Gutmütigkeit in den Zügen des wolfartigen alten Kommissars zu entdecken.

Dann hatte er sich einen doppelten Espresso bestellt. Cooper hatte sich mit schwarzem Kaffee abgegeben, ebenso wie Baltasar und Mama Zamora. Der Rest hatte heiße Schokolade getrunken.

Geneva unternahm einmal den unmerklichen Versuch, Tom in ein Gespräch zu verwickeln. Nur scheiterte dies – natürlich – am düster dreinblickenden Tom, der Worte als ein knappes Gut anzusehen schien. Der Rest hielt ein wenig Small Talk miteinander. Über Filme und Bücher und Musik. So ergab sich wenigstens etwas Kurzweil, wenn Lara sich auch nicht so richtig auf ein Gespräch zu konzentrieren vermochte.

Schweigend gewartet hatten sie dann allerdings doch noch. Und zwar auf ihren Anschlusszug in Budweis.

Schließlich hatte es Lara nicht mehr ausgehalten:

»Warum sind Sie eigentlich mit von der Partie?«, fragte sie Mama Zamora ganz ungeniert.

Die Angesprochene hatte offenbar mit dieser Frage absolut nicht gerechnet und schüttelte verdutzt den Kopf.

»Wie meinst du das?«

»Na ja, jeder hier – abgesehen von mir – hat eine Aufgabe bei den Ermittlungen zu erfüllen. Die beiden Kommissare ermitteln (ein mehr oder weniger verkniff sie sich), die Schlüsselmacher verschaffen ihnen Zutritt, wohin sie wollen, und kürzen Reisewege ab und Geneva sorgt für die Sicherheit. Aber wozu sind Sie da?«

Jetzt begann Mama Zamora zu grinsen. Ganz breit, so wie es zu ihrem Gesicht passte. Dabei enthüllte sie eine Reihe von Goldzähnen, die das Bild einer alten Zigeunerin mitsamt den bunten Sachen, den großen Ohrringen und dem Kopftuch abrundeten.

»Dies und das«, sagte sie geheimnisvoll. Dann bewegte sie ihr Gesicht ganz nah an Laras heran, was sich etwas schwieriger gestaltete, da Mama Zamora zwar erheblich mehr wog als Lara, aber gut einen halben Kopf kleiner war.

»Hauptsächlich aber«, raunte sie, »damit uns niemand belügt.«

»Wie, belügt?«

Dumme Frage. Das merkte Lara allerdings erst an der Antwort.

»Ganz einfach, wenn uns jemand eine Tomate hinhält und behauptet, es sei ein Ei, dann ist das eine Lüge.«

Geneva musste unwillkürlich lachen. Auch auf Mr Coopers Gesicht stahl sich ein verschmitztes, kaum zu übersehendes Grinsen, und Lara kam sich mit einem Mal wieder sehr klein vor.

»Das meinte ich nicht«, protestierte sie, als sie merkte, wie plump ihre Frage gewesen war.

»Ich weiß.«

Mama Zamora lächelte ihr Goldzahngrinsen.

»Ich bin quasi der Lügendetektor hier«, sagte sie schließlich.

»Sie meinen, Sie können den Leuten ansehen, wenn sie lügen?«

»Ay.«

Unfassbar. Was Ravinia nicht alles für seltsame Gestalten ausspuckte. Aber natürlich, so musste es sich wohl mit der Zunft der Wahrsager verhalten. Immerhin nannte man sie ja Wahrsager.

»Ist es das, was Wahrsager tun können?«, erkundigte Lara sich schließlich. »Ich meine, Entschuldigung. Ich habe noch nicht sehr lange mit Ravinia zu tun. Und Baltasar und Tom, na ja, sie sind nicht sehr gut darin, einem sonderbare Dinge zu erklären.«

Mama Zamora warf einen Blick in Richtung der beiden Schlüsselmacher. Der eine rauchte, der andere stand etwas abseits und starrte in die Leere der Bahnhofshalle, während der Regen von oben in einer Mischung aus Prasseln und Knirschen auf das Dach strömte. Ob einer von ihnen zugehört hatte, konnte ihnen niemand ansehen.

»Oh ja«, meinte sie schließlich. »Das kann ich mir wahrlich gut vorstellen. Mr Quibbes ist für seine Geheimnistuereien bekannt. Und Tom, nun ja, sagen wir mal, er ist selbst in den Augen eines Wahrsagers sehr eigen.«

Baltasar zwinkerte zu Mama Zamora herüber. Er hatte sie also verstanden.

Mama Zamora streckte ihm die breite, fleckige Zunge raus, und Baltasar wandte sich schmunzelnd ab.

»Also«, kehrte sie zum Thema zurück. »Was uns Wahrsager betrifft: Nein, das ist nicht alles, was wir können. Viele von uns können viele seltsame Dinge. Es ist vielleicht nicht ganz so einfach zu begreifen wie bei Malern oder Mechanikern. Manche von uns haben Visionen. Manche können mit Erinnerungen herumspielen. Manche können an andere Orte sehen. Es gibt vieles mehr, was Wahrsager zu tun vermögen. Es lässt sich nur schwerlich unter einen Hut bringen. Tja, so ist das mit uns.«

Lara nickte verwirrt.

»Ravinia hat unendlich viele Facetten«, fuhr Geneva anstelle von Mama Zamora fort. »Man kann Jahre, sicher sogar Jahrzehnte dort verbringen und kennt sie doch nicht alle.«

»Nicht einmal Lord Hester kennt alle Geheimnisse der Stadt«, raunte Mama Zamora. Es klang verschwörerisch, als ob sie Angst habe, gehört zu werden.

»Obwohl er vielleicht mehr kennt, als jeder andere«, bestätigte Geneva.

»Lord Wer

Schon wieder ein neuer Name. Würde das denn niemals aufhören? Es war tatsächlich so, als existiere eine ganze Welt, von der Lara noch nie zuvor gehört hatte.

»Lord Hester«, meinte Geneva. »Er ist der Herr von der Burg Ravinia.«

»Die Burg habe ich schon einmal gesehen«, erinnerte sich Lara an jenen Moment auf Eusebius Lanchesters Balkon mit dem wunderbaren Blick über die Stadt.

»Lord Hester wohnt dort«, fuhr Geneva fort. »Er ist der Herr der Raben. Er gebietet über sie und sieht und hört auf diese Weise viele, viele Dinge in und um Ravinia. Er ist zwar nicht der Herr der Stadt, aber er ist eine, wenn nicht gar die Autorität in Ravinia.«

»Und er wohnt auf der Burg?«, vergewisserte sich Lara.

Geneva nickte.

»Wohnt sonst noch jemand dort?«

Nachtwächterin und Wahrsagerin sahen sich kurz an.

»Nicht dass ich wüsste.«

»Seltsam«, meinte Lara. »Tom meinte kürzlich, er würde dort im Torhaus wohnen.«

Ihre Gegenüber bekamen große Augen.

Geneva lachte kurz, besann sich aber, als sie merkte, dass Lara es völlig ernst meinte.

»Tatsächlich?«

Lara nickte nur, und Geneva sah sich nach Tom um, der immer noch gedankenverloren die Gleise entlangblickte.

»Seltsamer Kerl«, überlegte sie schließlich halblaut.

Imagebird

Manchmal versinkt die Welt hinter flüsternden Schleiern aus Regen.

Und dieser Regen weigerte sich auch den Rest der Zugfahrt hartnäckig, aufzuhören. Im Gegenteil, als die Hügel der Landschaft steiler wurden, fiel auch der Regen stärker. Ein schlecht geheiztes Abteil machte die Reise auch nicht angenehmer.

Lara musste an Rabbi Friedmann aus der Stadt des Schmerzes denken, an die Gefühle, die sie im Laufe von nicht einmal einer halben Stunde über sein Gesicht hatte ziehen sehen: Freude, Trauer, Trotz und Entsetzen. Maßloses Entsetzen. Was konnte jemand wie Roland Winter nur angestellt haben, dass es einen alten jüdischen Rabbi dermaßen aus der Fassung brachte? Dass er seine Schweigepflicht übertrat? Und wer war Ruben Goldstein? Ein alter Freund von Winter? Und was wollte er von ihrem Großvater, nein, von ihr?

Fragen über Fragen über Fragen.

Das Städtchen Krumau wirkte wie aus einem Märchen. Uralte Häuser säumten die Straßen und ließen die Stadt aussehen, als sei sie direkt dem Mittelalter entsprungen. Beinahe wie ein kleines Prag lag sie da. Ebenfalls an der Moldau, größtenteils auf der Halbinsel einer ausladenden Flussbiegung erbaut. Und wie in Prag thronte auch hier ein Schloss über den zahllosen roten Dächern. Allerdings lagen links und rechts weite, bewaldete Hügellandschaften, wo in Prag nur kilometerweite Großstadt war.

Vielleicht hatte Krumau nicht den goldenen Glanz der Karlsstadt, aber es schien dafür bunter zu sein. Lebhafter. Persönlicher. Selbst im prasselnden Regen wirkte diese Stadt aus irgendeinem Grund einfach freundlich.

Nachdem sie den Bus zum Marktplatz genommen hatten, gingen sie einige Seitengassen hinunter zu einer breiten Straße am Fluss. Unter einem Vordach warteten sie, bis Tom in einer Telefonzelle auf Tschechisch zwei Taxis bestellt hatte. Dann schlenderte er zu ihnen hinüber, als ob ihm der Regen nichts ausmachen würde. Jeder andere wäre vermutlich gerannt, um so wenig Wasser wie möglich abzubekommen. Beinahe schien es, als würde Tom die prasselnden Tropfen auf der Haut genießen.

Ein paar Minuten später erschienen die Taxis. Aus einem stieg ein untergewichtiger Kerl in den Vierzigern mit einer zerschlissenen Baskenmütze und einem glühenden Zigarrenstummel im Mundwinkel.

Er stellte sich als Radu vor und als Chef des Taxiunternehmens. Lara und Geneva warfen sich einen Blick zu. Keine Frage, der gute Radu hatte offenbar das Geschäft des Tages gewittert.

Tom musste ihn enttäuschen, es würde keine ausgedehnte Spritztour geben.

Tatsächlich fuhren sie auch nicht lange. Es ging nach Süden, eine Viertelstunde vielleicht. Sie passierten ein äußerst hübsches Dörfchen namens Prˇídolí und fuhren einige Minuten durch einen Wald, der selbst ohne Blätter erstaunlich dicht zu sein schien, hin zu jener Adresse, die Rabbi Friedmann ihnen genannt hatte.

Schließlich tauchte es vor ihnen auf. Wie ein Geist aus dem Nebel der böhmischen Hügel. Eine Faszination ging von ihm aus. Schön und erschreckend zugleich. Es war ein Haus. Groß und uralt. Umgeben von einer brüchigen Mauer und verschlungenen Hecken, lag es am Hang eines Hügels inmitten eines überwucherten Gartens.

Es bestand aus einer Unmenge von Erkern, Giebeln, Türmchen und Fenstern in seltsamen Formen.

Radu zog eine Augenbraue hoch und vergewisserte sich, ob sie richtig seien. Tom bejahte ohne Zögern. Welcher Ort eignete sich wohl besser für jemanden, der Geheimnisse wie das von der Stadt Ravinia hütete?

Sie stiegen aus, und Mr Falter bezahlte den Taxiunternehmer.

Als sie gefragt wurden, ob man auf sie warten solle, schüttelte Tom den Kopf. Sie könnten von hier jederzeit wieder anrufen, sobald sie ein Taxi bräuchten, es würde ohnehin länger dauern. Radu nahm dies etwas widerwillig zur Kenntnis und brauste mit seinem Angestellten davon.

»Wir werden kein Taxi brauchen«, meinte Tom, als Laras fragende Augen ihn durchbohrten. »Hier gibt es Türen. Und wo Türen sind, kann man Schlüssel benutzen.«

In der Zwischenzeit hatte Mr Falter das schwere, schmiedeeiserne Gatter aufgeschoben, und sie stapften im Gänsemarsch die matschige, unbefestigte Auffahrt zu der barocken Villa hinauf.

Imagebird

Sie erreichten eine große, kunstvoll geschreinerte Eichentür. Ein verschnörkelter Briefkasten, auf dem Goldstein geschrieben stand, hing daneben. Rechts und links der Tür versuchten offenbar schon seit Jahren einige Weinreben, die Hauswand für sich zu erobern. Der weiße Putz litt sichtlich darunter.

Eine Kette mit einem Griff hing herab, und Kommissar Falter zog daran.

Das tiefe Dröhnen einer großen Hausglocke erschallte irgendwo von drinnen. Dann geschah einige Sekunden lang nichts, bis die schwere Eichenholztür knarzend aufschwang und jemand, nein: etwas im Türrahmen erschien. Ja, etwas war die richtige Bezeichnung, denn es handelte sich offensichtlich nicht um einen Menschen. Die Proportionen stimmten zwar, und es besaß einen Kopf, einen Körper, Arme und Beine, ja sogar einzelne Finger, doch war dies alles aus Metall. Dicke und dünne Metallstreben, versehen mit Scharnieren und Gelenken, bildeten einen schlanken, aufrechten Körper. Zwischen den Streben und Stangen ratterte und klickte es. Tausende Zahnräder, Federn und kleine Achsen drehten sich im und um den Körper des Metallmenschen. Er sah aus wie ein zu groß geratenes Uhrwerk. Mr Cooper schlug die Hände vor den Mund, und das allgegenwärtige Lächeln in Genevas Gesicht war von einem auf den anderen Augenblick wie weggeblasen.

Ziffernblätter befanden sich dort, wo bei einem Menschen die Augen gewesen wären, und es schien, als würden die Ziffernblätter sie mustern.

»Ja bitte? Sie wünschen?«, schälte sich eine Stimme aus dem mechanischen Körper, die durch das Rattern und Winden Tausender Zahnräder hervorgerufen werden musste.

Tom deutete unbeeindruckt eine Verbeugung an.

»Hallo, wir wollten zu Ruben Goldstein. Wir haben eine wichtige Angelegenheit mit ihm zu besprechen. Sagen Sie ihm, es hat mit Ravinia zu tun.«

Der mechanische Mensch nickte und machte eine einladende Geste.

»Kommen Sie bitte herein, und warten Sie einen Moment im Trockenen!«, knarzte es.

Sie folgten der Einladung, während sich das Wesen aus Zahnrädern klickend entfernte. Es sah wesentlich eleganter aus, als Lara es einem solchen mechanischen Konstrukt in irgendeiner Weise zugetraut hätte.

»Was ist das?«, fragte sie.

»Offenbar eine von Rubens Konstruktionen«, murmelte Baltasar nachdenklich.

»Aber wie macht er das?«

Baltasar sah sie an, seine Worte hatten etwas Beklommenes, so als widere ihn der bloße Aufenthalt an diesem Ort an.

»Er hat seine Mittel und Wege. Er ist Mechaniker, so wie Tom und ich auch. Und du wirst vielleicht auch irgendwann eine Mechanikerin sein. Ruben hatte nie ein übermäßiges Interesse an Schlüsseln, deshalb hat er sich ganz auf die Uhrmacherei konzentriert.«

Inzwischen hatten sie die Empfangshalle der großen Villa betreten. Barocke Schnitzereien mit abblätternder Farbe zierten die Stützbalken des Hauses. Eine mächtige Treppe mit verschnörkeltem Geländer ragte hinauf zu einer Galerie.

Und überall waren Uhren. Eine Geräuschkulisse, ähnlich einem belebten Sommerwald, erfüllte raschelnd die Luft. Baltasar verzog den Mund.

Hunderte Uhren gaben ihr Ticken und Tacken von sich und füllten den Raum mit Unruhe. Mächtige Standuhren, filigrane Glasuhren, verschrobene Kuckucksuhren oder ganz einfach Uhren, die nur aus Ziffernblatt und Zeigern zu bestehen schienen. Alle Ecken, alle Wände waren voller Uhren.

Dann ertönte ein mächtiger Gong aus einer der großen Standuhren, und augenblicklich brach das Chaos los. Alle Uhren bekundeten gleichzeitig den Stundenwechsel durch Klingeln, Piepen, Glockenschlagen oder anderweitige Geräusche. Es war ein Geräuschemeer, das die Welt explodieren ließ. Alle pressten die Hände auf die Ohren, selbst der sonst so beherrschte Mr Falter. Lediglich Tom blieb gelassen, und niemand konnte ihm ansehen, ob es ihm schlichtweg nichts ausmachte oder ob er das Bad in der Geräuschkulisse sogar auf irgendeine Art und Weise genoss.

Fast gleichzeitig verstummten die Uhren wieder.

Jemand Weiteres war am unteren Ende der Treppe aufgetaucht. Unbemerkt von allen, außer Tom vielleicht. Ein Mann mit feistem Gesicht, dunklem Haar und einem ebenso dunklen Schnurrbart, dessen Enden mit Wachs nach oben gezwirbelt waren. Vor ein Auge des Mannes war ein Monokel geklemmt. Lara schätzte ihn auf etwa vierzig. Vielleicht zehn Jahre älter als Tom. Er trug Pantoffeln und einen dicken, orangeroten Morgenmantel, unter dem sich der Beginn eines wohlgenährten Bauches abzuzeichnen begann. In seiner Hand dampfte eine Tasse Tee.

»Das nenne ich eine Überraschung«, krähte der Mann. »Baltasar Quibbes, sieh einer an! Welches Unglück ist mir denn widerfahren, dass ich dich in meinem Haus begrüßen darf?«

Es konnte sich also nur um den Hausbesitzer Ruben Goldstein handeln. Hinter ihm tauchte der mechanische Diener wieder auf. Und ein weiterer. Beide schienen jeweils auf unterschiedliche Weise zusammengebaut zu sein und doch waren sie sich unheimlich ähnlich.

»Der Mann dort bat um Einlass.«

Der Diener, der ihnen geöffnet hatte, wies auf Tom.

Stattdessen trat Falter einen Schritt vor, machte eine Verbeugung.

»Mr Goldstein? Ich bin Hermann Falter vom Kommissariat in Ravinia. Ich hätte einige Fragen an Sie. Dass Sie mit Mr Quibbes im Clinch liegen, tut nichts zur Sache.«

Ruben Goldstein hob erstaunt diejenige Augenbraue, die nicht damit beschäftigt war, das Monokel festzuklemmen.

»Was halten Sie davon, die ganze Sache bei einer Tasse Tee zu erörtern?«, schlug er vor.

Mr Falter nickte. Ihre Reisegesellschaft war müde und hatte seit Prag weder feste noch flüssige Nahrung zu sich genommen.

Die mechanischen Diener eilten aus dem Raum, und Ruben Goldstein bat seine Gäste nach nebenan in ein geräumiges Speisezimmer, wo sie um einen Tisch herum Platz nahmen.

Imagebird

Das Schicksal war kein Verräter.

Es spuckte lediglich dauernd welche aus.

Der Tee war edel und sehr heiß, und er tat gut nach den kalten Regengüssen der böhmischen Provinz. Der Diener servierte ihn in dünnwandigem Porzellan. Lara nahm ihre Tasse zögernd, denn das Klicken und Klacken des Mechanikmannes widerte sie an. Doch die Aussicht auf ein wenig Wärme in ihrem Magen überwand schließlich die Abneigung.

Mr Cooper indes hatte es noch nicht geschafft, sich zusammenzureißen. Er lehnte die angebotene Teetasse dankend ab. Mr Falter hatte einen Blick mit der Wahrsagerin ausgetauscht, aber diese hatte ihm zugenickt und das heiße Getränk selbst getrunken. Es wäre ja auch ein sehr plumper Versuch gewesen, ihnen zu Leibe zu rücken.

Ein weiterer mechanischer Diener – skurrilerweise mit einer Kochmütze – hatte ihnen selbst gebackene Kekse serviert, die allerdings tatsächlich niemand anrührte. Teig, der auf Gutdünken von einer Maschine zusammengerührt worden war? Das schien nun wirklich zu absurd.

»Sagt Ihnen der Name Henry McLane etwas?«, brach Falter schließlich das verlegene Schweigen, das sich über dem Tisch ausgebreitet hatte.

»Natürlich.«

Ruben Goldstein nickte.

»Er ist der Vater von Arthur McLane. Wir waren gemeinsam Lehrlinge.«

Da waren sie wieder, diese plötzlichen Alarmglocken in Laras Kopf.

Mr Falter hingegen ging gar nicht darauf ein.

»Er ist verschwunden«, sagte er ohne Umschweife.

»Ach?«

Ruben Goldsteins Augenbraue hob sich erneut.

»Und deswegen kommen Sie zu mir?«

»Es ist so«, begann Falter, »dass wir befürchten, es könne da Zusammenhänge geben mit Versuchen, Ihren ehemaligen Gönner Mr Roland Winter nach Ravinia zurückzuholen.«

»Lord Winter«, murrte Ruben Goldstein.

»Soweit ich weiß, ist die adelige Abstammung Roland Winters zweifelhaft«, hielt Falter dagegen.

Ein Schatten schien über das Gesicht des Mechanikers zu huschen, aber er setzte ein Lächeln auf und winkte ab.

»Wie auch immer. Sie vermuten also, ich könnte mit derartigen Versuchen in Verbindung stehen?«

Der Kommissar nickte.

»Wie schon gesagt, es handelt sich um Ihren ehemaligen Gönner. Sie standen Mr Winter sehr nahe. Es steht zu vermuten, dass eine Rückkehr Winters in Ihrem Interesse sein könnte.«

Ruben Goldstein zupfte sich am Schnurrbart und zwirbelte nachdenklich daran herum.

»Natürlich ist es in meinem Interesse«, sagte er schließlich ganz unvermittelt zu den Anwesenden, woraufhin ein kurzes Raunen durch den Raum lief. Ruben Goldstein hob beschwichtigend die Hand und blickte in die Runde.

»Meine Damen und Herren, seien wir doch ehrlich: Mir ging es während der Zeit von Lord Winter hervorragend. Wieso sollte es nicht in meinem Interesse sein? Ich habe nichts verbrochen, und Lord Winter ist jemand, der nie verurteilt wurde, ergo auch nichts verbrochen hat. Was wollen Sie also von mir? Ich habe nichts Unrechtes getan.«

»Heuchler!«, rief Baltasar.

»Ach ja, ein Heuchler bin ich, alter Mann? Na dann bin ich gespannt, wie du diejenigen nennst, die an Lord Winters plötzlichem Verschwinden beteiligt gewesen sind? Keine Anzeige, keine Verurteilung, keine verhängte Strafe. Offiziell war Lord Winter kein Verbrecher.«

Ruben grinste breit und boshaft.

»Es hat sich ja auch niemand getraut, gegen ihn vorzugehen.« Baltasar war aufgebracht. »Er war ein Anarchist. Ein verdammter Anarchist.«

Gespieltes Bedauern zeichnete sich auf Rubens Gesicht ab.

»Ach ja?«, meinte er. »Ein Anarchist bin ich sicher nicht. Ich habe bloß etwas gegen die herrschenden Machtverhältnisse in Ravinia. Allerdings macht mich meine Einstellung alleine noch nicht schuldig. Ich müsste gegen geltende Regeln und Gesetze verstoßen, dann, ja.«

»Verräter!«, diesmal wurde Baltasar lauter.

»Es reicht, meine Herren!«

Falter hob mahnend die Hand.

»Das alles ist so weit richtig. Sie haben bislang offiziell nichts verbrochen, und Ihnen ist auch niemals etwas nachgewiesen worden, Mr Goldstein. Doch ermitteln wir hier in mehreren Mordfällen und einer Entführung, und allesamt bringen wir mit Mr Winter in Verbindung oder eben mit seinen Sympathisanten.«

Die Blicke von Ruben und Mr Falter trugen ein stilles Gefecht aus. Schweigend, sicherlich eine Minute, wenn nicht länger.

Doch schließlich löste sich Ruben Goldsteins Anspannung in einem süffisanten Lächeln auf.

»Ich bedaure«, meinte er selbstgefällig, »aber ich habe sicher nichts mit irgendwelchen Mordfällen zu tun.«

Das war zu viel. Was für ein unverschämter, selbstgerechter Kerl. Es ging hier um keinen Geringeren als Henry McLane, Laras Großvater.

»Natürlich haben Sie was damit zu tun!«

Lara war aufgesprungen.

»Großvaters Entführer hat mit Ihnen telefoniert. Gestern Nacht.«

Geneva und Tom zerrten die aufgebrachte Lara auf ihren Stuhl zurück.

Das boshafte Lächeln auf Rubens Gesicht gewann plötzlich eine weitere Facette hinzu.

»Dann bist du wohl Lara McLane?«, fragte er, obwohl er die Antwort schon kennen musste.

»Lara McLane, das Kind, von dem niemand wusste. Hier in meinem Haus«, sinnierte er. »Tja, Zufälle gibt’s.«

Er schüttelte den Kopf.

Mr Falter ergriff wieder das Wort.

»Entschuldigen Sie das Mädchen!«

Er überlegte. »Aber eigentlich hat sie recht. Wieso nicht die Karten auf den Tisch legen? Ihr Entführer war dumm genug, Henry McLane zu lange unbeobachtet zu lassen.«

Es spitzte sich langsam zu. Die wolfartigen Züge Falters gewannen an Kontur, während er versuchte, Ruben in die Ecke zu drängen.

Die Behaglichkeit war aus Rubens Gesicht erneut verschwunden.

»So, war er so dumm? Na bitte, durchsuchen wir mein Haus! Es wird sich sicher alles aufklären, was Sie mir vorwerfen.«

Er wies mit den Händen wieder Richtung Empfangshalle.

»Ha!«, meldete sich plötzlich Mama Zamora zu Wort, welche die ganze Zeit nur still und konzentriert ihren Tee geschlürft hatte.

»Es ist Ihnen alles andere als recht, dass wir in Ihrem Haus herumschnüffeln könnten.«

Ruben Goldstein sah sie entgeistert an.

»Aha, Frau Wahrsagerin«, machte er. »Aber Ihnen wäre es natürlich recht, wenn einfach so eine kleine Delegation paranoider Leute bei Ihnen einmarschieren und Ihr Haus auf den Kopf stellen würde?«

Mama Zamora schüttelte den Kopf.

»Nein, nein, mein lieber Herr Mechaniker. Das wäre mir ganz und gar nicht recht. Aber im Unterschied zu Ihnen hätte ich keine Angst, dass jemand etwas finden könnte.«

Ruben schnaufte.

Alle standen nun auf. Geneva fasste die wütende Lara am Arm.

»Reg dich nicht auf, wir finden raus, was auch immer er damit zu tun hat!«, raunte sie Lara ins Ohr.

Mr Falter war inzwischen schon drauf und dran, die Treppe zur Galerie hinaufzusteigen. Ruben folgte ihm auf dem Fuße.

»Der Rest wartet hier!«, schallte Mr Falters Wolfsstimme von halber Höhe herab. »Mr Cooper und ich werden uns hier kurz umsehen.«

Ein emsiger Mr Cooper begann ebenfalls mit dem Treppenaufstieg, während er im Gehen einen Notizblock und einen Kugelschreiber hervorkramte.

Lara indes fühlte sich elend. Dieser feiste, schmierige, selbstgefällige Mann hatte ganz offensichtlich etwas mit der Entführung ihres Großvaters zu tun. Sie hätte sich vor lauter Aufregung am liebsten gleich hier auf seinem edlen Teppich übergeben.

»Ich muss an die frische Luft«, meinte sie zu Geneva, obwohl der prasselnde böhmische Regen durch die Fenster der Empfangshalle selbst über das Ticken der Uhren hinweg deutlich zu hören war. Es war ihr egal. Nass zu werden, war wesentlich besser, als noch eine Sekunde länger in diesem Haus zu bleiben.

Doch dann geschah etwas, womit niemand im Raum gerechnet hatte. Bis auf Ruben vielleicht.

Die beiden mechanischen Diener stellten sich demonstrativ in den Türrahmen der Eingangstür. Der dritte Diener – der mit der Kochmütze – erschien in der Tür zum Speisesaal. Drei Paar Ziffernblätteraugen fixierten sie.

»Hey«, protestierte Lara.

Im selben Moment wirbelte Ruben auf der Treppe herum, erwischte den Trenchcoat von Mr Falter und riss ihn von den Beinen. Der alte Kommissar purzelte unter überraschtem Stöhnen die Treppe hinunter und riss auf halbem Wege Mr Cooper mit sich, der nicht rechtzeitig ausweichen konnte. Notizzettel und Stift wirbelten durch die Luft. Auf den breiten Stufen am Fuß der Treppe blieben beide schließlich ächzend liegen.

Oben auf der Treppe richtete sich ein gemein lächelnder Ruben auf.

»Es tut mir leid, meine Herrschaften. Ich weiß, ich bin ein schlechter Lügner. Außerdem bin ich ein Aufrührer – aber das sagte ich ja bereits.«

Das Lächeln wurde noch breiter, und etwas Triumphierendes stahl sich hinein.

»Es wäre eine Schande, das Mädchen im Haus zu haben und es einfach so wieder gehen zu lassen. Meinen Glückwunsch, Mr Falter, Sie haben meinen Plan durchschaut.«

Die mechanischen Diener klickten bedrohlich.

Baltasar und Tom tauschten einen kurzen Blick, dann nahmen sie Lara in ihre Mitte und zückten beide gleichzeitig ihre großen Schlüsselbunde. Es sah ein wenig aus, als zögen sie jeder einen Degen und wären nun bereit zum Duell.

Ruben lachte. Lachte schallend vom Geländer der Galerie herunter. Hinter ihm erschien ein weiterer mechanischer Diener und stellte sich ratternd und klackend neben ihn.

Tom zog Lara hastig am Arm zur Tür an der gegenüberliegenden Seite des Raumes und erstarrte.

»Jaja, richtig erkannt, junger Tom«, rief Ruben von oben herab. »Man kann mit einem Schlüssel an viele Orte reisen – vorausgesetzt man hat ein Schlüsselloch, um ihn zu benutzen.«

Hektisch blickte die kleine Gruppe umher, und rasch wurde ihre Befürchtung, die sowohl Tom als auch Baltasar plötzlich ins Gesicht geschrieben stand, bestätigt. Beide wirkten einen Augenblick, als hätte sie etwas bis ins Mark erschüttert. Vermutlich ging es jemandem mit einer besonderen Fähigkeit immer so, wenn er merkte, dass sie ihm auf einmal absolut gar nichts mehr nutzte.

Unten auf der Treppe rappelten sich Mr Falter und Mr Cooper langsam wieder auf.

Dem alten wolfartigen Kommissar lief ein dünnes Rinnsal Blut an der Schläfe hinab, und sein linker Arm machte einen seltsam verdrehten Eindruck. Dennoch half er mit dem unverletzten rechten Arm Mr Cooper auf, der zu hinken schien.

»Ich nehme an, dass Sie mir das Mädchen nicht freiwillig überlassen werden?«, stellte Ruben die rhetorische Frage laut in die Halle hinein.

»Auf keinen Fall, Sie dreckiger Bastard!«, schrie eine feuerrot angelaufene Mama Zamora hinauf. Die Kommissare ächzten. Geneva griff bedächtig nach dem langen Köcher auf ihrem Rücken.

»Das hatte ich auch nicht erwartet«, meinte Ruben schließlich ganz ruhig.

Ein schleifendes Geräusch ließ Lara und ihre Begleiter zusammenfahren.

Lange, kräftige Stahlklingen, wie Schwerter, fuhren langsam aus den Armen der mechanischen Diener.

Das Lächeln auf Rubens Gesicht erreichte seinen Höhepunkt.

Für einen Moment schien alles ganz still in der Halle mit der riesigen Treppe und der Galerie, an deren Geländer Ruben Goldstein stand und hinunterblickte auf eine verunsicherte, bunt gemischte Gruppe, umzingelt von drei seiner mechanischen Diener. Der vierte stand am oberen Treppenabsatz. Ebenfalls mit einer gefährlich blitzenden Schwertklinge am Arm.

Lara merkte, dass das Ticken der Uhren ausgesetzt hatte.

»Schnappt euch das Mädchen. Tötet den Rest!«, hallte Rubens Stimme durch den riesigen Raum, und die Welt schien den Atem anzuhalten.

Dann brach der Sturm los.

Auf Rubens Befehl hin läuteten, bimmelten, piepten und gongten die vielen Hundert Uhren aus Leibeskräften. Der hinkende Mr Cooper knickte mit dem verletzten Fuß überrascht ein, während den anderen Tränen der Anstrengung in die Augen traten.

Lara blickte hastig um sich. Die mechanischen Diener hatten sich in Bewegung gesetzt und kesselten sie ein. Den anderen etwas zuzuschreien war zwecklos. Niemand konnte auch nur sein eigenes Wort verstehen in dem Geräuschechaos, das Ruben heraufbeschworen hatte.

Was Geneva in ihrem Köcher versteckt hatte, wurde genau in diesem Augenblick offenbar. Sie hielt ein blitzendes, schlankes und furchtbar elegantes Schwert in der Hand und stürzte sich auf den mechanischen Diener, der ihr am nächsten stand. Die Grazie und die tödliche Präzision, mit der sie sich bewegte, waren atemberaubend. Nur musste sie feststellen, dass die mechanischen Männer ebenfalls ihre Hausaufgaben gemacht hatten. Ein wirbelndes Duell begann.

Mr Cooper, der am Boden lag, zückte einen langen, schlanken Revolver und zielte auf einen weiteren Diener. Der Knall der Schüsse ging im Lärm der Uhren unter, aber man konnte deutlich erkennen, wie aus einem der mechanischen Beine mehrere Zahnräder und Federn herausgeschossen wurden, woraufhin der Diener lediglich ebenfalls zu hinken begann, jedoch nicht umkippte.

Plötzlich tauchte direkt vor Lara der Diener mit der Kochmütze auf. Die Ziffernblätter in seinen Augen drehten sich Unheil verheißend. Tom warf sich mit voller Wucht gegen den Koch, wovon dieser jedoch unbeeindruckt blieb, lediglich die Kochmütze fiel herunter. Tom hingegen ging mit schmerzverzerrtem Gesicht zu Boden. Der Koch hob seine Mütze auf und holte mit dem Schwertarm aus. Lara wollte schreien, aber niemand hätte sie gehört.

Doch im gleichen Moment, in dem die blitzende Klinge Tom durchbohrt hätte, war dieser plötzlich verschwunden. Stattdessen krachte ein Blumenkübel auf den Kopf mit den Ziffernblattaugen, und bröselige, nur selten gegossene Erde rieselte an dem mechanischen Mann hinab, verfing sich in Speichen und Achsen, verstopfte Zahnräder und Keilriemen, setzte sich in jede kleine Lücke.

Der mechanische Diener fiel auf der Stelle um. Dahinter stand Tom und klopfte sich den Staub von den Händen.

Lara hätte ihn zu gerne gefragt, wie er das gemacht hatte, aber dazu blieb keine Zeit. Tom holte einen kleinen Schlüsselbund mit ein paar wenigen Schlüsseln hervor und warf ihn Lara zu. Diese fing ihn nicht, fischte ihn aber geschickt vom Boden auf. Sie hatte verstanden. Irgendwo in diesem Haus musste es doch ein Schlüsselloch geben, und Lara sollte es finden und benutzen.

Die beiden Kommissare hatten Mühe, sich den hinkenden Wächter vom Leib zu halten. Mr Cooper versuchte, sich mit dem verletzten Bein fortzuschleppen und ab und an auf den Diener zu schießen, während dieser ihm langsam aber beharrlich folgte. Mr Falter tänzelte hingegen um den Feind herum und bewarf ihn mit allem, was er finden konnte und was sein gesunder Arm zuließ, aber ohne Erfolg.

Lara nahm den Schlüsselbund und ihren eigenen goldenen Schlüssel und huschte an den Kämpfenden vorbei, die Treppe hinauf, in der Hoffnung, schnell genug zu sein. Oben bestand sicherlich die beste Möglichkeit, ein Schlüsselloch zu finden. Dort musste es Arbeitsräume, Schlafzimmer, Gästezimmer geben. Irgendetwas, wo ein verdammtes Schlüsselloch zu finden sein musste. Doch sie war nicht schnell genug. Der Diener, der die Treppe hinuntergeeilt kam, packte sie im vollen Lauf am Arm und hielt sie ruckartig fest. Toms Schlüsselbund und ihr eigener Schlüssel flogen in hohem Bogen ein paar Stufen höher. Außer Reichweite.

Doch Geneva war es, die tänzelnd in Laras Richtung huschte und dem mechanischen Diener mit einer fließenden Bewegung ein Ziffernblattauge ausstach, sich unter ihrem Schwert hindurchdrehte und so den Schlag des Dieners, mit dem sie ohnehin schon focht, parierte.

Wütend ließ der Einäugige Lara los und hieb auf die Nachtwächterin ein, die nun mit sichtlich mehr Mühe beide Diener in Schach hielt.

Lara kümmerte sich nicht um den brüllenden Schmerz in ihrem Arm, dort, wo der Diener sie mit eisernem Griff gepackt hatte, sondern lief weiter die Treppe hinauf, griff nach Toms Schlüsselbund, entdeckte ihren eigenen goldenen Schlüssel ein paar Stufen weiter oben. Doch bevor sie ihn erreichte, wurde er aufgehoben und von einem diabolisch lächelnden Ruben Goldstein in den Fingern gehalten.

In diesem Moment schwoll der ohrenbetäubende Lärm drastisch an, und es mischte sich ein tosendes Klirren und Scheppern darunter. Lara und Ruben sahen beide in den Saal hinab, wo huschende Lichtschwaden blitzschnell die Wände hinaufzukriechen schienen und sämtliche Uhren hinunterwarfen. Der Raum versank in einem Chaos aus Scherben, Zahnrädern und Holzsplittern. Die Lichterscheinungen verschwanden in dem Moment, in dem sich der Lärm endgültig legte, in einem Kronleuchter. Alles schwieg, sogar die Diener hielten inne.

Mitten in einem der Trümmerhaufen stand Mama Zamora. Schweiß rann ihr über die Stirn. Ihr dunkler, spanischer Akzent trat deutlich hervor, als sie zu Ruben hin durch den Raum schrie:

»Ha, stinkender Mechaniker, damit hast du nicht gerechnet, was? Dreckiger Bastard!«

Und sie lachte. Lachte das irre Lachen einer Verzweifelten.

Lara nutzte die Gunst des Augenblicks, rammte dem sichtlich überraschten Ruben ihren Kopf dorthin, wo man jedem Mann, ob jung oder alt, die allergrößten Schmerzen zu bereiten vermag, und krallte sich ihren Schlüssel.

Ruben sackte zusammen, versuchte im Fallen Lara zu packen, doch diese war schon auf und davon.

Die beiden Diener am Fuß der Treppe wollten ihr nach, doch Geneva verteidigte energisch die unteren Stufen der Treppe.

Irgendwo unten in der Empfangshalle hörte Lara jemanden laut aufschreien. Vielleicht war es Tom, vielleicht Mr Cooper. Stimmen wurden sich unter Schmerzen zu ähnlich.

Sie lief die Galerie entlang und hinein in einen Flügel des Gebäudes. Im Rennen stieß sie jede Tür auf und stellte immer wieder fest, dass sie hier offensichtlich nicht fündig werden würde. Sie spähte in Schlafzimmer, Badezimmer, Besenkammern.

Schließlich war der Flur zu Ende, und es blieb nur noch eine Tür übrig. Lara stürmte hinein und fand sich mitten in einem riesigen, kreisrunden Arbeitszimmer wieder.

Das war genau der Raum, den sie gebraucht hatte. Hier musste es doch irgendwo ein Schlüsselloch geben.

Sie machte die Tür hinter sich zu, blickte sich um, sah einen verschnörkelten Stuhl mit grünem Sitzkissenbezug, der sicherlich nur zur Zierde hier stand. Egal. Sie klemmte ihn unter die Türklinke. Er erfüllte seinen Zweck.

Dann betrachtete sie den kleinen Schlüsselbund, den Tom ihr gegeben hatte. Es hingen Schlüssel in sonderbaren Formen und Größen daran. Beinahe sah es so aus, als ob hier einige mehr oder weniger gelungene Experimente von Tom an einem Bund versammelt waren.

Es rauschte hinter ihrem rechten Ohr, und der Schlüsselbund wurde ihr sogleich wieder aus der Hand gerissen.

Erschrocken blickte sie ihm nach.

Eine Art mechanischer Vogel – den Konturen nach ein Rabe – hatte den Bund aus Laras Fingern geschnappt und war damit auf eines der hohen, runden Bücherregale geflüchtet.

Etwas polterte gegen die Tür.

Ruben!

Wieder und wieder. Die Tür knackte. Ruben hatte es offenbar eilig.

Lara ebenfalls.

Sie rannte zu dem dicken Eichenschreibtisch, der an einer Fensterfront etwas erhöht stand. Das Erste, was ihr ins Auge fiel, war ein Briefbeschwerer aus Messing. Er war so groß wie eine Faust und hatte die Form eines Tigerkopfes. Lara drehte sich um und warf.

Und manchmal, ja eben manchmal, nennt sich der Zufall auch Schicksal. Und ab und an spricht man in solchen Momenten von Glück.

Der mechanische Rabe hatte nicht den Hauch einer Chance. Er fiel zerdrückt, mitsamt Briefbeschwerer und Schlüsselbund, auf den Boden und rührte sich nicht mehr.

Lara hastete hinüber und schnappte sich die Schlüssel.

Die Tür krachte.

Ruben schlug wohl mit irgendetwas Schwerem dagegen.

Es krachte wieder.

Die paar Meter zurück zum Schreibtisch erschienen Lara wie eine Ewigkeit, während etwas erneut gegen die Tür donnerte. Ein erstes Splittern war zu hören.

Und da war es. Genau da, wo Lara gehofft hatte, befand sich ein Schlüsselloch: In der Schranktür an der Seite des Schreibtischs. Dort, wo man für gewöhnlich wichtige Ordner und Papiere aufbewahrte, die niemanden etwas angingen. Die Tür war nicht viel größer als ein Fenster, aber es musste reichen.

Es splitterte erneut. Wütende Rufe wurden laut und schallten von der Tür zu Lara hinüber, aber offenbar hielt sie Rubens Anstrengungen immer noch stand.

Lara fingerte an dem Schlüsselbund herum. Genau ein einziger Schlüssel war es, der die richtige Größe haben mochte für das Loch im Schreibtisch.

In Laras Kopf formte sich leise und flehend ein Wort: Bitte!

Sie steckte den Schlüssel hinein und drehte ihn. Ja, sie drehte ihn. Er ließ sich tatsächlich bewegen. Sie öffnete die Tür und kroch hinaus auf einen vom Regen nassen Bürgersteig aus Asphalt.

Die Tür zum Arbeitszimmer gab mit Getöse nach, und Lara hörte Ruben durchs Zimmer laufen.

Sie zog den Schlüssel ab und die Tür zu. Rubens Hand erschien im Spalt, aber zu spät. Seine Fingernägel kratzten nur noch über das Holz der Schreibtischtür.

Lara war entkommen.