12. Kapitel, das von Layla McLane geschrieben wurde.

August 1993

Liebe Lara!

Ja, Lara. Das ist Dein Name. Der Arzt ist sich nun absolut sicher, dass Du ein Mädchen bist. Meine Lara. Nein, unsere Lara.

Wir, das sind Dein Vater und ich. Deine Eltern.

Wir sind jetzt schon so unglaublich stolz auf Dich, obwohl wir Dich doch nur von Ultraschallbildern kennen; und manchmal, ja manchmal machst Du Dich bemerkbar. Dann, wenn Du Dich müde räkelst in meinem Bauch. Es ist wirklich etwas ganz Besonderes, etwas so unbeschreiblich Einmaliges, sein eigenes Kind unter dem Herzen zu spüren. Ja, und wer weiß – vielleicht geht es Dir in vielen Jahren einmal ähnlich.

Aber ich schweife ab, das macht das Glück.

Wir haben beschlossen, dass wir von Zeit zu Zeit in dieses Buch schreiben. Wir schreiben über alles, was unsere Welt bewegt, denn unsere Welt – das wirst Du bald herausfinden – ist vielleicht ein wenig eigen. Düstergolden ist sie. Zumindest sagt man hier so. Vorausgesetzt, es gibt keine allzu großen Veränderungen. Doch vor allem in den letzten Monaten scheint unsere düstergoldene Welt ab und zu ein wenig zu schlingern, ein wenig aus der Bahn zu geraten. Wir möchten, dass Du verstehst, wer wir sind und warum wir so sind, wie wir sind.

Deshalb haben wir beschlossen, ab und an in dieses Buch zu schreiben (und wenn es nicht ausreichen sollte, in ein weiteres). Du bekommst es dann, wenn Du erwachsen bist – oder wenn wir Dich für alt genug halten, denn wir wissen beide, wie quälend es ab einem gewissen Alter sein kann, keine vernünftigen Erklärungen zu bekommen. Aber wir wissen auch, dass es für Eltern oder andere Personen mitunter nicht leicht ist, zufriedenstellende Erklärungen zu geben. Vielleicht hilft Dir in solchen Augenblicken dieses Buch weiter. Dir und Deinen Geschwistern, die Du hoffentlich auch irgendwann haben wirst.

Ich fange nun einfach an und erzähle Dir ein wenig über uns.

Wir sind die Familie McLane. Das sind wir ganz offiziell, seitdem ich – Layla Joel – Deinen Vater – Arthur McLane – geheiratet habe. Oh, es war ein wunderbares Fest, sage ich Dir. Die Stadt hat förmlich gebebt vor Freude, und es hat so gutgetan, all die Gesichter unserer Freunde an diesem Sommertag vor zwei Jahren lachen zu sehen. Es war beinahe genauso brütend heiß, wie es heute ist. So als stünde die Luft still und man könnte sie mit Kuchenmessern in Stücke schneiden und verpacken. Sie haben für uns weiße Rosenblätter aus dem Uhrenturm gestreut und über den Marktplatz fliegen lassen, und die Glocken von St. Anna Rosa haben geläutet – ja wirklich geläutet –, als wir durch das Tor der Kathedrale ins gleißende Sonnenlicht nach draußen getreten sind. Sogar Lord Hester ist persönlich erschienen, um uns zu gratulieren. Die Furgisons hatten eine riesige weiße Tafel in der Gobelingasse aufgebaut, und wir haben unter dem freien Himmel bis zum nächsten Morgen gefeiert, gelacht und getanzt.

Da fällt mir ein, dass Du ja gar nichts über die Gobelingasse weißt. Noch nicht. Tja, aber schon bald sehr viel mehr. Denn hier befindet sich der kleine Laden, den wir eröffnet haben. Baltasar hat geholfen, uns mit Werkzeugen auszustatten. Er ist ein seltsamer Kauz, aber sehr liebenswürdig, obwohl er auch am Tage unserer Hochzeit immer nur traurig dreingeblickt hat. Er ist der alte Meister Deines Vaters, musst Du wissen, aber er hat aufgehört zu arbeiten, nachdem einer seiner Lehrlinge – Ruben – anfing, grausame Dinge herzustellen und sich offen zu Roland Winter bekannte. Aber das sind weniger erfreuliche Dinge, von denen ich Dir ein anderes Mal schreiben werde.

Zurück zur Gobelingasse. Hier, inmitten des Handwerker- und Mechanikerviertels, liegt unsere kleine Werkstatt in der Gobelingasse Nr. 3. In einem winzigen Haus, vor dessen Eingang ich gerade sitze und schreibe. Hier wird Dein Zuhause sein. Dort, wo sich jetzt im Sommer eine unglaubliche Hitze unter dem Giebel staut. Und wer weiß, vielleicht wirst Du ja auch eine Mechanikerin. Gute Voraussetzungen für ein besonderes Talent scheinen ja in der Familie zu liegen. Obwohl Arthur und ich jeweils die Ausnahmen bilden, denn Deine Großeltern haben ganz andere Berufe. Deinen Großvater Abraham wirst Du leider nicht mehr kennenlernen. Das ist wirklich so schade, denn Du hättest ihn sicher sehr gemocht. Aber Deine Großmutter Elisabeth ist eine phantastische Schreiberin. Deine anderen Großeltern – Henry und Martha – sind begnadete Folkmusiker. Sie sind so offen und freundlich wie Schwiegereltern nur irgend sein können und ganz, ganz sicher werden sie alle hervorragende Großeltern abgeben.

So, Dein Vater kommt gerade herunter. Wir müssen zur Feier des Tages noch eine Kleinigkeit essen gehen. Bei Dean’s soll ein Lehrling begonnen haben. Mit einem komischen Namen. Aber der Kerl soll unvergleichlich gute heiße Schokolade machen. Genau das richtige Getränk zu einem leckeren Stück Kuchen. Seltsam, wie sich die Menschen ändern. Ich habe früher nie verstanden, warum Menschen an heißen Sommertagen Kaffee trinken und Kuchen essen gehen. Aber Dein Vater drängelt schon, und schließlich muss ich ihn noch davon überzeugen, Dich nicht ständig »Locke« zu nennen.

Die liebsten Grüße,

Deine Mama

PS: Hihi, ich habe mich zum ersten Mal selbst »Mama« genannt.

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August 1993

Meine liebe Lara!

Es ist immer noch unglaublich, dass Du bald – aller Voraussicht nach im Januar – endlich ganz bei uns sein wirst. Mein Bauch wird langsam ein klein wenig runder, und Jeane und Dorothea haben heute zum ersten Mal versucht, mir Arbeit abzunehmen. Du wirst es kaum glauben, aber wenn Du schwanger bist, glauben die Leute gleich, Dich wie ein rohes Ei behandeln zu müssen (wie ein unzurechnungsfähiges rohes Ei). Dabei will ich die Arbeiten an der Turmuhr doch sogar noch selbst beenden. Ich denke, es wird auch gar nicht mehr so lange dauern.

In der Zwischenzeit schreibe ich Dir aber, wie Dein Vater und ich uns kennengelernt haben.

Es war einer jener Herbsttage, welche die Bäume mit allen Farben überziehen, die einen mit Sehnsucht an den Sommer zurückdenken lassen und in ihrer goldenen Umarmung vom Winter künden. Man hatte zur Generalversammlung der Mechanikerzunft eingeladen, und sowohl meine Meisterin Alisha Folders als auch der Meister Deines Vaters – Baltasar Quibbes – hatten beschlossen, ihre Lehrlinge mitzubringen. Wir mussten feststellen, dass wir die einzigen waren. Nicht nur die einzigen Lehrlinge, die der Versammlung beiwohnten, nein, wir waren die einzigen Schlüsselmacherlehrlinge in jener Zeit. Es gab außer uns nur noch Ruben, der mit Deinem Vater zusammen lernte, und Julian Miller, einen jungen Amerikaner. Wir vier waren allein.

Und wie es junge Menschen nun einmal in ihrem Übermut tun, gedachten wir, den Umstand aufs Kräftigste zu feiern. Wir tranken den ganzen Abend über Porterbier im Stein’s, setzten uns anschließend singend auf die Zinnen der Stadtmauer und starrten in den flirrenden Morgen, der unsere seltsame Stadt umgibt.

Dein Vater ist lustig. Das heißt, er kann lustig sein, wenn man ihn dazu bringt. Und wenn man ihn einmal so weit hat, kann er ein ganzes Lokal unterhalten. Dabei ist er in keiner Weise arrogant oder überheblich, etwas, das ich sehr an ihm schätze und das mir sofort aufgefallen war. So beschlossen wir in jenen frühen Stunden, dass wir Mechanikerlehrlinge, die wir doch so furchtbar wenige waren, uns regelmäßig treffen sollten. Wir konnten über dieselben Dinge Witze machen und hatten dieselben Sorgen und Nöte. Du musst wissen, Lara: Wer in Ravinia lebt oder mit der Stadt zu tun hat, der sammelt langsamer Freunde, als andere Menschen es vielleicht tun. Dafür sind diese Freundschaftsbande umso stärker, und wir waren dankbar, dass es so war.

Arthur und ich begannen allerdings bald, uns auch ohne die anderen zu treffen. Wir redeten, verbrachten ganze Nachmittage in Arthurs kleiner Wohnung in Sciennes, stellten spaßige Theorien auf, wie man die Weltherrschaft an sich reißen könnte oder sangen alte Folklieder, die Arthur von seinem Vater kannte.

So vergingen die Wochen, und aus Freundschaft wurde irgendwann mehr, so wie Schatten irgendwann miteinander verschmelzen. Doch wir schafften es lange, lange nicht, es uns einzugestehen. Nein, stattdessen verloren wir unsere Herzen scheinbar an andere, nur um daraus zu lernen, dass wir dafür offenbar nicht geschaffen waren. Vielleicht wären wir immer noch nicht zusammen, wenn sich nicht Dein Vater irgendwann ein wahres Herz gefasst hätte, so, wie es in den Filmen der Fünfzigerjahre modern gewesen war.

Es war am ersten Weihnachtstag vor acht Jahren. Tja, nun könntest Du sagen, mir macht Weihnachten nicht viel aus, da ich aus einer jüdischen Familie komme, aber weit gefehlt. Weihnachten breitet seine magischen Schwingen doch mittlerweile über die ganze Welt aus. Und selbst wenn es dabei immer mehr um Geschäftemacherei geht, so stellt sich doch eine beruhigende Gemütlichkeit in den Menschenseelen ein, wenn sich das Jahr dem Ende zuneigt. Und so stand Arthur McLane am Abend des ersten Weihnachtstages vor der Haustür Deiner Großeltern in Aviemore, wo ich über die Feiertage hingefahren war, und bat darum, mich sprechen zu können.

Als ich ihn begrüßen wollte, drängte er mich, Schuhe und Mantel anzuziehen und die Augen zu schließen. Ich hatte mich in den Jahren unserer Freundschaft an solche Verrücktheiten gewöhnt, und so steckte er einen wunderschönen neuen Schlüssel in unsere Haustür, nahm meine Hand und führte mich eine ganze Weile über eine dichte Neuschneedecke, bis er mir endlich erlaubte, die Augen wieder aufzuschlagen.

Was ich sah, übertraf alles, was ich bisher erlebt hatte.

Wir standen vor einem flachen, künstlichen Teich auf der Avenue Gustave Eiffel am Rande des Parc du Champ de Mars und blickten auf den Eiffelturm, der sich, von Lichterketten funkelnd, von den schweren Wolken der Nacht abhob. Mitten in der Stadt, die sich von allen Städten auf dieser Welt wohl am besten eignet für solche Momente: Paris.

Und von da an war es besiegelt und unterschrieben in der geheimen, flüsternden Sprache der Liebenden, mit heißem Wachs aus Leidenschaft und einem Siegel aus Geborgenheit. Und wenn Hollywood noch tausend Jahre der heroischen Filmgeschichte ins Haus stehen, so wird es doch nirgendwo wieder diesen Moment und diesen einen, alles bedeutenden Kuss geben.

Ich fange an zu träumen.

Dabei ist es sicherlich nicht gut, wenn man im Sommer vom Winter träumt, oder was meinst Du, meine liebe Lara?

Zumindest weißt Du nun wieder ein wenig mehr über uns und kannst mit einem Augenzwinkern zur Kenntnis nehmen, dass wir alle auch nur Menschen sind. Wir träumen und hoffen, lieben und lehnen uns an.

Deine Mama

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September 1993

Meine liebe Lara!

Der Tag Deiner Geburt rückt immer näher und näher. Aber einige wenige Monate müssen wir wohl noch warten. Aber wie gesagt, nicht mehr lang.

Meine Kleidung wird mittlerweile wirklich etwas eng, und Du strampelst nach Belieben, wobei es Dir egal ist, zu welcher Tages- oder auch (oder sollte ich schreiben vor allem) Nachtzeit. Doch wer sich Kinder wünscht, dem darf sein Schlaf nicht wichtig sein, schließlich werden wir auch in den ersten Jahren mit Dir – und mit Deinen Geschwistern natürlich auch – nachtnächtlich aufstehen und Dich beruhigen, Dich füttern, Deine Windeln wechseln und Dich wieder in den Schlaf singen. Und wenn ich ganz ehrlich bin: Ich freue mich schon auf die Ringe unter unseren Augen. Wir werden müde und unfassbar glücklich sein.

Ich träume schon wieder.

Dabei wollte ich Dir eigentlich schreiben, dass die Uhr für St. Anna Rosa endlich fertig ist. Sie ist riesengroß, aber das muss sie ja auch sein, wenn sie einen Kirchturm schmücken will. Beinahe ein ganzes Jahr hat es gedauert, sie fertigzustellen. Jeane, Dorothea und ich haben so viele Stunden oben im Kirchturm verbracht, haben uns Konstruktionen überlegt, Zahnräder eingepasst, Achsen verlegt und so vieles mehr. Es ist so unglaublich erfüllend, wenn man erlebt, wie die eigene Arbeit Früchte trägt, wie man seine eigenen Pläne verwirklicht. Robert Garbow war überglücklich, dass das klaffende Loch im Turm – dort, wo die alte Uhr vor Jahren schon stehen geblieben und verrostet war – nun endlich wieder zu etwas taugt.

Wir hatten bei den Plänen freie Hand, ein reicher Gönner hatte verfügt, man dürfe nirgendwo an Kosten sparen. Wer dieser geheimnisvolle Gönner ist? Das weiß niemand so genau. Manche munkeln, er sei aus den Kreisen des Stadtadels, andere wiederum erzählen sich, er wohne gar nicht in Ravinia, er habe die Stadt lediglich gern. Wie auch immer es gewesen war, am Ende betraute man mich mit dieser Aufgabe. Die Begründung lautete, ich sei das vielversprechendste Talent im Umgang mit mechanischen Konstruktionen. Ich fühlte mich unheimlich geehrt und habe mit stolz geschwellter Brust angenommen. Zur Unterstützung habe ich mir dann Jeane Nolte und Dorothea Crooks ins Boot geholt, zwei junge Uhrmacherinnen, die ich sehr schätze und die mir während des letzten Jahres teure Freundinnen geworden sind.

Und jetzt ist sie endlich in Betrieb. Die Zeiger glänzen noch, weil sie mit Kupfer beschichtet sind, aber das wird bald vom Grünspan erobert worden sein. Wir waren der Meinung, die kupfergrünen Zeiger würden zu der alten Kathedrale passen.

Es gab ein riesiges Fest auf dem Marktplatz. Robert Garbow hat eine Rede gehalten und mich und Jeane und Dorothea viel zu heftig gelobt, während wir peinlich berührt neben ihm auf der Holzbühne stehen mussten, mit riesigen Blumensträußen in den Händen. Als die Festansprache beendet war, stürmte als Erstes unser Zunftmeister Howard Evans auf uns zu und hat uns beinahe erdrückt vor Stolz, er hat sogar unsere Männer zur Seite gedrängt. Dabei ist Evans der mit Abstand großartigste Uhrmacher, den ich kenne, und es bedeutet mir sehr viel, dass er unsere Arbeit für so gut hält.

Anschließend gab es einen großen Jahrmarkt auf dem Marktplatz, der nun in gewisser Weise wieder zwei Uhrentürme hat – neben unserem Mechanikerhauptsitz meine ich.

Ach, es ist schon herrlich, diese Zeit. Wenn es doch nur immer so einfach wäre.

Rabbi Friedmann kam ebenfalls und gratulierte uns. Er sagte, er überlege, ob die große Jacobs-Synagoge nicht auch eine Uhr gebrauchen könne, und zwinkerte uns zu. Seine Gemeinde verkaufte herrliches Gebäck. Ravinia ist wie eine Weltreise. Aus allen Ecken und von allen Enden der Welt kommen die Menschen und bringen ihre Kulturen mit. Auch wenn die Stadt unbestreitbar einen immensen Einfluss aus dem Europa der Alten Welt hat, so beginnt es sich doch mittlerweile zu vermischen. Selbst wenn man im oberen Stadtviertel das ein oder andere Mal die Nase rümpfen wird, aber die Menschen in Ravinia haben eine freiere Grundhaltung als woanders. Vielleicht liegt es daran, dass Ravinia niemandem gehört?

Ich weiß es nicht, aber ich freue mich über einen goldenen Spätsommer, der – wenn er meinem Wunsch entspräche – in einen goldenen Herbst übergehen wird.

Oh Lara, was sind dies doch für wunderbare Zeiten.

Deine Mama

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Oktober 1993

Ich scheine immer nur von Festen in dieses Tagebuch zu schreiben. Das ist hoffentlich ein gutes Zeichen für eine gute Zeit.

Mittlerweile machst Du meine Figur endgültig zunichte, meine Kleine. Alleine das Anziehen von Hosen wird immer mehr zur Kunst, und wenn mich Dein Vater morgens dabei beobachtet, lacht er über mich. Er sagt zwar, dass er sich lediglich freue, aber ich glaube, er macht sich trotzdem darüber lustig. Na gut, er freut sich natürlich auch auf Dich, genau wie ich auch. Aber er ist ja nun einmal nicht schwanger! Obwohl ich mir da nicht so sicher bin. In den letzten Wochen kocht er ständig heiße Schokolade. Morgens, bevor ich aufstehe, setzt er sich schon damit in die Küche und liest, und dann nimmt er sich auch noch welche mit runter in den Schlüsselladen.

Dieses Wochenende waren wir in Prag.

Die tschechische Seite der Familie – also die Verwandten Deines leider schon gestorbenen Großvaters Abraham – hatte die ganze Familie anlässlich des Sukkot, des Laubhüttenfestes, nach Prag eingeladen. Und da wir uns im Moment ja selbst auf unser neues Familienleben einstellen, haben wir einfach zugesagt. Es ist schon praktisch, mit einem Schlüsselmacher verheiratet zu sein, denn man kann sich die Flugtickets sparen.

Es war eine schöne Feier. Wir waren auf dem Anwesen meines Onkels Laszlo, der nicht nur ein riesiges Haus im Villenviertel der Stadt besitzt, sondern auch einen schönen Dachgarten. Der perfekte Ort also, um eine Laubhütte zu errichten. Man kann tatsächlich die Sterne sehen von dort, wenn auch im staubigen Dunst der Großstadt nicht alle.

Lustig wurde es immer dann, wenn wir erklären mussten, woher wir kommen und was wir arbeiten. Wir haben dann meistens die Adresse von Arthurs Eltern in Edinburgh angegeben und gesagt, wir würden einen Schlüsselladen in der Victoria Street unterhalten, also dort, wo Baltasar Quibbes sein Geschäft hat, das er ja nun schon seit einiger Zeit geschlossen hält (dabei gibt es meines Erachtens keinen besseren Schlüsselmacher auf der Welt als ihn. Dein Vater ist wirklich, wirklich gut, aber Baltasar Quibbes ist genial).

Interessant war auch die Stadtführung, die Rabbi Friedmann uns verpasste. Wir sind seit Jahren nicht in Prag gewesen, aber aus der Sicht eines Touristen ändert sich wahrscheinlich auch nicht sehr viel. Rabbi Friedmann erklärte uns, welche Cafés in den letzten Jahren Pleite gemacht haben und wo sich nun welches Fachgeschäft befindet und so weiter. Trotzdem war es schön, einmal wieder durch die goldene Innenstadt an der Moldau zu schlendern, vor allem wenn es in einem so schönen goldenen Herbst passiert.

Am Ende trat Rabbi Friedmann dann noch mit einer seltsamen Bitte an Deinen Vater heran. Als wir wieder bei der Maisel-Synagoge waren und Tee tranken, stellte er uns einen sehr seltsamen jungen Mann vor. Er muss ungefähr sechzehn Jahre alt sein und heißt Tom. Woher er kommt, erzählte uns der Rabbi nicht und der junge Kerl sowieso nicht, denn der war so stoisch und still, wie es eigentlich gar nicht zu jemandem in seinem Alter passt. Rabbi Friedmann bat uns, bei Baltasar Quibbes anzufragen, ob er dort eine Lehre als Schlüsselmacher anfangen könne. Wie seltsam. Dein Vater bot dem Rabbi sogar an, sich selbst seiner annehmen zu können, aber der Rabbi bestand darauf, dass entweder Baltasar Tom ausbilde oder niemand. Ich persönlich hege meine Zweifel, ob Baltasar sich überreden lassen wird, aber ich hatte ja bereits geschrieben, wie seltsam er geworden ist, nachdem Ruben sich zu Roland Winter bekannt hat.

Ich hab Dich lieb,

Deine Mama

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November 1993

Es ist ein November, wie er im Buche steht. Draußen werden die letzten Blätter vom Regen von den Bäumen gespült. Genauso, wie Guns’n’Roses in November Rain singen. Aber ich weiß ja gar nicht, ob Dir diese Musik überhaupt je etwas bedeuten wird. Vielleicht hörst Du später Klassik und spielst Geige oder hängst dem Fünfzigerjahre-Gedudel an, das Deine Großmutter so gerne hört.

Ach, es ist so spannend, sich auszumalen, was einmal aus Dir werden mag. Ich stelle mir insgeheim schon vor, wie Du als junge Frau aussehen wirst. Es ist schön zu schwärmen. Vielleicht gehörst Du ja dann einer Zunft von Ravinia an. Und wenn Du kein besonderes Talent hast, ist das auch nicht schlimm.

Mein Bauch wird langsam richtig straff und kugelrund, ich fürchte, ich platze bald.

Dein Vater macht heiße Schokolade. Ich werde mich jetzt mit ihm und mit Dir vor den Kamin kuscheln.

Deine Mama

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Dezember 1993

Ich fürchte, es wird Zeit, dass ich Dir einmal von unangenehmeren Dingen schreibe. Dein Vater sagt, ich solle aufhören, mir Sorgen zu machen, das wäre in meinem Zustand nicht gut, aber er hat ja keine Ahnung. Immer wird man nur mit Samthandschuhen angefasst, wenn man schwanger ist. Es wird Zeit, dass das endlich vorbei ist, vor allem da ich Dich dann auch endlich in den Armen halten kann.

Ruben hat uns besucht.

Es war grausig.

Wir hatten uns seit Jahren nicht gesehen. Er war mit Deinem Vater zusammen Lehrling bei Baltasar Quibbes. Während Dein Vater sich zu einem großartigen Schlüsselmacher mauserte, tat Ruben dasselbe in Richtung Uhrwerke und Feinmechanik. Dein Vater war später der Meinung, dass Baltasar ihm irgendwann nichts mehr hätte beibringen können, da er selbst ein viel besserer Schlüsselmacher als Mechaniker sei. Also habe Ruben sich die letzten Monate seiner Lehrzeit sein Können hauptsächlich selbst beigebracht.

Irgendwann begann er offenbar, mechanische Spielzeuge zu bauen. Kleine Käfer, Ratten und Mäuse, die sich von alleine bewegen konnten und ihm gehorchten. Er betete die Lehren von Descartes und de Vaucanson förmlich an, und schließlich brachte er eine mechanische Ratte als Meisterstück vor den Stadtrat, viel schneller, als Dein Vater überhaupt mit einem Meisterstück begonnen hatte.

Kurz nach dem Erlangen der Meisterwürde bekannte Ruben sich zu den Hetzreden, die der Schreiber Roland Winter führte und in denen er dafür plädierte, die Welt außerhalb Ravinias zu unterwerfen, da man ja schließlich von Geburt an zu Höherem bestimmt sei.

Nach offiziellen Angaben war er am Anschlag auf den Markt im letzten Jahr nicht beteiligt. Er hatte sich auch niemals offen zu den Sturmbringern bekannt, aber er war untergetaucht, da ihm seine Sympathien für Roland Winter in Ravinia keine Freunde einbrachten. Im Gegenteil, vor allem Baltasar Quibbes wirkt hochgradig verstört deswegen.

Nun stand er gestern Abend vor unserer Tür.

Dein Vater hat ihm ganz unbefangen geöffnet. Ruben war in Begleitung eines kleinen mechanischen Terriers, der allerdings draußen bleiben musste.

Das Gespräch hat nicht lange gedauert. Wir haben Tee getrunken und uns gezwungen, sachlich miteinander zu reden. Ruben machte jedoch absolut keinen Hehl aus seinen Absichten. Er wollte unsere Hilfe für Roland Winter. Er sprach ganz offen und ehrlich von seinen grausamen Ambitionen.

Es gipfelte darin, dass Dein Vater und er sich heftig stritten und Ruben schließlich wutentbrannt das Haus verließ.

Ich möchte Dich eigentlich ungern mit so etwas belasten, aber ich denke, diese ganze Krise wird längst überstanden sein, wenn Du und Deine Geschwister all das hier zu lesen bekommen.

Bald ist Weihnachten, hoffentlich kühlt die emotionsgeladene Spannung unserer Welt bis dahin wieder etwas ab.

Deine Mama

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Februar 1994

Du bist da, Du bist da, Du bist da.

Du bist endlich, endlich da.

Also eigentlich bist Du schon seit ein paar Wochen da, aber ich habe in der letzten Zeit einfach keine Ruhe gefunden, um etwas in dieses Buch zu schreiben.

Und Du bist genau am ersten Januar geboren, ist das nicht toll? Es war zwar schon etwas seltsam, als ich bei der Silvesterfeier der Crooks plötzlich starke Wehen bekam, aber Dein Vater hat wirklich gefasst reagiert. Er hat eine Tür nach Edinburgh aufgeschlossen und einen Krankenwagen gerufen, und kurz nach eins warst Du dann auch schon auf der Welt.

Ich habe alles sehr gut überstanden. Nach drei Tagen wurden wir schon wieder aus dem Krankenhaus entlassen.

Alles scheint so wunderbar.

Deine Großeltern sind übrigens ständig bei uns in den letzten Wochen. Na ja, es ist ja kein Wunder, denn wie oft bekommt man schon die Gelegenheit, sein erstes eigenes Enkelkind in den Armen zu halten.

Die Welt ist schön.

Es hat angefangen zu schneien in Edinburgh. Vielleicht haben wir ja bald auch einmal eine richtige Schneedecke.

Deine Mama

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März 1994

Es ist so schön, eine richtige Familie zu sein.

Auch wenn das heißt, dass wir Ravinia demnächst für ein paar Jahre den Rücken werden kehren müssen. Doch das ist es wert. Jedes Mal, wenn ich Dich sehe, weiß ich, dass es das wirklich, wirklich wert ist.

In Edinburgh ist es noch richtig bitterkalt, während in Ravinia meistens nur der Januar etwas kälteres Wetter mit sich bringt. Gegen Mitte Februar verwandelt sich der Schnee meistens schon wieder in Matsch, und es wird so grau und nass draußen wie im Herbst.

Wir gehen so häufig spazieren wie selten in letzter Zeit. Du hast einen schönen Kinderwagen, einen richtig altmodischen mit Spitzendeckchen, er sieht beinahe aus wie ein kleiner Puppenwagen. Drinnen hast Du natürlich einen schönen roten Anorak und zwei flauschige blaue Fleecedecken. Ich hoffe ja nicht, dass Du mich für meinen Geschmack für leicht antiquierte Accessoires irgendwann hassen wirst.

Du warst schon überall: in London, in Paris, in Prag, in Hamburg, sogar im Central Park von New York sind wir einmal mit Dir spazieren gewesen, aber wir hatten uns verschätzt, denn dort war es noch viel, viel kälter als in Edinburgh. Dein Vater hatte nachher im Scherz vorgeschlagen, wir könnten es ja mal in Moskau probieren, aber ich habe dankend abgelehnt.

Oh, Du bist aufgewacht, dann wirst Du sicher gleich Hunger haben.

Deine Mama

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April 1994

Weißt Du was? Es ist unglaublich!

Dorothea ist schwanger. Sie hat es mir heute gesagt und gemeint, sie und William hätten es absichtlich so lange niemandem erzählt, weil sie erst einmal ihre Angelegenheiten regeln mussten. Oh, ich freue mich so für die beiden. Und außerdem ist es so schön, wenn um einen herum auf einmal das Leben explodiert.

Nicht nur, dass der Frühling mit aller Gewalt Einzug hält in die Welt, nein, auch Du machst unser Leben so unvergleichlich schön. Jedes Mal, wenn Du mich anlächelst, vergesse ich den vielen Schlaf, um den Du mich und Deinen Vater bringst. Aber Du bist ja auch eigentlich ein unkompliziertes Kind. Du schreist nicht wie am Spieß, sondern Du findest die Welt, die Dich umgibt, einfach toll und faszinierend.

Und außerdem bekommst Du auch bernsteinfarbenes Haar. Es ist noch etwas dunkel und noch sehr dünn, aber Deine Großmutter Elisabeth meinte, bei mir wäre es genauso gewesen.

Ich freue mich,

Deine Mama

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Juni 1994

Die Zeit mit Dir vergeht wie im Flug. Jetzt bist Du schon fast ein halbes Jahr alt, und Du bist so ein liebes Kind. Jeane meinte zwar, Du wirst auch irgendwann ein vierzehnjähriger, zickiger Teenager werden, aber bis dahin ist ja noch viel Zeit. Sie hat Dir außerdem einen grünen Frosch aus Plüsch geschenkt, den Du seit einigen Tagen immer mit ins Bett bekommst. Ihren Kommentar, dass Du den Frosch mit vierzehn bestimmt doof finden würdest, habe ich überhört.

Leider kann man nicht alles in diesen Tagen so einfach überhören.

Gestern ist etwas Schreckliches passiert.

Erst ist der skrupellose Roland Winter nach langer Zeit nun doch wieder auf dem Marktplatz aufgetreten und wollte tatsächlich die Einwohner der Stadt dazu bringen, sich ihm anzuschließen. Seine Stimme war in der ganzen Stadt zu hören, wie durch ein Megafon. Oh Lara, ich weiß nicht, wie der Kerl das macht, aber es ist grässlich, dass er so viel Macht besitzt. Niemand weiß, woher er sie nimmt, es ist richtig unheimlich.

Als er ausgebuht wurde von den Leuten, hat er aus Wut darüber das Dach des alten Kinos am Markt einstürzen lassen. Zum Glück befand sich niemand im Gebäude, aber er versucht, die Leute einzuschüchtern. Oh meine kleine Lara, lass uns einfach das Beste hoffen.

Deine Mama

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Juli 1994

Es ist wieder passiert.

Ruben hat uns noch einmal besucht.

Gestern.

Diesmal war er weniger versöhnlich. Er hat auf den Tee verzichtet, um uns stattdessen sehr eindringlich klarzumachen, dass wir doch für Roland Winter arbeiten sollten, wenn uns das Wohl unseres kleinen Betriebes am Herzen läge. Dein Vater und ich haben natürlich energisch abgelehnt, woraufhin Ruben seinen mechanischen Terrier in den Laden gehetzt hat. Zwar hat das Biest nicht viel Schaden angerichtet, weil Dein Vater gleich mit dem kleinen Schraubstock danach geworfen – und getroffen – hat, aber das hat Ruben nur fuchsteufelswild gemacht, und er ist unter lauten Verfluchungen davongestürmt.

Anschließend sind wir zur Wache, um unser Problem den Nachtwächtern vorzutragen. Die versinken zwar geradezu in Arbeit, seit Roland Winter auf dem Marktplatz für Panik gesorgt hat, aber man hat unserem Gesuch stattgegeben, und so schieben nun abwechselnd zwei junge Nachtwächter, Ludovic und Valerius, in der Gobelingasse Wache.

Später kam Morinho, der Glasbläser von gegenüber, vorbei, um uns zu versichern, dass er seine unheimlichen Glasaugen überall in der Straße aufhängen würde, um Alarm zu geben, wenn sich Ruben oder ein Sturmbringer noch einmal hierher verirren sollte.

Das alles erleichtert uns zwar, aber geheuer ist es uns nicht.

Mich plagen ernsthafte Zweifel, ob wir uns richtig verhalten. Ich hoffe es zumindest, denn wenn Dir etwas zustoßen würde, meine kleine Lara, könnte ich mir das nie und nimmer verzeihen.

Deine Mama

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Juli 1994

Lord Hester hat eingegriffen.

Roland Winter ist erneut auf dem Marktplatz aufgetaucht, genau während des Wochenmarkts, und hat Panik verbreitet. Es wird erzählt, dass einige Händler Gegenstände nach ihm geworfen haben, die er noch in der Luft zur Seite gewischt hat. Wie er das macht, bleibt weiterhin ein Rätsel.

Schließlich ist Lord Hester aufgetaucht. Er hatte dieselbe, künstlich verstärkte Stimme und hat öffentlich gegen den Schreiber gewettert. Auch hat er versichert, dass niemand in Ravinia sich zu fürchten brauche, dafür würde er jetzt Sorge tragen.

Ich glaube, dass Lord Hester vielleicht die letzte Person ist, vor der dieser Wahnsinnige noch so etwas wie Respekt empfindet.

Es sind wahrhaft komische Zeiten, meine kleine Lara. Zum Glück bekümmert Dich das alles nicht. Du lachst und strahlst und wirst jeden Tag größer.

Deine Mama

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August 1994

Es ist ein Junge.

Dorotheas und Williams Baby ist ein Junge, er ist noch ganz klein, genauso wie Du es vor gut einem halben Jahr warst. Dabei bin ich völlig verblüfft, wie groß Du in der kurzen Zeit schon geworden bist, aber das geht vermutlich allen Eltern so.

Die Stadt ist ruhig, offenbar hat das Einschreiten von Lord Hester Wirkung gezeigt.

Alles brütet unter einer sengenden Hitze vor sich hin. Nicht nur hier, sondern auch in Edinburgh. Es ist fast angenehm, wenn ich unten in der kühlen Werkstatt arbeite, während Du in einem Schaukelkorb danebenstehst und mit Deinem Froschmobile spielst.

Außerdem hat Dein Vater nun endlich mit seiner Marotte um die heiße Schokolade aufgehört. Dafür ist jetzt Eistee seine Spezialität. Vielleicht sollte ich ihm einmal einen Kochkurs schenken? Dann kann er andere Dinge kultivieren. Zum Beispiel ein gutes Abendessen …

Deine Mama

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September 1994

Ich liebe den Spätsommer.

Diese goldene Zeit, die sich keiner anderen Jahreszeit unterordnen will. Wenn die Gedanken einen Moment lang schweigen. Wenn die Welt Atem holt für den nächsten Herbst. Es gibt nie besonders viele dieser wundervollen Tage, aber ich genieße sie immer in vollen Zügen.

Dein Vater weiß, wie sehr ich diese Zeit liebe. Nicht nur, dass mein Geburtstag meist auf einen solchen Tag fällt, nein, es gibt mir einfach ein Gefühl von Geborgenheit.

Wir sind nun schon seit zwei Tagen auf der Insel Skye und bleiben auch noch zwei weitere. Zeit, um in unserem ersten Urlaub seit Jahren etwas in dieses Buch zu schreiben.

Wir haben ausgedehnte Wanderungen durch die Cuillin Hills unternommen, bei denen Du abwechselnd mit einem großen Tuch vor meinen Bauch oder den Deines Vaters gespannt warst. Na gut, ich gebe zu, dass Du die meiste Zeit vor den Bauch Deines Vaters gebunden warst, da Du mittlerweile ganz schön schwer geworden bist. Aber einen Kinderwagen mitzunehmen, lohnt auf den bergigen Wandertouren nicht.

Gestern haben wir mit einem Mietwagen einen Abstecher zur Destille im Südwesten gemacht. Ich vermisse den malzigen Geruch aus meinen Kindertagen am Spey manchmal, dort gibt es viele Destillen, und die Luft ist ständig erfüllt von diesem leicht süßen Malzaroma. Dein Vater hat natürlich nicht Nein zu diesem Vorschlag gesagt und sich durch die Destille führen lassen.

Jetzt sitze ich hier am Fenster unseres kleinen Hotels, das einsam an einem kleinen Küstenabschnitt nördlich von Portree liegt. Die Besitzer sind John und Hannah, zwei Amerikaner, die aus Liebe zur Insel bereits vor Jahren beschlossen haben, hier ein wirklich süßes Hotel zu eröffnen. Die beiden haben keine Kinder, weshalb Du quasi ihre kleine Prinzessin bist. Außerdem ist Hannah die vermutlich beste Köchin der Welt. Sie bereitet Schellfisch besser zu, als jede Schottin es könnte. Oh, das dürfte ich Deine Großeltern, die McLanes, nicht hören lassen.

Ich freue mich auf die nächsten Tage.

Deine Mama

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Oktober 1994

Es gibt wieder Turbulenzen in Ravinia.

Das Rabenblatt hat vor einigen Tagen einen Artikel gedruckt, in dem Roland Winter erneut von seinen widerlichen Plänen berichtet hat. Er ist tatsächlich der Meinung, wir mit unseren Talenten sollten uns über den Rest der Welt erheben. So ein Blödsinn. Aber nur deshalb hätte die Zeitung dies ja nicht veröffentlicht. Nein, Roland Winter hat öffentlich Lord Hester herausgefordert und die Herrschaft über Ravinia eingefordert. Unfassbar, was? Dabei ist Lord Hester doch gar nicht unser Monarch, im Gegenteil, die meisten Leute bekommen kaum etwas von seiner Existenz mit. Niemand weiß so richtig, was er überhaupt den ganzen Tag tut. Macht über die Geschehnisse in der Stadt hat – wenn überhaupt – der Rat. Aber auch der ist kein diktatorischer Zirkel, sondern wird von uns gewählt. Jede Zunft bestimmt eines ihrer Mitglieder zum Ratsvertreter. Außerdem gibt es von Zeit zu Zeit Sondersitze, wie zum Beispiel einen für das Mondvolk von Epicordia, denn die betrifft in gewisser Weise ja auch was hier vor sich geht.

Wenn Du mich fragst, ist dieser Winter nun endgültig durchgedreht, und ich denke, Lord Hester wird dem schon ein Ende bereiten. Er hat es versprochen.

Viel erstaunlicher ist, dass William Crooks und einige andere offenbar der Meinung sind, man müsse aktiv gegen Roland Winter vorgehen. Er war gestern Abend hier und hat uns von seinen Plänen für einen aktiven Widerstand gegen Winter erzählt.

Dein Vater hat ihm ganz schön die Meinung gegeigt, und sie sind nicht sehr friedlich auseinandergegangen. Ganz ehrlich, so wütend habe ich Deinen Vater noch nie erlebt. Er hat William vorgeworfen, verantwortungslos zu handeln. Die Crooks’ haben doch gerade erst den kleinen Lee bekommen. Wie töricht wäre es von ihnen, sich absichtlich in Gefahr zu begeben. Dein Vater hat William offen gesagt, dass Roland Winter nicht nur ein unberechenbarer Irrer ist, sondern tatsächlich hochgradig gefährlich. Und die Sturmbringer seien keine Truppe von Handlangern, die im Leben sonst nichts zustande bekommen, sondern sie sind teils hochintelligente Leute mit ekelhaft großem Talent und einem scharfen Verstand. Wenn William etwas an der Sicherheit Ravinias liegen würde, sollte er sich zuerst um das Wohl seiner eigenen Familie sorgen.

Glaub mir, Lara, es war kein schöner Abend gestern. Dieser Roland Winter bringt uns nicht nur um den Schlaf, sondern wahrscheinlich auch um den Verstand, wenn er so weitermacht.

Ich hoffe, das ist alles vorbei, wenn Du größer bist. Ich wünsche mir nichts sehnlicher, als dass Du Dir solche Sorgen gar nicht erst zu machen brauchst.

Deine Mama

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November 1994

Oh Lara, es wird nicht besser, sondern wirklich, wirklich schlimm.

Es gibt Entführungen und Überfälle auf die Einwohner Ravinias, wenn sie sich gerade außerhalb der Stadt aufhalten. Nach Ravinia trauen sich die Sturmbringer vielleicht noch nicht, aber es ist schon beinahe wie eine Belagerung. Letzte Woche haben sie Morinho gekidnappt, aber zum Glück bald wieder freigelassen. Der Arme ist völlig verstört. Wir haben ihn gestern im Hospital besucht.

Ich bekomme langsam Angst um Dich!

Heute Morgen erst hat das Rabenblatt wieder die Forderung Roland Winters abgedruckt. Reporter sind so begierig nach Sensationen.

Es heißt, die Nachtwächter hätten beschlossen, auf eigene Faust gegen die Sturmbringer vorzugehen. Ohne Beschluss des Rates. Offenbar ist man in der Wache der Meinung, es sei endlich genug. Viele Bewohner der Stadt begrüßen dies, aber es hat einen faden Beigeschmack von Selbstjustiz, wenn Du mich fragst. Was erreichen wir, wenn wir nicht geschlossen als Gemeinschaft dastehen, sondern uns auf dasselbe Niveau wie die Sturmbringer herablassen? Es muss etwas geschehen, sonst bricht hier bald das totale Chaos aus. Irgendjemand muss doch einen Geistesblitz haben. Irgendjemandem muss doch etwas einfallen, um diesen ganzen Irrsinn zu stoppen.

Oh Lara.

Wenigstens eine gute Neuigkeit hat uns in den letzten Tagen erreicht.

In Baltasar Quibbes, dem alten Meister Deines Vaters, scheint sich der Kampfeswille zu regen. Er hat beschlossen, wieder zu arbeiten und seine Ladentür wieder für jedermann zu öffnen. Außerdem ist er tatsächlich dem Wunsch des Rabbis nachgekommen, den seltsamen blassen Jungen aus Prag als Lehrling anzunehmen. Er soll im Januar bei ihm anfangen. Vielleicht ist das ja ein gutes Zeichen in diesem ganzen Wirrwarr.

Oh Lara.