Genfer See, 1934
Wie üblich ließ Marthe die Kellner nach ihrer Pfeife tanzen: Eine Horde junger Männer geleitete die ehemalige Halbweltdame zum besten Tisch am Seeufer. Hätte jemand Isabelle gefragt, warum das immer geschah, wenn sie mit ihrer Großmutter ausging, hätte sie wohl geantwortet, dass es nicht nur an Marthes angeborenem Charisma lag; die alte Dame wusste schlichtweg noch immer, wie man mit dem anderen Geschlecht umzugehen hatte.
Der Morgen war ideal für eine Bootsfahrt. Die Luft war klar, und das stete Zirpen der Grillen wurde ab und zu durch den Ruf eines Vogels untermalt. Die Tische auf der Terrasse waren für das Frühstück frisch eingedeckt. Es duftete nach Kaffee.
Isabelle war wunderbar ausgeruht erwacht. Als sie am Abend zuvor eingeschlafen war, hatten sich ihre Gedanken auf angenehme Art um Max gedreht. Obwohl sie nur ein paar Minuten mit ihm geredet hatte, hatte sie sich in seiner Gegenwart äußerst wohl-, wenn auch sehr aufgeregt gefühlt.
Nach dem Aufstehen hatte sie sich mit größter Sorgfalt angezogen. Ihr weißes Tageskleid war perfekt für einen Sommertag auf dem See, und sie hatte den Strohhut so festgesteckt, dass er genau im richtigen Winkel saß und genug von ihren glänzenden dunklen Locken zeigte.
Marthe kommandierte die Kellner herum, die wieder um ihre Gunst wetteiferten, und verlangte eine Auswahl an pâtisserie, mit der das Ritz sich hätte rühmen können. Als Isabelle sich auf ihrem Stuhl zurücklehnte und die Beine unter dem weißen Tischtuch verbarg, konnte sie ihre Aufregung über den Tag, der vor ihr lag, kaum im Zaum halten.
Max und seine Geschwister waren noch nicht zum Frühstück erschienen, was nicht überraschend war. Marthe war immer schon eine Frühaufsteherin gewesen, und obwohl Isabelle oft gerne länger liegen geblieben wäre, ließ Marthe es nicht zu; ihre Enkelin sollte sich unter keinen Umständen gehen lassen.
»Gestern Abend habe ich einen Hotelgast kennengelernt«, sagte Isabelle.
»Du hast mit einem jungen Mann gesprochen.« Marthe brach ein Croissant auf, butterte es und trank einen Schluck Kaffee.
Isabelle musste lachen. »Und ich dachte, du wärest so sehr in die Unterhaltung mit den beiden Damen vertieft gewesen, dass du nichts mitbekommen hättest.«
»Ich sehe alles«, gab Marthe zurück. »Und was ich nicht sehe, reime ich mir zusammen.«
Isabelle legte ihr Messer neben den Porzellanteller. »Der … die Familie hat mich eingeladen, heute mit ihnen auf den See hinauszufahren. Mit einem Boot.«
»Nun, ich würde davon ausgehen, dass es ein Boot braucht, wenn man auf den See hinausfahren will«, sagte Marthe. »Zumindest hoffe ich, dass du nicht schwimmen willst. Aber ich habe dich nur mit einem jungen Mann reden sehen, nicht mit einer Familie.«
»Er ist mit seiner Familie hier.«
»Aber die kennen wir nicht.«
Isabelle atmete kontrolliert aus. »Du hast doch gesagt, ich soll mich amüsieren«, sagte sie leise und betont ruhig. Marthe verhielt sich oft widersprüchlich. Sie änderte ihre Meinung, wann immer es ihr passte. Wollte sie eben noch ausgehen, entschied sie im nächsten Augenblick, dass sie doch lieber zu Hause blieb, um ein Buch zu lesen. Ihre Launen waren berüchtigt.
»Ich meinte damit aber nicht, dass du mit der ersten Truppe Fremder, die dir über den Weg läuft, losziehst und erst am Abend wiederkommst. Kannst du nicht einfach morgen mit ihnen zu Mittag essen? So kann ich sie mir wenigstens ansehen.«
»Damit du mit den beiden Frauen, die du gestern kennengelernt hast, endlos über sie herziehen kannst?«
»Alte Frauen brauchen auch Unterhaltung«, sagte Marthe. »Und worüber ließe sich besser lästern als über die Spinnereien der Jugend?«
»Dann wärest du gut beraten, dir für heute Morgen ein Fernglas zu besorgen«, brummelte Isabelle. »Obwohl du am Ufer eine recht alberne Figur abgeben wirst.«
»Ich halte es nur nicht unbedingt für richtig, die Einladung dieses jungen Mannes sofort anzunehmen. Man hat schließlich seine Prinzipien.«
Isabelle zog die Brauen hoch, bereute es jedoch augenblicklich. Sie liebte ihre Großmutter abgöttisch. Marthe hatte Isabelle aufgenommen, nachdem die Familie ihrer Mutter sie nach dem Tod ihres Vaters als Spross einer Käuflichen verstoßen hatte – Isabelle hätte ihren Ruf als unbescholtene Mittelklassefamilie besudelt. Marthe verachtete eine derartige Spießigkeit. Und sie hatte getan, was sie immer tat – sich auf die neue Situation eingestellt und das Beste draus gemacht.
»Ich verstehe nicht, wo du ein Problem siehst«, fügte Isabelle also hinzu.
»In Paris kann ich damit anders umgehen. Da kennt jeder jeden. Ich bitte dich ja bloß, die Leute ein wenig besser kennenzulernen, ehe du einen Tagesausflug mit ihnen unternimmst. Was ist, wenn du und der junge Mann unbeaufsichtigt seid? Was dann?«
Marthes übermäßige Fürsorge war wenig überraschend. Sie hatte in Isabelles Alter für einen Hungerlohn als Näherin gearbeitet und in der Armengegend von Paris gehaust. Mit zwanzig hatte sie bereits zwei Kinder von zwei verschiedenen Vätern geboren; wenn sie zur Arbeit ging, musste sie sie bei ihrer Vermieterin lassen, obwohl sie den Verdacht hatte, dass diese sich überhaupt nicht um die Jungen kümmerte. Doch dann hatte eine einzige Zufallsbegegnung ihr Leben von Grund auf geändert.
»Was dann?«, wiederholte Isabelle Marthes Worte. »Nichts, nehme ich an.« Etwas in ihrem Augenwinkel lenkte sie ab, und froh, diese Unterhaltung unterbrechen zu können, wandte sie den Kopf.
Eine junge Frau war auf die Terrasse hinausgetreten. Sie schien auf den Tisch neben ihrem förmlich zuzuschweben. Drei Kellner hasteten emsig um sie herum.
Marthe hatte Konkurrenz bekommen.
»Eine Erscheinung«, murmelte Marthe und nahm ihre Lorgnette.
»Es scheint, als sei sie allein und gar nicht von Unbill bedroht«, gab Isabelle mürrisch zurück.
»Ich seh’s.«
Das Mädchen bestellte Saft.
»Amerikanerin«, bemerkte Marthe.
»Grand-mère, wenn du dir den ganzen Sommer Gedanken über Fremde machen willst, dann sollten wir besser nach Paris zurückfahren.«
»Paris ist voller Pariser«, sagte Marthe. »Und die langweilen mich.«
Isabelle betrachtete das Mädchen am Nebentisch. Es war groß und wirkte auf unangestrengte Art stilvoll, und das hellrosa Kleid schmeichelte seinem ohnehin makellosen Teint. Das Mädchen war atemberaubend, Amerikanerin oder nicht.
»Hey, hallo. Ich habe dich gestern Abend gesehen«, rief das Mädchen auf Englisch Isabelle zu. »Du hast dich mit diesem umwerfenden Deutschen unterhalten, Max Albrecht. Kennst du ihn? Was für eine Familie. Deutscher Adel. Denen gehört halb Preußen, wusstest du das?«
Marthe stellte ihre Tasse sehr langsam und behutsam ab.
»Virginia Brooke«, fuhr das Mädchen fort, als es sich an Marthe wandte. »Verzeihen Sie, dass ich mich nicht zuerst vorgestellt habe. Aber irgendwie scheint das in letzter Zeit kaum noch eine Rolle zu spielen.« Sie wirkte keinesfalls zerknirscht.
»Nun«, sagte Marthe auf Englisch; als ehemalige Unterhalterin mächtiger Männer aus ganz Europa beherrschte sie die Sprache selbstverständlich. »Sie sind herzlich eingeladen, sich mit uns zu unterhalten. Zu so früher Stunde recht abwechslungsreich.«
Isabelle empfand etwas, was Erleichterung nahekam. Marthe würde keine Szene machen. »Isabelle de Florian«, sagte sie zu der Amerikanerin. »Und das ist meine Großmutter, Madame de Florian.« Wie angenehm, sich einfach so vorstellen zu können, ohne dass das Gegenüber prompt reagierte, vielleicht kaum merkbar zurückzuckte, höflich nickte und sich dann empfahl.
Virginia Brooke hatte eindeutig keine Ahnung, wer sie waren. »Freut mich, Sie kennenzulernen.« Sie machte eine Pause. »Vielleicht freunden wir uns ja sogar an.«
Marthe beschäftigte sich mit ihrer Serviette. Dieses Mädchen schien sie ein wenig aus der Bahn zu werfen. Isabelle musste sich auf die Lippe beißen, um nicht zu kichern.
Virginia Brooke schien nichts zu bemerken – und falls doch, kümmerte es sie offenbar nicht. »Ich konnte nicht verhindern, Ihr Gespräch zu verfolgen … als ich eben zu meinem Tisch kam, habe ich automatisch auf Ihr schönes Französisch gehört.« Sie wandte sich an Isabelle. »Du willst heute mit Max’ Familie einen Ausflug auf dem See machen, oder? Bei ihnen bist du wirklich gut aufgehoben.«
»Aha?«, fragte Marthe.
Isabelle presste die Lippen zusammen.
»Ja. Aber wenn Sie sich Sorgen machen, Madame de Florian, kann ich ja auch mitfahren. Als Anstandsdame.«
»Tatsächlich«, sagte Marthe indigniert.
Virginia begegnete Marthes Blick gelassen.
»Reisen Sie allein, Miss Brooke?«, fragte Marthe schließlich.
»O ja, und wie«, antwortete Virginia. »Aber mir begegnen ständig interessante Menschen. Ich bin aus Boston. Auf der Flucht.«
Marthe betrachtete sie nachdenklich.
Isabelle sagte nichts. Sie brannte darauf, mit den Albrechts den Tag zu verbringen, doch diese Virginia faszinierte sie. Auf der Flucht? Was sollte das heißen? Wovor?
»Sind Sie von den Deutschen denn ebenfalls eingeladen worden, Miss Brooke?«, fragte Marthe und bedachte das Mädchen mit einem tadelnden Blick.
»Ach, herrje, das spielt doch keine Rolle. Ich sag ihnen einfach, dass ich mitkommen möchte. Und nennen Sie mich bitte Virginia.«
Marthe legte die Serviette nieder. »Nun denn. Vielleicht können Sie uns eine Nachricht zukommen lassen, sobald Sie mit ihnen gesprochen haben, dann sehen wir weiter.«
»He, schauen Sie mal. Da sind sie ja!« Virginia deutete mit der Kaffeetasse auf das Trüppchen, das gerade auf der Terrasse erschienen war.
Max trug einen hellen Anzug, der fast dieselbe Farbe hatte wie Isabelles Kleid. Er blickte im gleichen Moment zu ihr wie sie zu ihm, und hastig senkte sie die Augen, konnte jedoch nichts gegen das Lächeln tun, das sich auf ihrem Gesicht ausbreitete.
»Überlassen Sie das nur mir.« Virginia stand auf, ging zu den Deutschen, küsste Nadja auf die Wange und begann, mit den Geschwistern zu reden.
Max sah wieder zu Isabelle herüber und zog die Brauen hoch, und Isabelle grinste. Zwei Minuten später kehrte Virginia zurück.
»Alles geregelt«, sagte sie. »Wir treffen uns um halb elf hier am Anleger. Das Motorboot holt uns um Viertel vor ab und fährt uns zu einem Picknickplatz etwas weiter seeaufwärts. Sie wollen das eine oder andere Dorf besichtigen, und wir können alle mit.« Virginia setzte sich und prostete Marthe mit der Kaffeetasse zu.
»Soso«, sagte Marthe. »Also schön.« Sie betrachtete die Albrechts, die gerade zu lachen begonnen hatten. Offenbar machte einer der Zwillinge einen Spaß. Marthe neigte den Kopf. »Wenn ich nun Nein sage, wirke ich vermutlich wie eine Spielverderberin.«
Virginia lächelte. »Sie wird sich bestimmt gut amüsieren.«
Marthe stand auf, und Isabelle tat es ihr nach, aber als sie an Virginia vorbeiging, fing die andere ihren Blick ein, und etwas sprang über. Isabelle musste sich zwingen, weiterzugehen und sich nicht erneut umzudrehen. Es überraschte sie, dass sie zu jemandem eine Verbindung spürte, den sie kaum kannte – noch dazu jemand, der aus einer so fremdartigen Kultur kam. Doch irgendwie fühlte sie sich zu dieser selbstbewussten jungen Frau hingezogen. Vielleicht musste man ja gar nicht wissen, warum das so war.
»Der ideale Motorsegler.« Max stand hinter Isabelle, die das weiße Boot mit den Bullaugen im Rumpf und der Kabine an Deck betrachtete, das am Ufer auf sie wartete. Der Lack war auf Hochglanz poliert, und die uniformierte Besatzung hatte einen schmalen Steg ausgelegt, auf dem Virginia bereits an Bord ging.
»Es ist wirklich wunderschön«, sagte Isabelle. Sie war sich Max’ Nähe nur zu bewusst. »Glaubst du, dass sie die Segel setzen werden?« Sie wandte sich zu ihm um.
»Das hoffe ich«, erwiderte er mit tiefer, ruhiger Stimme. »Sollen wir?« Er streckte ihr die Hand entgegen, um ihr vom Anleger auf den Steg zu helfen.
Isabelle lächelte, als sie ihre Hand in seine legte. »Ich finde, ja.«
Siegel, 2010
Reste von schwarzem Lack waren durch den Rost zu sehen, der die schmiedeeisernen Tore zu Schloss Siegel überzog. Doch selbst der schäbig kupferbraune Belag konnte die Schönheit und Eleganz der verschnörkelten Ornamente nicht schmälern. Anna strich mit den Fingern über einen Wirbel. Das Problem, das sich ihr in diesem Moment stellte, hatte nichts mit dem Rost zu tun, sondern mit dem enormen Bügelschloss, das beide Tore miteinander verband.
Die Auffahrt dahinter führte am Waldrand entlang; auf der anderen Seite erstreckte sich das, was vom ehemaligen Rasen übrig war. Hier und da wuchs hohes Gras in Büscheln, die sich lautlos im Wind bewegten. Sonst war nichts zu sehen.
Anna verschränkte die Arme vor der Brust.
Die Tore waren zu hoch, um einfach hinüberzuklettern. Aber vielleicht gab es ja an einer anderen Stelle einen Zugang.
Anna beschloss, sich genauer umzusehen, wandte sich nach links und folgte der dicken, hohen Mauer, die oben mit rostigem Stacheldraht versehen war.
Zwischen Straße und Mauer befand sich ein Trampelpfad, der breit genug war, um bequem darauf zu gehen. Falls sie einmal um das ganze Anwesen gehen musste, um einen Eingang zu finden, dann würde sie das eben tun. Lediglich die Kronen der Bäume auf dem Grundstück waren über der alten Mauer zu sehen, und obwohl Anna immer wieder angestrengt lauschte, konnte sie jenseits der Abgrenzung keine Geräusche vernehmen.
Ein Schauder durchlief sie, und sie atmete ein paarmal ein und aus. Der Nachmittag hatte sich ein wenig verdunkelt, und die Umgebung wirkte noch einsamer als zuvor. Aber gleichzeitig spürte Anna eine starke Verbundenheit zu dieser Gegend. Etwas war in ihr geweckt worden, aber was? Ein Heimatgefühl?
Nach einer Weile machte die unüberwindbare Mauer eine Biegung nach rechts, bis der Weg erneut an ein Doppeltor führte. Dieses war nicht so kunstvoll gestaltet wie das am Haupteingang, sondern im Gegenteil so bescheiden, als gehörte es zu einem einfachen Bauernhof.
Zu ihrer Linken entdeckte Anna nun weitere Nebengebäude, unter anderem ein kleines, heruntergekommenes Haus mit verschlossenen Fensterläden. Obwohl diese Gebäude nicht auf Max’ Plan zu sehen gewesen waren, gehörten sie offenbar zu dem Anwesen. Wozu mochten sie gedient haben? War hier vielleicht die Waschküche gewesen? Hatte ein Verwalter das Häuschen bewohnt?
Anna trat an das Tor und reckte den Hals in der Hoffnung, vielleicht von hier aus mehr zu sehen. Doch sie erblickte nichts weiter als ein paar Bäume, eine Rasenfläche und …
Sie hielt den Atem an.
Da war es.
Sie blickte von der Seite auf das Anwesen, das trotz seines Alters, dem Verfall, dem Missbrauch durch verschiedene Kriege und Regierungen und diverser Besitzerwechsel noch immer atemberaubend war. Dennoch wurde es Anna beim Anblick des alten Schlosses, das beständig wie ein Schiffswrack auf dem Grundstück hockte, schwer ums Herz. Die Fassade war übersät mit Einschusslöchern, was ihr ein pockennarbiges Antlitz verlieh, und die Fenster waren vernagelt. Unkraut und Farne wuchsen an den Wänden aufwärts. Eisenstücke von undefinierbarer Form lagen um das Haus herum, vielleicht Überreste aus der sowjetischen Ära, vielleicht Teile landschaftlichen Geräts.
Das schlichte Tor, vor dem Anna stand, war nicht nur durch ein Vorhängeschloss gesichert, sondern zusätzlich noch mit Stacheldraht umwickelt, damit wirklich niemand hineingelangte.
Anna mochte sich nicht vorstellen, wie Max zumute gewesen wäre, hätte er nun hier an ihrer Stelle gestanden. Hätte er nicht das Gefühl haben müssen, dass seine Kindheit, sein gesamtes früheres Leben, dem Verfall preisgegeben war?
Und was sollte sie jetzt tun?
Während sie über das Tor blickte, rannte vor ihrem inneren Auge ein junger Max über den Rasen zum See hinunter, der hinter dem Haus lag, wie sie wusste. Dann tauchte Max als junger Mann auf, der mit nachdenklicher Miene zum Steg hinabschlenderte – um ein wenig allein zu sein, um zu lesen oder vielleicht auch ein wenig zu rudern. Anna hatte beinahe den Eindruck, als sei sie damals hier gewesen und habe den Max aus jener Zeit gekannt. Sie empfand den Anblick des heruntergekommenen Gebäudes als niederschmetternder, als sie sich je hätte vorstellen können; schließlich hatte sie nie viel über die Vergangenheit nachgedacht. Doch dieses Haus und der Gedanke an das, was es überstanden hatte, hatte eine seltsame Wirkung auf sie.
Max’ Familie – ihre Familie – hatte alles verloren. Wie musste es sich anfühlen, das Zuhause zu verlassen, in dem die Erinnerungen an eine jahrhundertealte Familiengeschichte steckte?
Anna schüttelte den Kopf und wandte sich ab. Im Augenblick konnte sie nur sagen, dass sie keinerlei Antworten bekommen würde, wenn sie hier stehen blieb und das Anwesen über die Mauer hinweg anstarrte. Sie musste einen Weg hinein finden.
Selbst wenn es einem Wunder gleichkäme, wenn das, was auch immer Max 1940 unter den Bodendielen seines Zimmers verborgen hatte, Umstürze, Beschuss und Plünderei überstanden hatte – ganz zu schweigen von neuen Besitzern, die vielleicht alles Wertvolle herausgerissen und den Rest dem Verfall überlassen hatten.
Nun. Sie musste es herausfinden. Widerstrebend wandte Anna sich ab und machte sich auf den Rückweg ins Dorf.
Während sie denselben Weg zurückging, den sie gekommen war, entwickelte sich ein Plan in ihrem Kopf. Es musste irgendein öffentliches Amt geben, bei dem sie sich erkundigen konnte. Und wenn man ihr in diesem Ort nicht weiterhelfen würde, dann eben irgendwo in der Nähe. Jemand musste wissen, wem Schloss Siegel jetzt gehörte, und sie war entschlossen, Kontakt aufzunehmen.
Anna wanderte um den Dorfplatz herum, entdeckte aber nichts außer einem Geschäft, dem Hotel, der Kirche und ein paar heruntergekommenen Privathäusern. Danach bog sie in die erstbeste Straße ein, an die sie kam, doch auch dort gab es nichts außer Wohnhäusern.
Unwillkürlich stellte sie sich vor, wie es einst hier gewesen sein musste, als das Dorf lebendig und voller Lärm, Lachen, spielender Kinder und buntem Treiben gewesen war. Dass die Hotelangestellten Tracht trugen, machte alles irgendwie noch ergreifender. Es war, als sei dieser Ort in der jüngsten Vergangenheit eingeschlossen und vergessen worden, wie so vieles vergessen wurde, wenn es fort war. Oder zu Ende.
Aber warum musste etwas enden?
Anna kehrte zum Marktplatz zurück und nahm die nächste Straße, doch auch die bot ihr nichts außer einem verlassenen Postamt, also machte sie wieder kehrt. Der Himmel hatte sich mit dunklen Wolken zugezogen, und Anna blickte auf die Uhr. Es war fast sechs; sie war über eine Stunde unterwegs gewesen. Auch jetzt regte sich im Dorf so gut wie nichts. Nur im Hotel schien sich etwas Leben abzuspielen … und in dem kleinen Laden.
Natürlich! Er war geöffnet. Aber für wen?
Anna drückte die Tür auf. Inzwischen hatte sie großen Hunger, und vor Erschöpfung brannten ihr die Augen. Einen Moment lang wurde ihr schwindelig, und sie musste den Blick senken. Der Boden unter ihr drehte sich.
Hinter der Theke saß eine ältere Frau, doch sie erhob sich, als Anna sich näherte, und beschäftigte sich mit dem Zigarettenständer hinter sich. Aus dem Augenwinkel beobachtete Anna, wie die Frau eine Stange Zigaretten öffnete und halbherzig ein paar Pakete einsortierte.
Anna blickte sich im Geschäft um. Hier schien seit Langem nicht mehr renoviert worden zu sein. Die Ware – hauptsächlich Abgepacktes – verteilte sich auf drei Gänge, und ein Kühlregal bot eine kleine Auswahl an Obst und Gemüse.
Anna kam zu dem Schluss, dass es taktisch klüger war, etwas zu kaufen, ehe sie der Frau Fragen stellte. Sie schlenderte durch die Gänge, begutachtete fasziniert das Kekssortiment, die Konserven mit Sauerkraut und die eingeschweißten Würstchen in der Kühlung, bestaunte das Design der Verpackungen und las neugierig die Listen der Inhaltsstoffe. Nur mit Mühe schaffte sie es, sich wieder auf die vor ihr liegende Aufgabe zu konzentrieren.
Schließlich entschied sie sich für eine Packung Schokoladenkekse. Die konnte sie gut gebrauchen. Sie blieb noch einen Moment am Regal stehen, um sich die Worte zurechtzulegen, und ging dann zur Kasse.
»Guten Tag«, sagte sie auf Deutsch und zog innerlich den Kopf ein; vermutlich hatte die Frau noch nie so einen üblen amerikanischen Akzent gehört.
»Hello«, gab die Frau auf Englisch zurück und streckte die Hand nach den Keksen aus. Sie lächelte nicht.
Aber Anna dachte nicht daran, sich so einfach abfertigen zu lassen. »Sagen Sie … könnten Sie mir vielleicht verraten, wo ich den Bürgermeister dieser Stadt finden kann?«
Die Frau scannte Annas Kekse und gab unendlich langsam Zahlen über die Tastatur ein. Anna biss sich auf die Unterlippe und bezahlte ihren Einkauf.
Die Frau ließ sich Zeit, Anna von Kopf bis Fuß zu taxieren, ehe sie sich zu einer Antwort entschloss. »Ich bin die Bürgermeisterin von Siegel. Wenn Sie Fragen haben, müssen Sie sie mir stellen.«