Genfer See, 1934
Das Gefühl von Freiheit auf dem Wasser, das Kribbeln im Bauch und der Hauch von Exklusivität, mit dem Boot unterwegs zu sein, hatten definitiv etwas Berauschendes. Die Sonne funkelte auf dem tiefblauen Wasser, Max lehnte neben ihr an der Reling, und Isabelle fühlte sich so glücklich und hoffnungsfroh, wie sie es seit ihrer Kindheit nicht mehr getan hatte.
Selbst wenn der heutige Tag die große Ausnahme war, würde sie von den Erinnerungen noch sehr lange zehren können. Tief in ihrem Inneren hoffte sie jedoch, dass es nicht nötig sein würde. Konnte es nicht einfach so bleiben wie jetzt?
Während sie dahintuckerten, deutete Max auf die malerischen Orte am Ufer und erzählte ihr, wo es die beste Schweizer Schokolade, die schönsten Wochenmärkte und die aufregendsten Restaurants und Cafés gab, und wo man am besten Kleidung kaufen konnte, wusste er auch.
Isabelle konnte sich nicht sattsehen an den traumhaften Residenzen mit den gepflegten Gärten und den privaten Anlegern, an denen schnittige Motorboote und Jachten lagen. Doch der See hatte auch eine wilde Seite, wie Max ihr zeigte. Die rauen Berge – nur für Könner bezwingbar – ragten über dichte Wälder hinaus, die oberhalb steiniger Uferstreifen wuchsen.
»Schau, wir sind da. Saint-Prex«, sagte Max, als das Boot das Tempo drosselte und auf die Küste zufuhr.
Didi und Jo plapperten auf die typische überdrehte Art junger Männer. Virginia hatte ihren Hut abgenommen und hielt das Gesicht in den Wind. Nadja saß vorne im Boot auf einer der Holzbänke und plauderte mit ihrer Freundin Sascha.
Als das Boot am Anleger festmachte, wandte Max sich Isabelle zu. »Hast du Lust, mit mir zu kommen? Ich würde dir gerne die Stadt zeigen, wenn ich darf.«
»Sehr gerne«, erwiderte Isabelle mit einem Lächeln.
»Isabelle und ich würden gerne ein Stück spazieren gehen«, erklärte Max den anderen, während die Besatzung das Boot festzurrte. Ein hübscher Park erstreckte sich hinter dem felsigen Ufer, und schmale Straßen führten in den mittelalterlichen Ort hinein.
»Viel Spaß, Honey.« Virginia grinste verschmitzt. »Es sei denn, du meinst, du hast eine Anstandsdame nötig.«
Isabelle errötete, schüttelte aber den Kopf.
Die Besatzung half Isabelle, Sascha, Nadja und Virginia vom Boot. Als Nächstes kamen Didi und Jo, die direkt zum Wasser liefen.
»Wir sind zum Mittagessen zurück«, sagte Max, der als Letzter von Bord ging.
Enttäuschung machte sich in Isabelle breit. Sie wollte nicht zum Mittagessen zurück sein – viel lieber wäre sie den ganzen Tag mit Max unterwegs gewesen. Aber natürlich war das albern, das wusste sie. Sie winkte Virginia zum Abschied.
Virginia winkte zurück. »Ich bleibe mit Nadja und Sascha im Park. Wir haben uns viel zu erzählen.«
Virginia schien sich von Nadjas unterkühltem Verhalten nicht beirren zu lassen. Isabelle fragte sich, ob ihre neue amerikanische Freundin sich überhaupt von irgendetwas aus der Ruhe bringen ließ.
Max hielt Isabelle den Arm hin. »Sollen wir?«
Isabelle hakte sich bei ihm ein. Mit einem Mal wurde sie sich bewusst, dass sie sich fühlte, wie sie sich noch nie zuvor gefühlt hatte.
Wie leicht hätte man in den Kopfsteinpflastergassen von Saint-Prex alles andere vergessen können. Viele der Giebelhäuser waren mit Rankpflanzen bewachsen, und vor den Fenstern blühten Blumen in den schönsten Sommerfarben. Nachdem sie eine halbe Stunde im Ort umherspaziert waren, schlug Max vor, in einem Café einzukehren und etwas Kaltes zu trinken.
Doch er tat es zögernd und schien beinahe unsicher, während er auf ihre Antwort wartete. Glaubte er, sie könne es unangemessen oder unangenehm finden, mit einem fremden Mann in einem fremden Land in einem fremden Café zu sitzen? Oh, und wie er sich irrte! An seiner Seite fühlte sie sich mehr wie zu Hause als in Paris.
»So«, sagte Max, und in den Winkeln seiner blauen Augen bildeten sich kleine Lachfältchen, als er ihr auf der Veranda eines bezaubernden Cafés einen Stuhl herauszog. »Jetzt kennst du also meine Familie.«
Isabelle wartete einen Moment. Sie hätte gerne nach seinen Eltern gefragt, doch das war stets ein heikles Thema. Der Krieg … die Väter.
Max schien ihre Gedanken zu erraten. »Meine Eltern haben in diesem Sommer … Gäste. Na ja, sozusagen. Mein Vater wollte die Männer, die den August über bei uns wohnen, nicht allein lassen. Sie kommen aus den Ausbildungslagern im Süden von Berlin.«
»Oh«, sagte Isabelle. Ausbildungslager. Die Vorstellung ließ sie schaudern. »Das ist sicher interessant für euch … diese Leute im Haus zu haben, meine ich.«
Max lachte leise. »Du kannst dich aber sehr diplomatisch ausdrücken. Meine Eltern haben ihre festen politischen Ansichten. In Paris gibt es ähnliche Bewegungen, das weißt du sicher.«
Isabelle verspannte sich. Die Aufstände von Kommunisten und Faschisten im Februar in Paris waren wohl allen noch sehr gut in Erinnerung, allerdings konnte sie sich kaum vorstellen, wie es sein musste, in einem Land zu leben, in dem alternative Parteien verboten wurden – von Protesten ganz zu schweigen. Hitler hatte sich selbst die absolute Macht verliehen. Sie hatte von den Bemühungen der SS gelesen, jegliche Opposition innerhalb der NSDAP zu beseitigen. Was sollte sie dazu sagen?
Einen Moment lang schwiegen beide.
»Meine Eltern wollen, dass ich der NSDAP beitrete«, fuhr Max schließlich fort. »Aber wenn Hitler Männer erschießen lässt, die einst an seiner Seite gestanden haben, wie kann ich dann auch nur daran denken, seine Partei zu unterstützen? Oder zulassen, dass meine beiden Brüder es tun? Es heißt, dass es notwendig gewesen war. Dass man Opfer bringen muss, wenn man etwas erreichen will. Wir alle wissen, dass Deutschland eine Perspektive braucht, und wie es aussieht, kann uns nur Hitler nach vorne bringen. Aber ich weiß nicht, wie ich das alles einschätzen soll. Jedenfalls drängen meine Eltern mich, in die Partei einzutreten.«
Ein paar Kinder rannten auf dem Platz vor dem Café immer im Kreis herum. Die Farben, die bunten Blumen vor den Fenstern und die Kellnerinnen in ihren karierten Kleidern, die Krüge mit Limonade an die Tische brachten – all das schien so weit fort von der Welt, die Hitler zu erschaffen versuchte.
»Ich bin der älteste Sohn, der Erbe«, fuhr Max fort. »Daher schauen meine Brüder und die Leute im Dorf sehr genau, was ich tue – ich habe in gewisser Weise Vorbildfunktion. Aber ich weiß nicht, was richtig ist.« Er beugte sich vor und legte seine braun gebrannte Hand auf den Tisch.
Isabelle hätte sie gerne berührt, und beinahe hätte sie es sogar getan, hielt sich allerdings zurück. Sie hatte ihn ja gerade erst kennengelernt; sie wusste praktisch nichts über ihn. Doch er war einer der interessantesten Männer, die ihr je begegnet waren, und sie spürte tief in ihrem Inneren, dass vor ihr ein guter Mensch saß, der sich viele Gedanken um die Welt um sich herum machte. Ehe sie ihm ihre Sicht der Dinge mitteilte, wollte sie unbedingt mehr erfahren.
Siegel, 2010
Der prüfende Blick der Bürgermeisterin war Anna unangenehm, was sie selbst verwunderte; in ihrem Café hatte sie ständig mit Leuten zu tun und ließ sich nicht leicht einschüchtern.
Sollte sie der Frau ihre Geschichte erzählen oder nur sagen, dass sie einen guten Grund hatte, das Schloss zu betreten? Wenn sie gar nichts verriet, würde die Frau sicherlich bloß noch misstrauischer werden, als sie es ohnehin schon zu sein schien. Falls sie zu viel sagte, hielt die andere sie vielleicht für völlig verrückt. Nach siebzig Jahren etwas aus einem maroden Schloss zu holen, was lediglich Erinnerungswert besaß? Ja, das klang wirklich irre. Und obwohl Anna ihren Großvater bis zu ihrer Abreise immer wieder bedrängt hatte, ihr zu sagen, worum es ging, hatte er sie nicht aufgeklärt. Es fiele ihm schwer, über bestimmte Dinge zu reden, hatte er ihr anvertraut, doch sobald sie dort sei, in Deutschland, würde er es ihr sagen. Am Telefon. Nicht von Angesicht zu Angesicht. Das könne er schaffen.
Anna wandte sich der Bürgermeisterin zu. »Ich heiße Anna Young«, begann sie. »Mein Großvater ist Max Albrecht.«
Die Frau zeigte keinerlei Regung. »Warum sind Sie hier?«
»Die Familie meines Großvaters –«
»Wir kennen die Albrechts«, unterbrach die Frau sie.
»Nun, natürlich. Also … mein Großvater hat mich gebeten, hierherzukommen und das Schloss aufzusuchen. Inzwischen ist er vierundneunzig, wissen Sie?«
»Agatha Engel«, stellte die Frau sich vor.
Anna hielt ihr die Hand hin. Agatha Engel nahm sie, lächelte aber nicht.
»Was will er?«
»Das ist eine lange Geschichte. Er möchte …« Sie brach ab. Vermutlich war es nicht klug zu enthüllen, dass unter den Bodendielen des Hauses etwas verborgen war. Falls jemand hier im Dorf tatsächlich einen Schlüssel hatte, mochte er versucht sein, auf eigene Faust auf die Suche zu gehen. Anna setzte neu an. »Er ist ein alter Mann. Er hat mich gebeten, für seine Nachkommen Fotos von seiner Heimat und dem Haus seiner Kindheit zu machen. Das können Sie sicher verstehen.«
Nach einer gefühlten Ewigkeit stützte Frau Engel ihre großen Hände auf die Theke. »Ich habe keinen Zugang zu dem Haus, Miss Young. Kehren Sie nach Amerika zurück, und vergessen Sie die Geschichte. Und Ihr Großvater sollte die Vergangenheit ruhen lassen. Ich kann Ihnen nicht helfen, und niemand hier wird sich für Ihren Wunsch nach Fotos interessieren.« Sie verschränkte die Arme vor der Brust.
Anna nahm die Packung Kekse und nickte. Hier würde sie nicht weiterkommen. Jetzt jedenfalls nicht. Sie dankte ihr und verließ das Geschäft.
Die Luft draußen war kühl, und die Stille des späten Nachmittags lag schwer über dem Ort. Die Atmosphäre fühlte sich seltsam zeitlos an, als hätte sich das Dorf aus der Gegenwart zurückgezogen. Aus dem Schornstein des Hotels stieg ein dünner Rauchfaden auf.
Tatsächlich war der Gedanke, nach San Francisco zurückzukehren, mehr als attraktiv – dort ging man jedenfalls freundlicher miteinander um als hier. Aber das konnte Anna nicht tun. Noch nicht. Und dafür gab es zwei Gründe.
Erstens hätte sie sich nicht mehr im Spiegel ansehen können, wenn sie einfach aufgab und nach Hause zurückflog. Und zweitens hatte sie nun ein persönliches Interesse. Da sie das Schloss gesehen hatte – da sie nun einen Blick auf ein winziges Stück von Max’ Vergangenheit erhascht hatte, über die er nie hatte sprechen wollen –, konnte sie nicht einfach abreisen, ohne mehr in Erfahrung zu bringen. Und wie sollte sie ihm unter die Augen treten, wenn sie es nicht wenigstens versucht hatte?
Langsam ging sie zum Hotel zurück. Diesmal erwartete sie im Restaurant eine andere Szenerie. Ein Feuer knisterte in dem großen alten Ofen im rückwärtigen Teil des gemütlichen Schankraumes, und drei Leute saßen an der Bar zur Linken – ein Paar mittleren Alters, das sich auf Englisch mit britischem Akzent unterhielt, und ein einzelner Mann, möglicherweise ein Einheimischer. Vor ihm auf dem Tresen lag eine Tweedkappe.
Im Hintergrund lief Musik – Schubert. Max hörte oft Schubert. Anna seufzte innerlich. Der Gedanke an ihren Großvater war momentan ganz bestimmt nicht hilfreich. Sie trat an die Bar und setzte sich auf einen der verbliebenen Hocker. Aus Gründen, die sie selbst nicht so recht nachvollziehen konnte, war sie plötzlich nervös. Das sah ihr gar nicht ähnlich; normalerweise trat sie selbstsicher und kompetent auf. Sie war zielstrebig, hatte ihr eigenes Geschäft aufgebaut und sich in den vergangenen Jahren dabei stets um Max gekümmert – warum war sie also hier und jetzt so unsicher? Sie konzentrierte sich auf das, was sie zu tun hatte. Wie sollte ihr nächster Schritt aussehen?
Der Mann neben ihr wandte sich ihr zu und nickte, die Frau neben ihm schenkte ihr ein Lächeln und begrüßte sie mit einem freundlichen »Hallo«. Sie hatte einen britischen Akzent.
»Hi, ich bin Anna.« Anna erwiderte das Lächeln.
»Flora Miles«, sagte die Frau. »Und das ist Doug, mein Mann. Wir sind auf einer Rundreise. Zwei Wochen. Spannende Gegend hier, nicht wahr?«
»Ja, das ist sie.« Der Barkeeper fragte sie nach ihren Wünschen. Anna bestellte ein Glas Riesling. Bier war nichts für sie.
Flora hatte offenbar Lust auf Small Talk. »Wir sind heute aus Berlin gekommen. Morgen geht es weiter nach Polen.«
»Aha?«
»Ja. Wir reisen gemütlich. Wir haben es nicht eilig.«
»So reist es sich am besten«, bemerkte Anna.
»Und Sie? Sind Sie mit dem Rucksack auf Europatour?«
Anna musste lachen. »Nein. Ich bin aus … persönlichen Gründen hier.«
Der Mann auf Annas anderer Seite regte sich. Sie spürte seinen Blick, wandte sich ihm aber nicht zu.
»Meine Vorfahren kommen von hier«, fuhr Anna fort – laut genug, dass der andere Mann sie hören konnte. Blieb nur zu hoffen, dass er Englisch verstand. »Ihnen gehörte das Schloss am Rand dieser Stadt. Ich weiß nicht, ob Sie es schon gesehen haben.«
»Die Albrechts«, meldete sich der andere Mann zu Wort – auf Englisch. »Sie sind nie zurückgekehrt.«
»Sie sind nie zurückgekehrt?«, fragte Anna.
Das Ehepaar schwieg. Anna dankte ihnen im Stillen dafür.
»In den Neunzigern hat der Staat den Familien das Angebot gemacht, ihre ehemaligen Anwesen zurückzukaufen, aber die Albrechts waren nicht interessiert – sie sind nie hierher zurückgekehrt, also wurde das Schloss zum Verkauf freigegeben.«
Waren nicht interessiert?
»Und wissen Sie auch, wem das Schloss jetzt gehört?«, fragte Anna und drehte ihr Weinglas am Stiel.
»Irgendeinem großen Unternehmen.« Der Mann zuckte die Achseln. »Einmal kam deren Anwalt her, um es sich anzusehen.«
»Sie wissen nicht zufällig, wie der Anwalt hieß?« Anna versuchte ihre Frage beiläufig klingen zu lassen.
Der Mann stellte seinen Bierkrug mit betonter Präzision auf den Deckel. »Dieser Anwalt hat sich, als er hier war, mit der Bürgermeisterin getroffen. Mehr weiß ich nicht.«
»Danke«, sagte Anna. »Das hilft mir weiter.«
Frau Engel drehte gerade das »Wir haben geöffnet«-Schild an der Tür um, als Anna in den Laden hastete. Obwohl sie aus eigener Erfahrung nur allzu gut wusste, wie schwierig es war, wenn man schließen wollte und ein Gast noch um Einlass bat – hier ging es um Max. Also setzte Anna ihr liebstes Lächeln auf und näherte sich der älteren Frau behutsam.
»Ja?« Frau Engel drehte sich nicht zu ihr um.
»Gerade eben habe ich mit einem Mann aus dem Ort gesprochen«, begann Anna. »Er sagte mir, dass Sie dem Anwalt begegnet sind, der die neuen Besitzer des Schlosses vertritt. Ich könnte mir vorstellen, dass dieser Mann einen Schlüssel hat. Natürlich verstehe ich absolut, was Sie in Bezug auf die Vergangenheit sagen, glauben Sie mir, aber –«
Die Frau wandte sich scharf zu ihr um. »Haben Sie eigentlich eine Ahnung, Miss Young?«
»Bitte glauben Sie mir, ich verstehe schon. Ich tue das nicht für mich. Hier geht es um meinen Großvater. Jetzt im hohen Alter müssen die Erinnerungen an dieses Anwesen so wichtig geworden sein, dass er …« Wieder brach sie ab. Sie musste es anders versuchen. »Hören Sie, ich will ihm bloß helfen. Und er bittet mich doch nur, einen Blick in das Haus seiner Kindheit zu werfen, mehr nicht.«
Frau Engel versteifte sich.
»Er hat mir förmlich befohlen, hierherzureisen. Er selbst ist zu alt dazu. Bitte, Frau Engel.«
»Sie können doch nicht erwarten, dass ein Berliner Anwalt dem Wunsch Ihres Großvaters nach ein paar Fotos nachkommt – lächerlich. Sie werden nur seine Zeit verschwenden.«
Anna blieb auf der Treppe stehen. Sobald Frau Engel ihren Satz beendet hatte, senkte sich wieder Stille über den Platz.
»Ich mache jetzt zu, Miss Young.«
»Würden Sie bitte noch einmal darüber nachdenken? Ich bin deswegen extra aus San Francisco hergekommen.«
»Das war eine Schnapsidee.«
»Aber manchmal sind es die wichtigsten Dinge des Lebens, die eine Schnapsidee erfordern«, konterte Anna. Jetzt klang sie schon wie Max. Sie schüttelte den Kopf.
»Schönen Abend«, sagte Frau Engel mit einem Nicken und schloss die Tür.
Nachdenklich kehrte Anna in ihr Hotelzimmer zurück. Sie brauchte einen Plan. Nichts lag ihr ferner, als Max zu beunruhigen, doch sie musste ihn wissen lassen, womit er es zu tun hatte. Siegel verfiel seit Jahrzehnten. Und es gab offenbar nur eine gewisse Anzahl an Informationen, die die Leute preiszugeben bereit waren. Darüber hinaus – nichts.
Aber irgendjemand würde schon reden.
Im Augenblick wusste sie lediglich von einem Menschen, der ihr vermutlich Zugang zum Schloss verschaffen konnte, und das war dieser Anwalt aus Berlin. Sie musste also irgendwie Kontakt mit ihm aufnehmen, aber vorher würde sie Max anrufen. Wenn sie schon einen abgebrühten Anwalt davon überzeugen wollte, dieses Schloss betreten zu dürfen, dann würde es hilfreich sein zu wissen, was genau sie für Max holen sollte. Sie nahm das Telefon vom Nachttisch, setzte sich ans Ende des Sofas und zog die Füße unter.
»Großvater.«
»Anna!« Max schien erfreut, sie zu hören, wenn seine Stimme auch sehr fern klang.
Sie plauderten kurz über seine Gesundheit, ihren Flug und ihre Ankunft im Dorf, ehe sie die Fragen stellte, die ihr auf dem Herzen lagen, und ihm berichtete, was sie bisher in Erfahrung gebracht hatte.
»Wusstest du, in welchem Zustand die Gegend hier ist?«
Das Schweigen, das der Frage folgte, hätte nicht tiefer sein können.
»Ich habe seit beinahe zwanzig Jahren nichts mehr gehört«, sagte er schließlich. »In den Neunzigern hatte ich zuletzt sporadisch Kontakt mit einem … einem alten Freund. Er hat mich gewarnt, dass es nicht allzu gut stünde.«
»Für mich sieht es so aus, als sei seitdem nichts investiert worden – weder in den Ort selbst noch in das Anwesen. Das Hotel, in dem ich wohne, ist in Betrieb, die Kirche sieht gut aus, aber das war’s auch schon. Ich wusste nicht, wie ich dir sagen soll, dass das Schloss –«
»Schon verstanden«, schnitt er ihr das Wort ab.
Anna wünschte, sie hätte ihn in den Arm nehmen können. »Der einzige Mensch, der einen Schlüssel zu Schloss Siegel hat, scheint ein Anwalt zu sein, der die Besitzer vertritt. Dummerweise habe ich keine Ahnung, wer die Besitzer sind, aber es soll sich um ein Unternehmen handeln. Wie auch immer – dieser Anwalt wird einen triftigen Grund brauchen, um mich einzulassen. Könntest du mir also irgendetwas an die Hand geben, mit dem ich überzeugend argumentieren kann?« Sie ließ ihre Bitte einen Moment wirken, ehe sie hinzufügte: »Ich weiß ja nicht einmal, wonach ich mich umsehen soll, wenn ich dort bin.«
»Alles ist schwieriger … und auch leichter, wenn man alt wird.« Max seufzte. »Und plötzlich erkennt man, wie leicht die Dinge immer schon hätten sein können. Wie schlicht und geradeaus alles gelaufen wäre, hätte man nur von Anfang an die richtigen Entscheidungen getroffen. Zum jeweiligen Zeitpunkt erscheint es einem immer viel schwieriger, als es wirklich ist, Anna. Hätte ich das nur schon in meinen jungen Jahren begriffen.«
Anna lehnte sich auf dem Sofa zurück.
»Dennoch bleibt die Vergangenheit besser in den Träumen unter Verschluss. Ich möchte nur mein kleines Überbleibsel zurück. Mehr nicht.«
Anna sprach weiterhin ruhig. »Schaffst du es jetzt, mir zu sagen, was genau ich dir mitbringen soll?«
»Anna, bitte.«
»Das Problem dabei ist, dass deine Gründe sentimentaler Natur sind, Großvater. Wir haben es hier aber mit einem Anwalt zu tun. Und Anwälte lassen sich selten durch Sentimentalität beeindrucken.«
»Anna.«
So nah waren sie einer handfesten Auseinandersetzung noch nie gewesen. Anna hatte kein gutes Gefühl dabei, doch etwas stieg in ihr auf, was sich nicht mehr einfach unterdrücken lassen wollte.
Denn in gewisser Hinsicht war Max’ Vergangenheit auch ihre Vergangenheit. Sie hatte ein Recht darauf, etwas über ihre Vorfahren zu erfahren. Wo waren Max’ Geschwister? Er war bestimmt kein Einzelkind gewesen. Was wollte er sie nicht wissen lassen? Die Frage nach Vertrauen, nach dem Wesen ihrer Beziehung, blitzte immer wieder in ihren Gedanken auf, doch man durfte nicht vergessen, dass sie hier über einen Krieg sprachen. Sie musste immer wieder versuchen, die Dinge von seiner Warte aus zu sehen, auch wenn es ihr manchmal verdammt schwerfiel. Er hatte sie nicht belogen – aber er enthielt ihr seit Jahrzehnten so gut wie alles vor.
»Du denkst zu viel nach«, unterbrach Max ihre Grübelei. »Ich kenne dich, meine Liebe.«
»Dieser Ort hat mich gepackt, obwohl ich nicht einmal hinter die Schlossmauer gekommen bin. Ich reise nicht ab, ehe ich nicht habe, was du wolltest, aber du musst mir schon ein wenig helfen. Ich muss diesen Anwalt davon überzeugen, dass ich einen triftigen Grund habe, das Schloss zu betreten. Im Moment kann ich nicht mal die Verkäuferin im Tante-Emma-Laden überreden, mich aufs Grundstück zu lassen.«
»Ach, Anna«, sagte er. Dann: »Okay.«
»Okay?«
»Ja. Okay.«
Anna legte ihren Kopf an die Kissen zurück. Sie war erschöpft vom Jetlag und der frischen Luft, und sie hatte Hunger. Bald würde sie hinuntergehen und essen müssen, wenn sie nicht ohnmächtig werden wollte.
Eine Weile blieb es ganz still in der Leitung. Doch als Max zu reden begann, klang es, als sei er nur nebenan. »Es hat etwas mit dieser Wohnung in Paris zu tun«, sagte er. »Ich kannte das Mädchen, das dort wohnte, als ich jung war.«
»Aber … hat die Wohnung nicht einer Kurtisane gehört?«
»Ja, Anna, und auch sie kannte ich. Aber es war ihre Enkelin, die … die ich geliebt habe.«
»Ah.«
Max schwieg.
»Aber … Moment mal. Heißt es nicht, dass diese Enkelin die Wohnung vor siebzig Jahren verlassen hat, um nie wieder zurückzukehren?«
Er schwieg immer noch.
»Und du hattest eine Affäre mit ihr?« Unwillkürlich stand Anna auf und begann, auf und ab zu gehen.
»Es war nicht nur eine Affäre, Kindchen. Es war Liebe. Man weiß, dass es Liebe ist, wenn man sie empfindet.«
Anna spürte ein Kribbeln in der Magengrube. Sie trat ans Fenster. Es war dunkel geworden, und auf dem Marktplatz brannten zwei Laternen.
»Eine Liebesaffäre in Paris?«
»Es begann am Genfer See. Ich wusste es von dem Moment an, als ich das erste Mal mit ihr sprach. Sie hieß Isabelle de Florian.«
»Am Genfer See?«
»Wir waren dort im Urlaub.«
»Oh.«
»Warum so überrascht?«
»Aber was ist passiert? Wieso … wieso war es irgendwann vorbei?«
Max schwieg wieder einen Moment lang. »Es ist viel passiert. Viel zu viel.«
Anna schwirrte der Kopf. Vielleicht konnte sie dem Anwalt von dieser Pariser Wohnung erzählen, über die in den Zeitungen berichtet worden war. Sie musste sich den Artikel besorgen, dann hatte sie etwas Handfestes, das sie mit Max’ persönlicher Geschichte verbinden konnte.
Doch vorher musste sie noch mehr wissen.
»Was ist denn passiert? Und was hast du damals getan? Du hast von Reue erzählt, von deinem Bedauern …« Bei dem letzten Satz drohte ihre Stimme zu kippen.
»Es war der Verlobungsring, den ich unter den Bodendielen im Schloss versteckt habe«, sagte Max leise und hustete.
Inzwischen klang er erschöpft. Wie viel Kraft hatte es ihn gekostet, fast sein ganzes Leben lang die Erinnerungen an jene Zeit zu verdrängen, die er unbedingt vergessen wollte?
Immer mehr Fragen tauchten in Annas Bewusstsein auf. Was war mit ihrer Großmutter, Jean, gewesen? Sie und er hatten nie besonders glücklich zusammen gewirkt, sie waren einfach miteinander ausgekommen. Annas Großmutter war eine pragmatische Frau gewesen, doch Max schien in ihrer Gegenwart häufig distanziert. Anna hatte stets das Gefühl gehabt, dass er ihre Gesellschaft die seiner Frau vorzog, und er hatte ihr ein wenig leidgetan. Und nun erzählte er ihr, dass er einst eine große Leidenschaft zu einer Frau empfunden hatte, die offenbar ebenfalls vor ihrer Vergangenheit geflohen war – aus welchen Gründen auch immer.
Unwillkürlich schlug Anna sich mit dem Handballen gegen die Stirn. Doch Max redete weiter – wenn auch in Rätseln.
»Was uns von der Vergangenheit bleibt, sind Überreste in unserer Erinnerung, und wir können nichts weiter tun, als sie dann und wann zu betrachten. Wir nehmen sie heraus, stauben sie ab und drehen sie in unseren Händen, bis wir wieder in die Gegenwart zurückkehren müssen. Und wenn wir wieder hier sind, versuchen wir, unser Leben so gut wie möglich weiterzuleben. Wie immer.«
»Du entwickelst dich noch zu einem Philosophen«, sagte Anna. Sie hatte Mühe, gleichmütig zu klingen.
»Es bleibt einem nichts anderes übrig. Auf Wiedersehen, Liebes.«
Auf Wiedersehen? Am liebsten hätte Anna in die Leitung gebrüllt, dass er ihr noch Rede und Antwort stehen musste.
Aber sie konnte ihn nicht weiter bedrängen. Nicht jetzt. Er wirkte so verletzlich, wenngleich seine Überzeugung sie beeindruckte.
Anna beschloss, ihn nicht weiter zu peinigen. »Ich finde den Namen dieses Rechtsanwalts heraus, Großvater, und ich verspreche dir, dass ich alles geben werde, um dir deinen Ring zurückzuholen.«
Nachdem sie sich verabschiedet und aufgelegt hatten, ließ sich Anna aufs Bett zurückfallen.
Frau Engel aß im Restaurant zu Abend, als Anna ein paar Minuten später herunterkam. Sie saß bei einer Frau, die am Nachmittag hier im Hotel gearbeitet hatte, und einem Mann, den Anna noch nie gesehen hatte. Er trug ein rosa Hemd, eine helle Hose und braune Lederschuhe. Frau Engel hatte sich umgezogen; an dem Blazer ihres dunkelblauen Kostüms prangte eine Brosche. Beide Frauen sahen zu Anna auf, dann rasch wieder weg.
Unter diesen Bedingungen fühlte Anna sich noch unwillkommener als vorhin im Laden. Aber trotzdem würde sie auf die kleine Gruppe zugehen müssen, und das bald. Schließlich bot sich hier eine Chance, vielleicht doch noch etwas in Erfahrung zu bringen, und die würde sie sich nicht entgehen lassen.
Eine Kellnerin kam und brachte sie an einen Tisch. Das englische Ehepaar, das sie vorhin kennengelernt hatte, saß in einer Ecke, blickte allerdings nicht auf, als Anna eintrat. Einige der langen Holztische waren ebenfalls besetzt, und an der Bar standen ein paar Leute zu einem Grüppchen zusammen.
Falls sie die Bürgermeisterin nicht dazu bewegen konnte, ihr den Namen des Anwalts zu verraten, würde sie eben mit den Leuten an der Bar sprechen – sofern es sich um Einheimische handelte. Es war nicht wirklich Annas Art, Fremde anzusprechen, aber was sollte es? Sie war weit, weit von zu Hause weg und musste kreativ werden. Und wenn das alles nicht half, würde sie diverse Ämter aufsuchen. Die Bürgermeisterin musste irgendwo ein richtiges Büro haben; sie konnte ihren Verpflichtungen ja wohl schlecht aus einem Geschäft nachgehen, oder?
Anna nahm der Kellnerin die Karte ab und hörte nur halb zu, als das Mädchen ihr die Tagesgerichte aufzählte. Anna bestellte Buletten und ein Glas Wein; sie musste sich etwas Mut antrinken.
Sobald die Kellnerin gegangen war, schob Anna ihren Stuhl zurück und stand auf. Sie musste jetzt handeln, solange die Bürgermeisterin und ihre Bekannten noch hier waren.
»Guten Abend«, sagte sie auf Deutsch, als sie am Tisch stehen blieb.
Die Frauen sahen sie an, als hätte sie sie beleidigt. Der Mann nickte, doch Frau Engel regte sich nicht, sondern betrachtete Anna nur mit zusammengekniffenen Augen.
»Verzeihen Sie, wenn ich Sie störe«, fuhr Anna fort, »aber ich belästige Sie nicht lange.«
»Das wäre nett«, sagte Frau Engel kalt. »Wir möchten unseren Feierabend genießen können.«
Anna ließ sich nicht beirren. »Hören Sie, ich habe Ihnen nicht die ganze Geschichte erzählt. Mein Großvater bereut vieles aus seiner Vergangenheit.«
Sie spürte, wie sich etwas in der Stimmung der Frauen veränderte. Der Mann im rosa Hemd setzte sein Bierglas ab und musterte Anna.
Dennoch wollte Anna nicht zu viel preisgeben. Sie hatte eine Idee. »Die Albrechts, meine Vorfahren, waren jahrhundertelang ein wichtiger Bestandteil dieses Dorfs, wenn ich das richtig sehe. Ich brauche nur den Namen dieses Anwalts, das ist alles.«
Frau Engel widmete sich demonstrativ ihrer Mahlzeit, doch der Mann ergriff das Wort. »Es ist die Schuld Ihres Großvaters, dass unser Ort in diesem Zustand ist. Wären nicht meine Frau hier und ich gewesen, hätten wir nicht dieses Hotel renoviert und es wieder für Gäste attraktiv gemacht, wäre von Siegel überhaupt nichts mehr übrig geblieben. Dann hätten wir hier eine Geisterstadt. Also sehen Sie es uns nach, wenn wir Ihrer Bitte nicht allzu eifrig nachkommen.«
»Das kann doch nicht Ihr Ernst sein!«, sagte Anna. »Wie können Sie eine einzelne Person für den Zustand einer ganzen Stadt verantwortlich machen? Sie kennen meinen Großvater ja nicht einmal.« Sie spürte, wie sich ihre Kehle zuschnürte, und holte tief Luft. Sie musste sich zusammenreißen.
Schweigen breitete sich aus. Die andere Frau schien nachzudenken.
»Der Anwalt heißt Wil Jager«, sagte sie. »Er arbeitet für eine Kanzlei namens Lang & Meissner in Berlin. Keine Ahnung, ob Ihnen das weiterhilft.«
In diesem Moment wurde Annas Essen gebracht. Sie hatte einen Bärenhunger. Als sie sich zum Gehen wandte, musste sie den Impuls unterdrücken, sich hinunterzubeugen und die Frau auf die Wange zu küssen.
»Vielen Dank«, sagte sie stattdessen. »Sie haben mir sehr geholfen.« Gerne hätte sie noch weitere Fragen gestellt, aber die drei wollten sichtlich in Ruhe gelassen werden.
Sobald Anna saß, holte sie ihr Handy hervor und gab den Namen von Anwalt und Firma in die Datei ein, die sie für diese Reise angelegt hatte. Doch ihre Gedanken verselbstständigten sich.
Es kam ihr so unfair vor, Max’ Familie – und ihn insbesondere – für den Verfall des Ortes verantwortlich zu machen. Die Albrechts waren vertrieben worden. Sie hatten keine andere Wahl gehabt, als ihr Haus zu verlassen. Anna fand es furchtbar, dass die Bitterkeit, die ihr entgegengeschlagen war, sich gegen den Mann richtete, den sie mehr liebte als jeden anderen auf dieser Welt.
Methodisch machte sie sich über ihre Mahlzeit her. Die Buletten waren köstlich, und in einem Anfall von Trotz – sie sah nicht ein, dass die Leute am Nebentisch glaubten, sie hätten es geschafft, ihr die Laune zu verderben – bestellte sie zum Nachtisch eine Zitronenmousse.
Als Erstes würde sie mit dem Anwalt sprechen. Vielleicht konnte sie ihn irgendwie überreden, sie ins Schloss zu lassen, um Max’ Ring zu holen. Doch nun hatte sie noch eine zweite Mission: Sie musste Max’ Ruf in diesem Ort wiederherstellen. Obwohl ihr nicht klar gewesen war, dass es zu ihrem Plan gehörte, empfand sie es jetzt als wesentlichen Grund ihrer Reise nach Siegel.
Anna kratzte den letzten Rest ihres köstlichen Nachtischs vom Teller. Sie ließ sich die Rechnung aufs Zimmer schreiben und stand auf. Gleich morgen früh würde sie den Anwalt anrufen und einen Termin mit ihm ausmachen.