5. Kapitel

Anna telefonierte mit Berlin, während sie gleichzeitig mit der freien Hand packte. Am Nachmittag konnte sie sich mit Wil Jager treffen. Ein Mandant hatte abgesagt, sodass er kurzfristig Zeit hatte, was augenscheinlich reines Glück war; normalerweise sei der Mann auf Wochen ausgebucht, sagte man ihr.

Anna hatte sich die halbe Nacht hin und her gewälzt. Der Jetlag und die Verärgerung hatten sie wachgehalten, und sie hatte sich immer wieder dieselbe Fragen gestellt. Was war vor siebzig Jahren passiert? Warum hatte Max seiner gesamten Vergangenheit den Rücken gekehrt, und warum machten die Einheimischen ihn für den desolaten Zustand des Dorfs verantwortlich? Und dann war da noch diese Liebesgeschichte mit Isabelle de Florian. Was war es, was er mehr bereute als alles andere?

Anna checkte aus und verließ das Hotel.

Der Lärm der Kofferrollen auf dem Kopfsteinpflaster war das einzige Geräusch, das die Stille auf dem Marktplatz durchbrach. Ihr war, als würde der Ort nun zu ihr sprechen. Die Verbindung, die sie spürte, war undefinierbar, doch nichtsdestoweniger stark. Die Kirche beherrschte die Szenerie mit einer wohlwollenden Ruhe, wie sie es vermutlich schon seit Jahrhunderten tat. Es fiel Anna nicht schwer, sich vorzustellen, wie sich die Einwohner früher hier getroffen und geplaudert hatten, und die Albrechts, Annas Familie, hatten dazugehört. Bestimmt hatten sie jeden hier gekannt, wie es oft in solchen Dorfgemeinschaften war. Aber Anna hatte noch nicht einmal von ihnen gewusst. Wenn sie in Betracht zog, dass sie selbst abgesehen von Max nie eine richtige Familie gehabt hatte – nicht nachdem ihre Mutter gestorben und ihr Vater gegangen war –, war seine Abkehr von seiner eigenen persönlichen Geschichte für sie sogar noch schwerer zu akzeptieren. Immerhin hatte er nun eingestanden, dass auch er verloren hatte, was ihm wichtig gewesen war.

Am Rand des Marktplatzes blieb sie stehen; das Rattern der Rollen verstummte wie der Dieselmotor eines Zugs, der an der Endstation angekommen war. Ehe sie auf den Weg zum Bahnhof einbog, blickte sie zurück. Die Sonne schien auf die alten Häuser und betonte ihr Alter, ihren Verfall, ihre beständige Schönheit.

Es wurde Zeit, dass das Dorf wiederbelebt wurde.

Mehrere Stunden später trat Anna aus dem Hotel in Berlin auf die Straße. Es lag im ehemaligen Osten der Stadt, direkt hinter dem Brandenburger Tor. Elegante Geschäfte und Restaurants säumten die Straßen, die Schaufenster waren groß und die Auslagen ansprechend, und auf den neu gepflasterten Gehwegen drängten sich Leute, die einkaufen gingen, zur Arbeit eilten oder sich die Stadt ansahen. Alles atmete Wohlstand und Erfolg.

Das alte Berlin war ausgenmerzt worden, so viel stand fest. Doch Anna spürte es selbst hinter der funkelnden Fassade noch. Irgendwie kroch die Vergangenheit hier genauso in ihre Knochen, wie sie es in Siegel getan hatte. Sie wanderte tiefer in den ehemaligen Ostteil der Stadt und bog in eine schmale Straße ein. Zwei leere Grundstücke zeugten noch davon, dass viele Häuser vor nicht allzu langer Zeit abgerissen worden waren.

Die Kanzlei befand sich in einer breiteren Straße, in der man bereits renoviert und neu gebaut hatte. Anna hielt vor einem ultramodernen Glaspalast, in dem sich nur Büros zu befinden schienen.

Die Glastür glitt auf, und sie betrat ein luftiges Atrium mit hoher Decke. Augenblicklich überkam sie ein Gefühl der Ruhe. Auch dieses Gebäude zeugte von Geld und Erfolg.

Sie hatte sich mehrere Eröffnungssätze zurechtgelegt und geprobt und sich schließlich für einen entschieden. Aber wie der Mann darauf reagieren würde, stand in den Sternen.

Als Anna im vierzehnten Stock aus dem Fahrstuhl in das riesige Foyer trat, verschlug es ihr beinahe den Atem. Der Marmorboden schimmerte, und die breite Fensterfront erlaubte einen traumhaften Blick auf die Stadt.

Sie sammelte sich und ging auf den Empfangsbereich mit dem breiten, geschwungenen Tisch zu, hinter dem eine tadellos gepflegte Frau saß. Nachdem sie Annas Namen eingetippt hatte, nickte sie und bat Anna, sich noch einen Moment zu setzen.

Plötzlich tauchte eine andere Frau hinter ihr auf. »Möchten Sie einen Kaffee?«

»Oh. Sehr gerne«, antwortete Anna. Sie mochte kaum daran denken, was dieser kleine Besuch sie kosten würde.

Zehn Minuten später versuchte Anna gerade, ein deutsches Wirtschaftsmagazin zu verstehen, als eine Männerstimme ihren Namen nannte. Sie sah auf und legte die Zeitschrift auf den Tisch zurück.

»Anna Young«, wiederholte der Mann vor ihr. Seine Stimme klang nicht unfreundlich. »Ich bin Wil Jager.« Er streckte die Hand aus, und Anna schüttelte sie. Das Erste, was ihr auffiel, waren seine grünen Augen. Da man bei seinem dunklen Teint eher braune Augen erwartet hätte, war das sowohl überraschend als auch sehr anziehend. Anna rief sich gedanklich zur Ordnung. Was machte sie denn da? Sie war nicht gekommen, um deutsche Männer zu analysieren – am wenigsten den einen, dem sie eine entscheidende Frage stellen musste.

Die er zweifellos albern finden würde.

Anna blickte zur Seite. Was für ein Glück, dass er keine Gedanken lesen konnte. Hoffte sie zumindest. Er bedeutete ihr, ihm zu folgen.

Wenigstens konnte er Englisch. »Sie sind aus den Staaten gekommen, habe ich gehört?«

»Ja. Ich bin gestern in Deutschland gelandet und heute Morgen von Siegel hierhergekommen.«

Wil Jager blieb vor einem der Korridore stehen, die vom Empfangsbereich abgingen. Sein Rücken war ihr zugekehrt, und er fuhr sich mit der Hand über den Kiefer, ehe er sich zu ihr umwandte. »Aus Siegel?«

»Ja.«

»Oh.«

»Ja«, sagte Anna. »Deswegen wollte ich mit Ihnen sprechen.« Den ganzen Vormittag hatte sie überlegt, wie sie es angehen sollte. Nun schien ihr der direkte Weg der beste.

Wil setzte sich wieder in Bewegung. Am Ende des luftigen Korridors öffnete er die Tür zur Rechten und hielt sie für Anna offen. Anna war versucht, die Aussicht durch die riesigen deckenhohen Fenster am Flurende zu bewundern, wollte aber nicht allzu hingerissen wirken. Außerdem war sie sich bewusst, dass es keine Sekunde seiner kostspieligen Anwaltszeit zu verschwenden gab.

»Kommen Sie rein«, sagte Wil, klang nun aber eher wachsam.

Auch Wils Büro war an zwei Seiten verglast. Mehrere Kräne ragten über die Stadt, und die Aussicht auf das wiederaufgebaute Berliner Schloss sowie auf die alten kaiserlichen Bauten war atemberaubend. Nur mit Mühe konnte Anna sich von dem Anblick losreißen; sie musste sich auf Wil konzentrieren.

Er stand direkt hinter ihr, und als sie sich umdrehte, wäre sie beinahe gegen ihn geprallt. »Verzeihung«, sagte sie. »Aber die Aussicht …«

»Ich weiß.« Er betrachtete sie mit einem leichten Stirnrunzeln, schien sich dann allerdings zu besinnen und bat sie, Platz zu nehmen.

»Wie kann ich Ihnen helfen?«, fragte er.

»Tja, wahrscheinlich wird sich das in Ihren Ohren etwas merkwürdig anhören.«

»Bitte fahren Sie fort.«

»Okay.« Anna setzte sich anders hin.

Wils Mund verzog sich zu etwas, was einem halben Lächeln nahekam. Er schien die Überraschung, die er bei der Erwähnung von Siegel gezeigt hatte, überwunden zu haben.

Anna beschloss, das als Ermunterung zu betrachten. »Schloss Siegel gehörte einst der Familie meines Großvaters. Er heißt Max Albrecht.«

Wil lehnte sich zurück. Er kniff die Augen zusammen, das Lächeln erstarb auf seinen Lippen. »Tatsächlich«, sagte er tonlos.

Anna fuhr fort. »Ich habe gehört, dass Sie die neuen Besitzer juristisch vertreten.«

Stille.

»Okay.« Anna räusperte sich. Warum war das bloß so schwer? Warum reagierte jeder auf diese Enthüllung mit Reserviertheit? Nun, sie dachte ja nicht daran, sich beirren zu lassen. »Jedenfalls hat mein Großvater mich gebeten, nach Siegel zu reisen, weil er etwas im Schloss gelassen hat. Im Jahr 1940 schon. Natürlich ist das sehr lange her.« Sie hörte sich völlig irre an. »Er möchte – er muss es zurückhaben. Möglichst bald.«

»1940?«

»Ja.«

Wil zog die Brauen hoch.

»Und ich habe mich gefragt, ob die neuen Besitzer mich wohl hineinlassen würden, damit ich es holen kann. Ich brauche bestimmt nicht lange.«

Wil schüttelte den Kopf und schien sich ein Grinsen verkneifen zu müssen. Doch dann wurde er wieder ernst. »Die Besitzer werden Sie nicht einlassen. Und ich würde ihnen auch davon abraten.«

Darauf war Anna vorbereitet. »Mein Großvater ist vierundneunzig. Es bedeutet ihm sehr viel. Er verlangt nichts, was seinen ehemaligen Besitz angeht – die Vergangenheit soll man ruhen lassen –, er hat lediglich diesen einen Wunsch.«

Wieder schüttelte Wil den Kopf. »Wollen Sie mir sagen, dass Sie nur deswegen hergekommen sind?«

Anna hielt seinem Blick stand. »Max will dieses … Erinnerungsstück haben.«

»Das habe ich verstanden«, sagte Wil. »Aber ich bin hundertprozentig sicher, dass mein Mandant Sie nicht ins Schloss lassen wird. Tut mir leid. Ich kann Ihnen nicht helfen.«

»Könnte mich nicht jemand begleiten, während ich im Schloss bin?«

Wil lachte leise.

Ärger stieg in Anna auf, doch sie schwieg und wartete auf seine Antwort.

»Das ist zu gefährlich. Das Schloss ist baufällig. Es steht schon lange leer.« Er beugte sich vor, legte die Hände übereinander auf den Tisch und sah Anna an, als erwarte er Widerspruch.

»Okay. Und wie kann ich dann diesen … Gegenstand für meinen Großvater zurückbekommen?« Anna gab sich Mühe, ganz ruhig zu sprechen.

»Ich denke nicht, dass Sie es können.«

Anna musste ein verärgertes Lachen unterdrücken. »Geben Sie mir doch bitte den Namen Ihres Mandanten, dann kann ich mich direkt mit ihm in Verbindung setzen.« Vielleicht waren die Leute von diesem Unternehmen zugänglicher als ihr Anwalt. Sie konnte es nur hoffen. Sicher würden sie begreifen, dass es Anna lediglich um den Wunsch eines alten Mannes ging; darüber hinaus wollte sie ja nichts von ihnen.

»Ich darf keine Daten über Mandanten herausgeben, Miss Young.«

»Anna. Sind Sie der einzige Anwalt, der die Interessen dieses Mandanten vertritt?« Vielleicht war jemand mit mehr Dienstjahren bereit, ihr zu helfen.

»Diese Mandanten vertrete ich allein.« Wil blickte auf seine Armbanduhr.

»Aber das, was sich noch im Schloss befindet, gehörte meinem Großvater. Diese Tatsache können Sie doch nicht einfach so übergehen.«

Wil regte sich immer noch nicht. »Mag ja sein, dass es ihm einst gehört hat. Jetzt allerdings nicht mehr.«

»Aber wenn es doch noch dort liegt und niemand bisher Anspruch darauf erhoben hat …« Anna brach ab. Sie durfte nicht die Fassung verlieren, wenn sie bei ihm etwas erreichen wollte. Er musste ihre Bitte ernst nehmen.

Wils Augen funkelten plötzlich – oder bildete sie sich das bloß ein? »Ich frage mich, was Ihr Großvater sich dabei gedacht hat.«

»Er hat mich noch nie zuvor um etwas gebeten, aber diesmal …« Sie brach ab. Sie wollte nicht zu viel von Max preisgeben. Der Mann vor ihr war Experte darin, Leute zum Reden zu bringen. Was immer sie ihm erzählte, würde er in einer Akte vermerken und gegen Max verwenden, falls ihr Großvater sich entschließen würde, ihm zu schreiben und auf seinem Wunsch zu bestehen. Anna musste genau aufpassen, was sie ihm sagte. Unwillkürlich rieb sie sich die Stirn.

Anna wollte sich mit diesen Problemen nicht auseinandersetzen – und es waren im Grunde auch nicht ihre –, doch hier ging es um ihren geliebten Großvater, und sie würde nicht wieder heimreisen, ohne einen Erfolg vorweisen zu können.

Wil stand auf. »Tut mir leid, aber es geht nicht. Und das muss Ihnen auch vorher klar gewesen sein.«

Anna stand ebenfalls auf, als plötzlich ihr Telefon klingelte. Auf dem Bildschirm erschien Cass’ Nummer. Sie ließ den Anruf auf den Anrufbeantworter gehen, doch irgendetwas war seltsam. In San Francisco war es noch sehr früh. Anna war manchmal schon in den ersten Morgenstunden im Café, um beim Backen zu helfen, aber Cass …

Sie konzentrierte sich wieder auf den Anwalt. »Können Sie dann wenigstens Ihre Mandanten anrufen und sie um Erlaubnis fragen? Es ist ja ihr Anwesen, also auch ihre Entscheidung. Wenn sie erfahren, dass es sich um ein Familienmitglied der ehemaligen Besitzer handelt, sind sie vielleicht gar nicht so abgeneigt.«

Das Telefon klingelte wieder. Anna blickte aufs Display, ihr Finger schwebte über der »Annehmen«-Taste.

»Da muss Sie jemand dringend sprechen«, sagte Wil.

Anna schüttelte den Kopf.

»Bitte. Gehen Sie ruhig dran.«

»Es dauert nicht lange.«

Anna nahm den Anruf entgegen und bewegte sich von Wil weg zum Fenster.

»Anna …«, sagte Cass.

Anna saß auf dem Stuhl Wils Schreibtisch gegenüber und fühlte sich wie betäubt. Sie wusste, dass sie sich in einem Schockzustand befand. Ihr schwirrte der Kopf. Max war doch immer so gesund gewesen – wieso musste das ausgerechnet dann passieren, wenn sie fort war? Dann stieg Ärger in ihr auf – Ärger auf Max und sich selbst. Warum hatte er sie weggeschickt? Und warum hatte sie sich bloß auf seinen hanebüchenen Plan eingelassen, ohne darüber nachzudenken, was es bedeuten konnte, wenn sie ihn allein ließ?

Plötzlich musste Anna gegen die Tränen ankämpfen. Sie konnte es selbst kaum glauben. Seit Jahren hatte sie nicht mehr geweint. Im Gegenteil: Sie war stolz darauf, dass sie ihre Emotionen immer unter Kontrolle hatte. Was würde dieser angebrühte Anwalt von ihr denken? Sie bedeckte ihre Augen mit einer Hand und atmete tief durch.

Sobald Cass ihr erzählt hatte, dass Max im Krankenhaus war, hatte Anna sofort an einen Herzinfarkt oder Schlaganfall gedacht. Erst nach einigen Augenblicken konnte sie verarbeiten, dass Max in der Küche gestürzt war, während er sich etwas zu essen gemacht hatte. Normalerweise schaute Anna zu dieser Tageszeit immer bei ihm vorbei. Wieso hatte sie nicht dafür gesorgt, dass jemand anderes sie vertrat, während sie fort war? Wie war sie nur auf die Idee gekommen, dass ein Vierundneunzigjähriger allein zurechtkommen könnte, während sie durch Europa reiste? Natürlich hatte sie so viele Vorräte für ihn gekauft, dass er wochenlang davon leben konnte, und außerdem einen Lieferdienst beauftragt, regelmäßig frisches Obst und Gemüse zu bringen, aber dennoch. Wil Jager hatte recht. Sie hatte sich auf eine verrückte Idee eingelassen, die niemandem etwas bringen würde. Und jetzt war ihr Großvater im Krankenhaus.

»Alles in Ordnung?«

Anna machte sich bewusst, dass Wil vor ihr an seinem Tisch lehnte. Sie hörte seine Stimme, doch der Raum drehte sich, und sie sah nur verschwommen.

»Tut mir leid«, brachte sie hervor.

»Bleiben Sie sitzen. Bin gleich wieder da.«

Anna lehnte sich zurück. Ihr war schwummrig. Was für Folgen hatte es, wenn man sich mit vierundneunzig die Schulter brach? Laut Cass waren die Ärzte sich nicht sicher, ob man ihn würde operieren müssen, und versuchten sich noch ein Bild von der Situation zu machen, und sobald die Schmerzmittel wirkten, konnte man eine Computertomografie machen. Welche Risiken würde eine Operation mit sich bringen?

»Versuchen Sie sich zu entspannen. Atmen Sie gleichmäßig.« Wil war mit einem Glas Wasser zurückgekehrt.

»Danke. Alles okay.« Sie nippte an dem Wasser, aber der Schwindel wollte nicht nachlassen.

»Vielleicht hilft das hier. Unser Küchenpersonal dachte …« Wil brach verlegen ab und reichte ihr ein kleines warmes Handtuch.

»Oh. Vielen Dank.« Anna hielt sich das Handtuch vors Gesicht. Es duftete nach etwas Vertrautem – Eau de Cologne. Max hatte es immer ihrer Großmutter gekauft.

Anna verdrängte den Gedanken und blickte zu dem Mann vor ihr auf. Sie musste sich beruhigen. Sie war immer stolz darauf gewesen, ihr Leben im Griff zu haben, aber im Augenblick geriet offenbar alles außer Kontrolle. Deutschland schien ihr zuzusetzen. Das durfte sie nicht zulassen.

»Mein Großvater hat einen Unfall gehabt. Er liegt im Krankenhaus. Ich sollte jetzt bei ihm sein, das ist alles.« Anna legte das Handtuch in ihren Schoß.

»Das tut mir leid.« Sie konnte seinen Blick spüren. »Ist es schlimm?«

»Er hat sich die Schulter gebrochen. Vielleicht muss man ihn operieren. Aber mit vierundneunzig …«

Wil schwieg einen Moment lang. Als er wieder sprach, war seine Stimme sanft. »Hier, das habe ich Ihnen auch mitgebracht. Manchmal hilft das.«

Anna sah auf. Wil hatte eine kleine weiße Schachtel in der Hand. Er nahm den Deckel ab und hielt sie ihr hin, und Anna sah eine Auswahl an ungeheuer appetitlich aussehenden Pralinen darin.

»Eine Mandantin stellt sie her. Sie ist vor Kurzem nach Berlin gezogen und beliefert uns nun regelmäßig. Sie sind ziemlich gut. Wenn Sie eine wollen …«

Anna griff in die Schachtel und brachte ein Lächeln zustande. »Danke.« Trotz ihrer Benommenheit war sie plötzlich neugierig auf diese deutsche Schokolade, und überrascht stellte sie fest, dass sie Deutschland gegenüber eine gewisse Loyalität empfand. Begann sie, sich im Land ihrer Vorfahren heimisch zu fühlen? Dumm nur, dass sie sich gleichzeitig hoffnungslos ausgeschlossen vorkam. Sie steckte die Praline in den Mund und genoss den zarten Schmelz auf ihrer Zunge.

»Diese kleine Szene dürfte mich ein Vermögen kosten«, murmelte sie mit einem selbstironischen Lachen.

»Ohnmacht berechne ich nicht. Die Schokolade auch nicht.« Wieder funkelten seine Augen.

Anna war erneut in ihrer Entschlossenheit bestärkt. Noch gab sie nicht auf. »Ich weiß, dass Max’ Bitte verrückt ist, aber meinen Sie nicht, dass es irgendeine Möglichkeit gibt, ihm zu helfen? Sehen Sie, in seinem Alter …«

Wil nahm einen goldenen Kugelschreiber vom Tisch und begann, ihn so schnell zwischen den Fingern herumzuwirbeln, dass die Umrisse verschwammen.

Anna musste lachen. »Davon wird einem ja schwindelig.«

»Tut mir leid. Es hilft mir beim Denken.«

Also dachte er darüber nach. Anna hielt den Mund.

»Sie könnten sich auch eine Taschenlampe nehmen und einbrechen«, sagte er schließlich.

»Stimmt. Ich wollte schon immer mal in einem fremden Land verhaftet werden.« Anna fand langsam zu ihrer gewohnten Form zurück. »Wahrscheinlich würde ich mich schon im Stacheldraht verheddern.«

Wil zog die Brauen hoch. »Was ist es eigentlich, was ihr Großvater so unbedingt zurückhaben will? Nicht, dass ich meine, es bestünde eine Chance für Sie, aber ich bin neugierig.«

Anna hielt ihm die Pralinenschachtel hin, und Wil nahm sich eine. Sie überlegte. Wenn sie wollte, dass er ihr half, wäre es vielleicht klug, ihn einzuweihen. Er war vermutlich an eine Art von Vertraulichkeitsklausel gebunden – hieß es nicht immer, dass Anwälte verschwiegen sein mussten? Hauptsache, er gab nichts an seine Mandanten weiter.

»Anna?«

»Ich denke nach.«

»Sie können mir vertrauen«, erklärte er. »Was immer in diesem Raum gesagt wird, bleibt auch hier, bitte glauben Sie mir.«

»Na gut«, sagte sie schließlich. »Max hat mich gebeten, einen Verlobungsring zu holen … er hat ihn der betreffenden Person nie gegeben. Es muss 1940 gewesen sein. Er meinte zu mir, dass er nie etwas schlimmer bereut hat, und nun möchte er den Ring wiederhaben. So.«

»Sie machen Witze.«

Anna schüttelte den Kopf.

Wil kehrte zu seinem Tisch zurück und setzte sich. »Okay. Und wissen Sie, wo genau dieser Ring sein soll?«

»In seinem ehemaligen Zimmer. Ich habe einen Grundriss des Gebäudes und weiß, welches Zimmer seins gewesen ist. Ich finde mich blitzschnell zurecht, wenn Sie mich einlassen.«

Er sah zu ihr auf, und Anna schlug die Augen nieder. Sie hatte keine Ahnung, wieso, aber sie hatte das Bedürfnis, seinem Blick auszuweichen, wann immer er ihrem begegnete. Es musste an dem Schock über die Nachricht von Max’ Unfall liegen; sie war im Moment einfach empfindlicher.

»Ich nehme an, dass das Versteck absolut sicher ist.«

»Max hofft es jedenfalls.«

»Hm.«

Anna biss sich auf die Lippe. Der köstliche Geschmack der Schokolade wirkte auf ihrer Zunge nach. »Besteht vielleicht eine geringe Chance, dass Sie mich doch hineinlassen?«

Wil neigte den Kopf. »Ich bin einmal im Schloss gewesen. Nur einmal.«

»Die Bürgermeisterin hat es mir erzählt.«

Wil sagte nichts.

»Und wie war es?«

»Atemberaubend«, sagte er und stellte den goldenen Kugelschreiber in den Halter zurück. »Wunderschön. Unverdorben – was es wohl besser trifft. Obwohl es ist, wie es ist.«

»Und das alles zurücklassen zu müssen … das muss man sich einmal vorstellen!«

»Ja. Das muss man sich einmal vorstellen.« Wil tippte etwas in seinen Computer ein.

»Ich würde furchtbar gerne einen Blick in das Schloss werfen – Ring oder nicht«, setzte Anna erneut an. »Bis vergangene Woche habe ich von seiner Existenz nicht einmal gewusst.«

Wil sah auf. »Ihr Großvater hat Ihnen nie von Siegel erzählt?«

Anna schüttelte den Kopf.

Er lehnte sich zurück und betrachtete sie abermals. »Ihre Vorfahren waren preußische Großgrundbesitzer – niemand dort besaß mehr Land als sie. Sie horteten Kunstschätze, finanzierten Kriege – europäische Feldzüge wie die Napoleonischen Kriege. Sie waren Bankiers. Gemälde, die Ihrer Familie gehörten, landeten nach der sowjetischen Besatzung in bedeutenden Museen auf der ganzen Welt. Ihr Großvater muss einem sehr luxuriösen Leben entgegenblickt haben, bis …«

Anna sog scharf die Luft ein. »Vielleicht ist es dann nur verständlich, dass er nie darüber hat sprechen wollen. Wenn er so viel verloren hat …«

Wil sagte nichts darauf.

»Haben Sie den Schlüssel noch?«, fragte sie.

Wil blickte wieder auf seinen Bildschirm. »Ich schaue nur gerade nach den nächsten Terminen.«

Anna schwieg. Das war kein guter Moment, um ihn weiter zu drängen.

»Hören Sie, Anna, ich kann selbst kaum glauben, dass ich das jetzt sage, und um ehrlich zu sein, habe ich keine Ahnung, warum ich es tue, aber ich könnte meine Termine umlegen und morgen früh mit Ihnen nach Siegel fahren. Ich lasse Sie rein. Und wenn wir diesen Ring finden und sofort wieder verschwinden, muss der Besitzer vielleicht gar nicht wissen, dass wir dort waren. Sie müssen mir allerdings versprechen, niemandem etwas zu verraten. Und ich mache so was normalerweise nicht, bloß dass wir uns richtig verstehen.«

»Okay«, sagte sie. »Das wäre … sehr gut.« Sehr gut? Ein Glück, dass Englisch nicht seine Muttersprache war.

Aber er ließ es dennoch nicht durchgehen. »Sehr gut?«, sagte er mit einem Lächeln.

»Sagen Sie mir nur, wann und wo. Und das ist ganz großartig«, fügte sie hinzu. »Wirklich. Vielen, vielen Dank.«

»Dann treffen wir uns morgen um neun hier in meinem Büro. Passt Ihnen das?«

»Natürlich.« Anna stand auf. Mit einem Mal fühlte sie sich schon viel besser. Ihre Neuigkeiten würden den armen Max bestimmt aufmuntern. Vielleicht würde ihm der Ring die Kraft verleihen, schnell wieder gesund zu werden.

Genfer See, 1934

Hätte man Isabelle vorher prophezeit, dass sie sich am Genfer See so fühlen würde, wie sie sie sich jetzt fühlte, hätte sie bloß gelacht. Doch hier im Gras an einem kleinen, abgelegenen Strandstück und mit Blick auf das Wasser, von dem ein magisches Leuchten ausging, das bloß in der Nachmittagssonne – und ganz offenbar lediglich in der Schweiz – zu sehen war, wusste sie, dass jede Gegenwehr sinnlos war. Warum sich gegen Perfektion sträuben? Und wieso hatte sie je aufgehört, darauf zu hoffen?

Die Freundschaft zu Virginia Brooke war durch eine derart wohlwollende Zuneigung geprägt, wie Isabelle sie noch nie erfahren hatte. Isabelle wusste, dass Virginia sie verstand. Virginia war lustig, unverblümt und ganz und gar sie selbst. Sie verstellte sich nicht. Sie hatte kein Geheimnis daraus gemacht, dass sie sich dem Dasein zu entziehen versuchte, das ihre Familie für sie im Sinn hatte, weswegen sie mit dem Erbe, das ihr Großvater ihr hinterlassen hatte, auf Reisen gegangen war.

Virginia ermunterte auch Isabelle, sie selbst zu sein. Die beiden Mädchen waren praktisch jeden Tag zusammen, wenn auch meist in einer großen Gruppe, die nicht nur aus Max und seinen Geschwistern bestand, sondern auch aus anderen jungen Leuten, die ihren Urlaub im Hotel verbrachten.

Virginia schaffte es immer, Isabelle zum Lachen zu bringen. Wie Max schien sie zu spüren, wenn Isabelle sich zurückzuziehen und in Grübelei zu versinken drohte, wie sie es in Paris so oft getan hatte. In welche Richtung entwickelte ihr Leben sich? Und würde sie je von der Gesellschaft akzeptiert werden, sie, die Enkelin einer der berühmtesten Halbweltdamen von Paris … die Enkelin einer Prostituierten?

Virginia schien sich rein gar nichts aus solchen Dingen zu machen. Als Isabelle eines Abends ihrer Freundin endlich die Wahrheit über Marthe erzählt hatte, hatte Virginia sie bloß einen Moment lang ausdruckslos angesehen und dann zu lachen begonnen. Schließlich hatte sie sich entschuldigt; sie habe geglaubt, es würde sich um etwas weit Schlimmeres handeln als das.

Danach hatte sich Isabelle in Virginias Gegenwart sogar noch wohler gefühlt. Mit der Amerikanerin konnte sie über alles reden – Politik, Mode, Männer, Paris, Kunst, ihre Zukunft … und ihre sich entwickelnden Gefühle für Max.

Trotzdem hing diese eine Frage über ihrem Kopf wie ein Damoklesschwert. Was würde geschehen, wenn sie auch Max gestand, was ihre Großmutter einst gewesen war?

Er stammte aus altem Adel.

In solchen Kreisen würde man wohl kaum die Enkelin einer Kurtisane willkommen heißen.

Und nun war es fast so weit, dass Max abreisen musste. Dass Isabelle abreisen musste. Dass dieser schöne Traum ein Ende hatte.

Der einzige Trost war, dass Virginia mit nach Paris reisen und bei ihnen bleiben würde. Sie war bereits jetzt vollkommen aus dem Häuschen, den Herbst in der romantischsten Stadt der Welt verbringen zu dürfen.

Der Gedanke, sich von Max trennen zu müssen, schlug Isabelle auf den Magen und drohte die letzten Tage mit ihm zu verderben. Im Augenblick lag er ausgestreckt neben ihr auf der Picknickdecke, die das Hotel ihnen für ihren letzten Ausflug mitgegeben hatte. Er hatte sich auf einen Ellenbogen gestützt und beobachtete träge seine beiden Brüder Didi und Jo, die am Ufer angelten. Sein Strohhut saß verwegen schräg auf seinem Kopf.

Als er Isabelle zum ersten Mal geküsst hatte, hatte sie geglaubt, vor Wonne sterben zu müssen. Erst hatten sie auf der Terrasse getanzt, danach waren sie zum Ufer hinuntergeschlendert. Max’ Finger hatten sich in ihre geschoben, und es war ihr richtig und vollkommen natürlich vorgekommen.

Es war einer dieser verträumten Abende gewesen, an dem das Rosarot des Sonnenuntergangs mit unendlicher Langsamkeit in eine samtige mondhelle Nacht voller Versprechen und Geheimnisse übergegangen war. Max hatte angehalten, sich ihr zugewendet und sanft ihr Kinn umfasst. Als seine Lippen die ihren berührt hatten, waren die Gefühle, die in ihr glommen, seit sie zum ersten Mal mit ihm gesprochen hatte, zu einer wahren Feuersbrunst entflammt, der sie nichts entgegenzusetzen hatte. Es war so wunderschön gewesen, und eines stand fest: In diesem Augenblick hatte nichts auf dieser Welt gezählt.

Seitdem hatte Isabelle mit sich selbst gekämpft. Sie hatte alles gegeben, um sich vorzumachen, dass alles gut werden und sie keinerlei Schwierigkeiten haben würde, in Paris ihr altes Leben fortzusetzen. Doch irgendwann hatte sie aufgegeben. Ihre Gefühle für Max waren nichts, was sich leugnen ließ.

Marthe wusste, dass Isabelle und Max sich angefreundet hatten, aber Isabelle hatte ihrer Großmutter noch nicht anvertraut, dass sie verliebt war. Männer hatten für Marthe hauptsächlich einen praktischen Nutzen, und obwohl sie männliche Gesellschaft der weiblichen stets vorgezogen hatte, war Isabelle sich ziemlich sicher, dass sie sich keinem je wirklich geöffnet oder offenbart hatte – und ganz bestimmt hätte sie sich niemals zugestanden, sich dem Rausch der Liebe hinzugeben.

Auch wenn Isabelle ihrer Großmutter verständlich zu machen versuchte, dass sie wenig von Marthes früherer Freizügigkeit besaß, rückte Marthe nicht von ihrer Ermahnung ab, um jeden Preis unabhängig zu bleiben. Um Geld musste Isabelle sich keine Sorgen machen; sie würde die kostbar ausgestattete Wohnung in Paris sowie Marthes stattliche Schmuckkollektion erben. Schon jetzt würden die Geschenke von Marthes Stammkunden – unter ihnen einige der mächtigsten Männer im Europa jener Zeit – ein kleines Vermögen einbringen, doch ihr Wert würde noch steigen. Ja, Marthe hieß Isabelles Streifzüge in die Männerwelt gut, aber sie hatte ihrer Enkelin auch immer geraten, einen kühlen Kopf zu bewahren und sich nicht hoffnungslos zu verlieben.

Tja, nur war genau das jetzt geschehen.

Isabelle liebte Marthes Charakterstärke und ihren unabhängigen Geist – o ja, das tat sie. Bloß wie sollte sie ihr ihre Gefühle für Max erklären? Ganz abgesehen von der Frage, wie sie Max veranschaulichen sollte, worauf sich Marthes Reichtum gründete?

Isabelle setzte sich auf und seufzte. Ihre Hand rutschte aus seiner. Auch er setzte sich auf und sah sie stirnrunzelnd an.

»Was ist los?«

Isabelle schloss die Augen. Manchmal fragte sie sich, ob er bereits wusste, was sie dachte, bevor sie es selbst begriff.

»Nichts«, gab sie zurück.

Aber Max ließ sich nicht täuschen.

»Komm schon. Sag’s mir.«

Isabelle stand auf und wanderte zum Wasser hinunter. Virginia lehnte an einem Felsen und las einen Roman von irgendeinem amerikanischen Autor – einer, der zu der Avantgarde gehörte, die neuerdings das Rive Gauche mit Beschlag belegten. Marthe machte sich gerne über sie und ihr Bestreben lustig, im Elend zu leben und sich dabei als Intellektuelle auszugeben. Isabelles Großmutter trauerte ihrer eigenen Ära der Jahrhundertwende und der Zeit davor nach, als Paris voller Glanz und Dramatik und Montmartre das Zentrum der Stadt gewesen war – als Tanzlokale, Theater und Varietés den Ton angaben. Sie trauerte einer Zeit nach, in der an jeder Ecke Plakate mit den demi-mondaines – jener Pariser Halbweltdamen – hingen, in der alles in der Stadt modern und aufregend war und die Möglichkeiten endlos zu sein schienen, bis der Krieg alles zerstörte, bis die Titanic sank, bis alles, woran Marthe und ihre Generation geglaubt hatten, plötzlich auf den Kopf gestellt wurde.

Max hatte Isabelle von seinem Leben erzählt – sein Leben in Deutschland, das so vollkommen anders zu sein schien als die Welt aus Marthes Erzählungen. Der Gedanke an Max’ Heimat kam Isabelle ungeheuer reizvoll vor, und kaum wagte sie, sich ihre Hoffnung einzugestehen, eines Tages vielleicht Teil davon sein zu können. Er hatte von Winternachmittagen mit Tee, frisch gebackenem Roggenbrot und Marmelade gesprochen, von Apfelkuchen in der Bibliothek von Schloss Siegel mit seinem Vater, den er Vati nannte, von den Gesprächen mit seiner Mutter in ihrem Schreibzimmer mit dem Ausblick auf den See und den Park dahinter. Er beschrieb, wie er mit Didi und Jo und seinen Vettern Billard spielte, wie sie sich Schneeballschlachten lieferten, wie sie nachts im Park am Lagerfeuer saßen oder im stillen, verschneiten Wald Schlitten fuhren; er beschrieb die Bälle im großen Salon, bei denen die Gäste zu Strauss und Schubert tanzten, die Ausritte von den alten Ställen aus, in denen die Kutschen der Familie standen, den Jahrmarkt im Dorf und den zugefrorenen See, auf dem sie immer Schlittschuh liefen. Isabelle konnte kaum glauben, dass es sich nicht nur um ein Märchen handelte.

Und Max hatte ihr auch von seiner Arbeit erzählt – er lernte, das Gut zu verwalten, mit den Dorfbewohnern zu arbeiten, sich um seine Familie und die Geschäfte zu kümmern und das Anwesen in Schuss zu halten –

sowie von seinem Traum, eines Tages eine eigene Familie zu gründen und mit ihr in einem Land zu leben, das nicht nur mit sich selbst im Reinen war, sondern auch mit seinen Nachbarn. Isabelle konnte bloß staunend zuhören. Für sie klang das alles fast zu schön, um wahr zu sein.

Aber bisher hatte Max auch immer annehmen können, dass alles blieb, wie es war – dass die Traditionen sich fortsetzen würden, wie sie seit Jahrhunderten bestanden, auch wenn der letzte Krieg viele Verluste mit sich gebracht hatte. Nun jedoch war alles, was ihm lieb war, bedroht.

»Sollen wir ein Stück gehen?«, fragte Max.

Er stand auf und klopfte sich seine helle Hose ab. Ausnahmsweise steckte sein Hemd nicht ordentlich im Bund.

Isabelle rief Virginia zu, dass sie nicht weit gehen würden. Didis und Jos Johlen hallte über den See. Nadja war mit Sascha zu einem Einkaufsbummel unterwegs.

Max war still, als sie die felsige Bucht entlangschlenderten, die eine Biegung machte, sodass sie bald außer Sicht waren. Er hielt vor den großen flachen Steinen an, hinter denen eine Felswand steil aufragte. Hier konnte sie garantiert niemand belauschen. Isabelle bückte sich, um einen ungewöhnlich geformten Stein aufzuheben.

Max wartete, bis sie sich wieder aufgerichtet hatte, und drehte sie zu sich. »Was ist los?«, fragte er.

Isabelle zögerte. Es war nicht der richtige Zeitpunkt, um ihm von Marthe zu erzählen.

»Machst du dir Sorgen um die Zukunft?«, hakte er nach. »Über das, was passieren wird, wenn der Sommer vorbei ist?«

Isabelle schlang die Arme um sich.

»Wir müssen uns überlegen, wie und wo wir uns wiedersehen können«, sagte Max und strich ihr eine Haarsträhne hinters Ohr.

Isabelle seufzte. Sie lebte nur noch für die Augenblicke, die sie mit Max zusammen sein konnte. Wann immer sie bei ihm war und mit ihm sprach, fühlte sie sich lebendiger denn je.

»Wir müssen unbedingt mit deiner Großmutter sprechen. Aber dazu sollten wir uns vorher einen Plan zurechtlegen«, fuhr Max fort. »Ich habe überlegt, ob du und Virginia vielleicht … Denkst du, deine Großmutter könnte dieses Jahr zu Weihnachten auf euch verzichten? Ich werde dann nicht viel zu tun haben, und das Schloss ist traumhaft im Winter. Die ganze Familie wird zusammenkommen.«

»Ich frage sie auf jeden Fall, und ich glaube, dass Virginia sich auch freuen würde, falls ich sie aus Paris herauslocken kann. Für sie ist Paris der Inbegriff von Spaß, Spannung und Zerstreuung. Was mir nicht viel bedeutet.«

»Ich weiß.« Er umfasste sanft ihr Kinn.

Isabelle reckte sich ihm entgegen.

»Ich will nicht, dass du dir Sorgen machst.« Seine Stimme war kaum mehr als ein Murmeln, aber Isabelle verstand jedes Wort. »Lass uns Weihnachten planen.«

Nach einer Weile trat er ans Wasser, nahm einen flachen Stein und ließ ihn über die Wasseroberfläche springen.

Isabelle blieb, wo sie war.

Max stand einen Moment lang am Ufer und blickte auf den reglosen See hinaus. »Ich kann nur hoffen, dass das nicht das letzte Weihnachten sein wird, das wir so verbringen, wie wir es gewohnt waren – auf Siegel.«

»Bestimmt nicht«, sagte Isabelle entrüstet. »So schlimm kann es doch nicht sein. Oder?«

»Meine Eltern wollen, dass ich … mich verpflichte.« Max machte eine finstere Miene. Er hielt sich so stolz, so würdevoll. Isabelle mochte sich nicht vorstellen, dass er für die NSDAP kämpfen müssen würde. Sie mochte sich überhaupt keinen weiteren Krieg vorstellen. Max war ein aufrechter junger Mann, der das Richtige tun wollte und für seine Überzeugung eintrat, und das war etwas, was Isabelle an ihm bewunderte.

»Ich weiß«, sagte sie und stellte sich neben ihn. Die Ruhe und die Klarheit des Wassers wirkten wie Hohn angesichts der Tatsache, dass sie sich von dem Mann trennen musste, den sie liebte. Da! Sie hatte sich selbst gegenüber ihre Gefühle eingestanden.

»Die Lage ist nicht so eindeutig, wie man meinen könnte. Denk nur an die Millionen Deutschen, die vergangenes Jahr arbeitslos waren. Die Nationalsozialisten schaffen Arbeitsplätze, und wer eine feste Anstellung hat, hat auch einen Grund, hoffnungsvoller in die Zukunft zu sehen. Die NSDAP tut mehr, als die Weimarer Republik getan hat, und sie erzielt Resultate.«

Isabelles Mund wurde trocken. »Aber ihr Vorgehen …«

Max klang sachlich, als er fortfuhr. »Wir haben drei große Probleme in Deutschland. Erstens: die alleinige Kriegsschuld. Zweitens: die enormen Reparationszahlungen, die wir leisten müssen. Und drittens: die militärischen Beschränkungen, die der Versailler Vertrag uns aufgezwungen hat. Wir brauchen eine Regierung, die diese Dinge angeht.«

»Wie schlimm ist es denn?« Isabelle spürte, dass sich in diesem Moment etwas veränderte. Die Beziehung zwischen Max und ihr schien hier und jetzt, am Ufer des Sees, zu reifen und eine neue Ebene zu erreichen.

Max schüttelte langsam den Kopf. »Nachdem der Kaiser geflohen war, ging es den Menschen miserabel. Dass die neue Regierung den Waffenstillstand unterzeichnet hat, hat ihr viel Zorn und Ablehnung eingebracht. Es gab gewalttätige Aufstände, Attentate auf Politiker – unter anderem auf unseren Außenminister –, einen Generalstreik, Inflation, die wachsende Bedrohung durch Kommunisten.«

Isabelle nickte. Inzwischen waren Proteste allerdings verboten …

»Was deine Frage angeht, wie schlimm es ist«, fuhr Max fort. »Ein Freund von mir aus dem Dorf hat das Land verlassen, weil er hier keine Arbeit gefunden hat, und wir wissen nicht, ob er jemals zurückkehren kann. Ein anderer Freund der Familie, ein Mann in den Vierzigern, konnte seine vier Kinder nicht mehr ernähren, nachdem er seine Stelle in einem Nachbarort verloren hatte. Erst als alle seine Ersparnisse weg waren und er befürchtete, dass seine Kinder verhungern würden, bat er uns um Hilfe. Wo soll das alles enden? Millionen Menschen, die um ihre Existenz bangen müssen? Ich bin in der Lage, etwas zu ändern, Isabelle, ich kann nicht einfach tatenlos zusehen. Kannst du das verstehen?«

»Natürlich.« Etwas Schweres senkte sich auf ihre Brust.

Max schwieg einen Moment, ehe er erneut ansetzte. »Ich muss an etwas glauben können. Meine Eltern haben recht. Ich habe eine Verantwortung – meiner Familie, unserem Dorf, Deutschland gegenüber. Wenn die NSDAP das einzige Mittel bedeutet, meinem Land wieder Hoffnung zu geben und meinen Leuten eine sichere Zukunft zu ermöglichen, dann kann ich mich doch nicht weigern!«

Isabelle verschränkte die Arme vor der Brust. Er hatte recht. Er musste etwas tun, musste Haltung beweisen. Aber …

Max fuhr mit leiser, eindringlicher Stimme fort. Wenn der Nachmittag nicht so still gewesen wäre, hätte die kleinste Brise seine Worte weggetragen. »Hitler hat versprochen, dass die unsicheren Jahre vorbei sind und mit ihm ein Reich errichtet werde, das tausend Jahre währt. Er hat eine allgemeine Gesundheitsversorgung versprochen, staatlich geförderte Schulen, Partnerschaften zwischen Regierung und Wirtschaft, und er will Geld in die Sozialfürsorge, die Industrie und das Militär stecken. Er will keinen Krieg. Es wird nur einen geben, wenn die Kommunisten Streit anfangen. Er behauptet, dass er unser Volk und den Frieden schützen will … und uns alle aus dieser nationalen Krise herausholt. Wir brauchen so einen Anführer.«

Isabelle musste etwas sagen. »Ich denke auch, dass ein starker Mann in Krisenzeiten unabdinglich ist«, sagte sie. Sie ging ein paar Schritte aufs Wasser zu und wandte sich dann wieder zu Max um. »Aber in ganz Europa kursieren Gerüchte über Hitlers Umgang mit den Juden. Wie denkst du darüber?«

»Ich habe dir ja schon gesagt, dass mir die Entscheidung nicht leichtgefallen ist. Doch meine Familie kommt an erster Stelle – ich muss an ihre Zukunft denken. Zusammen mit meinen Eltern kann ich für unsere Leute etwas tun. Wende ich mich gegen sie, leiden all die Menschen darunter, die wir unterstützen. Soll ich mich wegen irgendwelcher haltlosen Gerüchte von meinen Eltern abwenden?«

Isabelle hätte ihn am liebsten in den Arm genommen.

»Meine Eltern wollen, dass ich zu den Reichsparteitagen gehe. Ich denke, ich sollte mir Hitlers Reden wenigstens einmal anhören. Was meinst du?«

Sie trat zu ihm, und er nahm ihre Hand und hielt sie nah an seinem Herzen. Sie schmiegte sich an ihn und fühlte sich so geborgen, wie sie es noch nie zuvor getan hatte.

Drei Tage später stand Isabelle mit Virginia zwischen ihren gepackten Koffern am Anleger. Der Raddampfer, der sie nach Genf zum Bahnhof bringen würde, tuckerte würdevoll auf sie zu.

»Du kannst ziemlich gut Geheimnisse bewahren«, sagte sie aus einem Impuls heraus zu Virginia.

»Man lernt, Dinge für sich zu behalten.« Virginia sah heute besonders strahlend aus. Ihr blondes Haar war zu einem sauberen Knoten zusammengefasst, auf dem ein kleiner Hut saß. Sie trug ein zartblaues tailliertes Kostüm, das ihre schlanke Figur betonte.

Isabelle zupfte an ihren weißen Handschuhen. »Ich bewundere deine Unabhängigkeit.«

»Aber das ist nichts, was du dir für dich selbst wünschst.« Virginia blickte stur geradeaus.

»Eine Familie und unabhängiges Denken sollten sich doch eigentlich nicht ausschließen müssen«, konterte Isabelle, während sie beobachtete, wie der Dampfer sich näherte. »Am allerwenigsten, wenn man mit dem Mann zusammen ist, den man liebt und von dem man geliebt wird.«

Virginia hob die Hand. »Dein Idealismus ist wunderbar. Und was dem Ganzen die Krone aufsetzt, ist die Tatsache, dass du deiner Großmutter mit deinem Wunsch nach der Idealfamilie keinen Schock versetzen willst. Wenn das mal nicht ganz und gar außerhalb der Norm ist.«

»Stimmt, du hast recht.« Isabelle hatte Virginia im Vertrauen von ihrer Unterhaltung mit Max erzählt, und außerhalb der Norm fasste am besten zusammen, in welcher Welt sie momentan lebten.

»In Marthes Gegenwart tust du so, als seien die Albrechts einfach nur Freunde aus Deutschland«, fuhr Virginia fort. »Aber denkst du ernsthaft, dass du dich nicht längst verraten hast?«

»Ich will grand-mère nicht aufregen. Wenn du mit mir im Winter nach Siegel fährst, wird sich niemand etwas dabei denken. Schließlich waren wir mit den Albrechts in diesem Sommer fast täglich zusammen. Und was zwischen Max und mir gewesen ist, hat ja immer außerhalb des Hotels stattgefunden. Solange grand-mère in Sichtweite war, haben wir uns benommen.«

Virginia grinste und schüttelte den Kopf. »Du, Isabelle de Florian, bist das tiefste stille Wasser, das man sich vorstellen kann. Natürlich behalte ich dein Geheimnis für mich.«

»Im Augenblick muss es so sein. Sie würde es niemals verstehen.«

Nun näherte sich auch Marthe.

»Ich kann’s kaum erwarten, endlich Paris zu erleben«, sagte Virginia und küsste die ältere Frau auf die Wange.

Marthe tätschelte Virginia den Arm. »Und wir können es kaum erwarten, es dir zu zeigen«, antwortete sie.

Ein Mann in Uniform verkündete, man könne nun an Bord gehen. Isabelle ging darauf zu, ohne sich noch einmal zum Hotel umzusehen. Sie befürchtete, dass dieser Sommer eine wunderbare Zerstreuung gewesen war, die sich so nicht mehr wiederholen würde.