6. Kapitel

Paris, 1934

Isabelle ahnte, wie Virginia auf die Wohnung ihrer Großmutter reagieren würde. Selbst wenn man von der Existenz der demi-mondaines wusste – jener Kurtisanen, die im Paris der Belle Époque Einfluss und Bedeutung hatten –, machten sich nur die Wenigsten klar, wie allumfassend ihre Rolle tatsächlich gewesen war.

Jedenfalls schien so gut wie niemandem bewusst zu sein, dass ihre Großmutter in jedem Bereich ihres Daseins eine andere Person dargestellt hatte. Sie war in den berühmtesten Tanzlokalen der Stadt aufgetreten und hatte die mächtigsten Männer in ihrem überaus eleganten Salon unterhalten, doch das bedeutete, dass sie niemals mehr zu der Person zurückkehren konnte, die sie gewesen war, ehe sie die berühmte Marthe de Florian wurde. Sie musste die Kunstfigur, die sie erschaffen hatte, immer und überall spielen, sogar – oder insbesondere – zu Hause.

Obwohl sie schon über siebzig war, hatte Marthe sich von nichts getrennt, was man ihr als Kurtisane geschenkt hatte. Ihre gesamte Wohnung war eine makellos erhaltene Szenerie aus der Belle Époque. Hatte Marthe Angst, dass ihre sorgfältig eingeübte Rolle in sich zusammenfallen würde, wenn sie auch bloß ein Möbelstück oder ein golddurchwirktes Tischtuch verkaufte, einen der jahrzehntealten Liebesbriefe verbrannte oder eins ihrer atemberaubenden, wenn auch längst unmodischen Abendkleider ablegte? Befürchtete sie, dass sie wie Aschenputtel von einem Ball in Lumpen zurückkehren musste? Und schließlich doch niemand anderes als Mathilde Héloïse Beaugiron sein würde?

Marthe bestand darauf, jene berüchtigte Chaiselongue nicht nur zu behalten, sondern auch weiterhin zu benutzen. Sogar Isabelle wusste, dass dieses bestimmte Möbelstück Thema zahlreicher Tuscheleien zu Dinnergesellschaften der 1890er gewesen war.

Ein ausgestopfter Strauß begrüßte die Besucher im Salon. Kristallvasen und Gläser füllten jedes Regal und jeden Schrank, und das zur Schau gestellte Geschirr wäre einer königlichen Familie würdig gewesen. Marthes illustre Kundschaft hatte ihr, offenbar im Rennen um die Gunst der schönen jungen Frau, Hunderte filigraner Porzellankreationen geschenkt, und was keinen Platz in den Vitrinen fand, stand dicht an dicht auf Beistelltischen, Kaminsimsen, Kommoden oder wo immer sich eine Möglichkeit bot, denn die Stücke sollten gesehen und bewundert werden, auch und vor allem von den großzügigen Bewunderern selbst. Auf diese Art schmeichelte Marthe ihrer Selbstgefälligkeit, was ihr zusätzlich ihre Loyalität sicherte.

Isabelle beobachtete Virginia, als sie den Salon betrat. Ihre Freundin wirkte regelrecht wie vom Donner gerührt. Am Fenster blieb sie stehen und zog ihre Handschuhe aus, die sie Camille, Marthes Dienstmagd, reichte. Dann löste sie die Nadel, die ihren Hut am Platz hielt, mit einer Hand, während sie mit der anderen über den hauchdünnen grünen Vorhang strich, der bis zum Boden hinabhing.

Nach einer Weile zeigte Isabelle ihr den Rest der Wohnung. Virginia schien besonders angetan von Marthes Wohnzimmer. Sie umklammerte Isabelles Hand, während sie entzückte Bemerkungen zu der Tapete mit den winzigen rosa und grünen Rosen machte, deren Blätter einander umschlangen wie tanzende Liebende. Sie wollte alles berühren. Auf dem mattschwarzen Flügel standen keine Familienfotos, wie man sie wohl bei den meisten Leuten zu Hause finden würde, sondern die hübschesten und edelsten Geschenke wie gravierte Zigarettenetuis und ein komplettes Reisenecessaire mit Fläschchen, Dosen und Flakons aus Glas und Silber sowie Bürsten und Pinseln, die mit den Initialen MdeF verziert waren. Es gab Beutel aus Seide zu bestaunen sowie bestickte Taschentücher, Parfumzerstäuber und silberne Schmuckkästchen, die jedoch leer waren. Marthe bewahrte ihre kostbaren Juwelen in einem Tresor in ihrem Ankleidezimmer auf.

Als Nächstes führte Isabelle Virginia in Marthes Schlafzimmer, das auch für eine Prinzessin geeignet gewesen wäre. Auf dem Himmelbett mit dem pompösen dunkelroten Überwurf türmte sich ein ganzer Berg aus Kissen in Bernstein-, Gold- und Mahagoni-Tönen. Auf beiden Seiten des Bettes standen kunstvoll verschnörkelte Lampen mit Fransenschirmen auf Nachttischen, deren Füße Tatzen nachempfunden waren. Auf diesen Tischchen fand auch Marthes Sammlung von silbernen Glocken Platz, die aus den besten Silberschmieden Europas stammten.

Aber Isabelle wusste, was Virginia die heftigste Reaktion entlocken würde. Schweigend wartete sie, bis ihre Freundin das Porträt von Marthe in jungen Jahren entdeckte, das dem Bett gegenüber hing. Das Gemälde stammte von irgendeinem berühmten Künstler – Marthe verriet nicht, ob er einer ihrer Liebhaber gewesen war. Auf dem Bild hatte sie das Gesicht zur Seite gewandt, und ihre Hand lag leicht auf dem Dekolleté, das so viele Männer bereits berührt hatten.

Wenn Isabelle ihre Freundin nicht schon so gut gekannt hätte, hätte sie ihr Schweigen vielleicht als Missfallen gedeutet. Aber sie wusste es besser, daher zupfte sie nur leicht an Virginias Hand und führte sie ins nächste Zimmer.

»Ich kann nicht mehr«, schnappte Virginia nach Luft.

Sie war an der Tür zu dem hübschen Ankleidezimmer wie angewurzelt stehen geblieben. Hier hatte Marthe sich früher immer fertig gemacht, ehe sie ihre Klientel im Salon empfing. Durch die Augen ihrer Freundin wurde Isabelle wieder an die außergewöhnliche Vergangenheit ihrer Großmutter erinnert. Zu ihr war Marthe immer warmherzig, liebevoll und authentisch gewesen – und doch hatte sie Männer nach ihrer Pfeife tanzen lassen, während sie im Grunde stets allein geblieben war.

Marthe hatte Isabelle versichert, dass keiner der Männer je Zutritt zu ihrem Schlafzimmer bekommen hatte. Aber Isabelle fragte sich, ob es nicht vielleicht doch einen Mann gegeben hatte, der Marthe verstanden hatte – oder, besser ausgedrückt, ob je einer ihr Herz hatte gewinnen können.

Isabelle öffnete die Tür zum nächsten Zimmer, das erst vor vierzehn Jahren seine Bestimmung gefunden hatte, als ein verängstigtes kleines Mädchen bei der Großmutter eingezogen war. Isabelle hatte beide Elternteile an eine schlimme Grippe verloren, die zu der Zeit in Europa gewütet hatte.

Camille packte bereits die Koffer der beiden Mädchen aus, als sie eintraten. Wie üblich arbeitete sie still und effektiv. Sie hatte die Sommerkleider auf die beiden Einzelbetten gelegt, strich sie glatt und hängte sie mit größter Sorgfalt auf die gepolsterten Bügel. Als Nächstes würde sie sich um die Hüte, Handschuhe und Oberteile kümmern, die zu den modischen, hochtaillierten Röcken der Mädchen getragen wurden.

Wieder in ihr eigenes Zimmer zurückzukommen hatte für Isabelle etwas Tröstendes. Hier hatte sie sich immer geborgen und sicher gefühlt.

»Komm, es ist Zeit für den Kaffee«, sagte sie mit einem Lächeln zu Virginia. Sie waren in Paris. Es würde pâtisserie geben.

Marthe saß bereits auf einem der Louis-XV-Stühle im Salon und schenkte sich Kaffee ein, den Camille zubereitet hatte, ehe sie sich dem Auspacken der Koffer gewidmet hatte.

»Es gibt mittlerweile eine recht große Gemeinde von Amerikanern hier in Paris, Virginia«, sagte Marthe und reichte den Mädchen eine goldgeränderte Platte mit exquisiten Kuchenvariationen – von puddingartigen Kreationen, die auf dem Teller wackelten, und kleinen Schnitten Schokoladenkuchen bis zu Beerentörtchen in üppigen Rottönen. »Ich kann mir vorstellen, dass du dich dadurch recht schnell heimisch fühlen wirst.«

Virginia nahm sich eine Mini-Tarte-Tatin und legte sie sich auf ihren Teller.

Nach dem Kaffee erhob Isabelle sich. »Komm, Virginia, lass uns ein Stück spazieren gehen«, schlug sie vor. Marthe war von der Reise eindeutig erschöpft, und Isabelle beugte sich hinab und küsste sie auf die Wange.

»Du hast mir nie gesagt, wie irre euer Zuhause ist«, bemerkte Virginia, als sie ihre Hüte aufgesetzt hatten und die Treppe zur Eingangshalle hinunterliefen.

»Ich weiß nie, was ich sagen soll«, erwiderte Isabelle mit einem Achselzucken.

Virginia nahm Isabelles Arm und blickte die Fassade des Wohnhauses hinauf. Eine Konstruktion aus Schmiedeeisen ragte wie ein Fächer über der Tür auf, und die Bogenfenster blitzten makellos poliert im Licht des Nachmittags.

Isabelle führte ihre Freundin die Rue Blanche entlang und auf die Rue Saint-Lazare. Selbst für sie war das Gewimmel nach der Ruhe am Genfer See wie ein Schock. Ein Baguette-Verkäufer nahm eifrig seine Kappe ab, als er ihrer gewahr wurde, und pries seine Ware an.

»Nein, danke«, sagte Isabelle und zog Virginia hastig weiter.

Doch der Lärm machte es ihnen schwer, sich vernünftig zu unterhalten. Überall um sie herum die Musik der Ein-Mann-Bands, das Brausen der Flammen eines Feuerschluckers und die Sprüche und Rufe der Taschenspieler und Zauberkünstler, die um Publikum buhlten. Händler bewarben lautstark ihre Schuhbänder oder Krawatten, und manch einer bot seine Ware in umgedrehten Schirmen feil. Isabelle wich einem Schwertschlucker aus, während Virginia sich immer wieder umdrehte und staunte.

Als man Geräusche wie von einem Umzug hörte, verdrehte Isabelle die Augen und zog Virginia rasch zur Seite. »Studenten«, sagte sie. »Aus dem Quartier Latin. Die müssen Dampf ablassen.«

»Oha«, sagte Virginia. Als sie einen Moment später dem Blick eines attraktiven jungen Mannes begegnete, grinste sie ihn ganz unverhohlen an.

»Na bitte, geht doch.« Isabelle kicherte.

»Oh, das ist es nicht, was mich umgehauen hat«, sagte Virginia. »Das hat schon eure verflixte Wohnung geschafft.« Sie gingen eingehakt auf die Seine zu.

»Ich weiß«, erwiderte Isabelle. »Macht es dir was aus, wenn wir nicht mehr darüber reden?«

Virginia blieb stehen. »Du schämst dich doch nicht, oder?«

»Nein, ich habe aber resigniert. Was Marthe war, schränkt mich ein. Mein ganzes bisheriges Leben lang bestimmte mein Name, wie man mich wahrnimmt, wo ich akzeptiert werde und wer mit mir spricht, verstehst du?«

»Sie war also wirklich eine Berühmtheit?«

»Ja«, gab Isabelle zurück. »Eine der schillerndsten von Paris sogar.«

Über Virginias Lippen huschte ein Lächeln, aber sie packte Isabelles Arm fester. »Dummerweise hast du es Max noch immer nicht erzählt.«

»Nein.« Deprimiert senkte Isabelle den Blick. »Hab ich nicht.«

»Wie pikant«, bemerkte Virginia. »Ich bin gespannt, wie seine Familie es aufnehmen wird.« Plötzlich blieb sie erneut stehen und sah Isabelle ins Gesicht. »Wenn es irgendwelche Probleme gibt, kriegen sie es mit mir zu tun, glaub mir.«

Isabelle schüttelte den Kopf. Wie viel mochte Max seinen Eltern über sie erzählt haben? »Na, großartig«, murmelte sie, setzte sich wieder in Bewegung und zog ihre Freundin mit.

Deutschland, 2010

Wil Jagers Laune war ganz anders als am Tag zuvor. Er wich Annas Blick aus, als sie in der Lobby seines Bürogebäudes ankam, und bedeutete ihr schweigend, in sein Auto zu steigen, das direkt vor dem Haus parkte.

Anna musste sich zusammenreißen, um nicht gleich mit allen Fragen, die ihr auf der Zunge lagen, herauszuplatzen. Was wusste er über Schloss Siegel? Warum ließen die Besitzer es verfallen? Hatten sie etwas mit dem Anwesen vor? Und falls ja, was?

Sie hatten sich durch den dichten morgendlichen Verkehr gequält, den Berliner Ring erreicht und schlugen nun den Weg nach Siegel ein.

Nachdem sie zwei größere Orte durchquert hatten, veränderte sich die Landschaft, und links und rechts der Straße erstreckten sich Kornfelder, nur um von dichten Wäldern abgelöst zu werden. Weiter ging es durch kleine Orte und Dörfer, und als sie an einem wunderschön geschmiedeten Tor vorbeifuhren, reckte Anna den Hals, um einen Blick auf das Anwesen dahinter zu erhaschen – wieder ein Schloss vor einem dichten Waldstück, das Anna stark an ein Märchen erinnerte. Sie konnte bloß hoffen, dass das Anwesen ihrer Vorfahren eines Tages auch wieder zu seiner ursprünglichen Pracht zurückfinden würde.

»Verzeihen Sie mir, Anna. Ich habe ziemlich viel im Kopf heute. Sie müssen mich für sehr unhöflich halten. Wie geht es Ihrem Großvater?«

»Er wird operiert werden müssen. Heute Morgen habe ich kurz mit ihm gesprochen. Er klang aber nicht allzu deprimiert. Eigentlich hat er gar nicht über sich reden wollen, und das ist typisch für ihn.« Sie lächelte. »Dafür hat er mir immer wieder gesagt, wie gut er es findet, dass ich in Deutschland sei, und ich schon das Richtige tun würde.«

Sie warf Wil einen Blick zu. Er sah auf die Straße, aber ein Lächeln huschte über seine Züge.

»Das hört sich an, als ob er Ihnen viel bedeutet.«

»Das tut er.« Wie so oft strömten Erinnerungen an ihre Jugend mit Max auf sie ein. Nach der Schule hatte er sie oft auf einen Milchshake eingeladen und sie dabei über die Schule und ihre Freundinnen ausgefragt. Anna hatte mit ihm reden können wie mit niemandem sonst – über den Tod ihrer Mutter, über die Entscheidung ihres Vaters, mit seiner zweiten Frau in Kanada ein neues Leben zu beginnen, und ihre eigene Entscheidung, bei ihren Großeltern in San Francisco zu bleiben. Erst jetzt erkannte Anna, wie schwer es für Max gewesen sein musste, seine Vergangenheit wegzuschließen und niemals darüber zu sprechen. Doch würde sie je erfahren, warum er es getan hatte?

Wil drosselte das Tempo, als sie sich Schloss Siegel näherten, und Anna war froh, dass sie beinahe angekommen waren. Die Landschaft, die sie nun schon kannte, nährte ihre Sorgen um Max, und die Müdigkeit tat ein Übriges; in der Nacht zuvor hatte sie kaum geschlafen.

Schließlich hielt Wil am Haupttor, vor dem Anna zwei Tage zuvor gestanden hatte, und stieg aus. Anna tat es ihm nach; es tat gut, sich die Beine zu vertreten.

»Kann ich Ihnen helfen?«, fragte sie.

»Danke«, sagte er, schien aber noch abwesender als zuvor schon. Er öffnete das dicke Vorhängeschloss, das die beiden Torhälften zusammenhielt.

Anna drückte eine Seite auf, während er die andere übernahm. Es war nicht leicht, da das Tor mehrere Male am Boden hängen blieb. Doch nachdem sie es geschafft hatten, stiegen sie wieder ein, und der Wagen holperte über die von Schlaglöchern übersäte Auffahrt.

Einen Moment später sah Anna das Anwesen zum ersten Mal von vorne und schnappte nach Luft. Hinter dem Flügel, dessen Anblick vom Seitentor aus verborgen geblieben war, wich der dichte Wald einem Park, der mit wunderschönen alten Bäumen bestückt war.

»Ich fahre um das Anwesen herum«, sagte Wil. »Der Haupteingang befindet sich auf der anderen Seite. Es ist so konstruiert worden, damit die formellen Räume der Familie zur Terrasse hinausgehen, die wiederum zum See ausgerichtet ist.«

Ganz still und für sich genoss Anna alles, was sie durch das Autofenster sah, und wie es ihre Art war, ging sie dabei sehr methodisch vor. Zuerst war da der Park zu ihrer Rechten. Nahe am Haus waren die Reste des ehemaligen Ziergartens zu erkennen, der von Heckenrosen eingefasst wurde. Die Stämme der Pflanzen waren knorrig und dick, Hagebutten, groß wie Äpfel, trotzten tapfer dem Wildwuchs. Dahinter ragten vereinzelte Bäume auf; vermutlich war dort einst eine ausgedehnte Rasenfläche gewesen.

Hier und da sah man die Überbleibsel eines Weges, der zum See hinunterführte. Das Ufer war vor lauter Schilf kaum zu erkennen, und Seerosen bedeckten große Teile der Oberfläche. Annas Fantasie beschwor Partys am See herauf – Frauen in weißen Kleidern, mit Sonnenschirmen und Champagnerkelchen in der Hand. Auf der anderen Seite des Sees war eine Ruine zu sehen, deren Mauern mit Efeu bewachsen waren, und ein kleiner Steg ragte schief ins Wasser und schien sich nur mit Mühe auf den morschen Beinen zu halten. In der Mitte des Sees befand sich eine kleine Insel.

Wil hielt den Wagen an. »Würden Sie gerne einen Moment verweilen und sich alles genauer ansehen?« Seine Stimme war nun überraschend sanft.

Anna nickte. Sie betrachtete noch einen Moment lang den Garten, ehe sie sich dem Schloss zuwandte.

Als sie es schließlich tat, wallte etwas – Liebe? – mit solch einer Macht in ihr auf, dass sie einen Moment lang wie gelähmt war. Überall waren die Spuren schlimmer Zeiten zu sehen. Einschusslöcher verunstalteten die Fassade; manche hatten tiefe Wunden gerissen. Obwohl Anna sich streng sagte, dass man die Mauern bestimmt ausbessern konnte, war ihr plötzlich, als stünde sie vor dem Grabmal ihrer Vorfahren, das sich in einem irreparablen Verfall befand.

Die Fenster waren nicht vernagelt, aber viele schienen mit Zeitungen verklebt. Jene, die zur Terrasse hinausgingen, waren deckenhoch und mussten einst einen prächtigen Blick auf den See gewährt haben.

Anna wandte sich zu Wil um. »Sollen wir?«

Wil nickte. Dann startete er den Motor und fuhr herum zum Haupteingang auf der anderen Seite des Gebäudes.

Schloss Siegel, Dezember 1934

Isabelle würde den Tag, an dem sie in dem Märchenschloss zu den Weihnachtsferien mit Max’ Familie ankamen, niemals vergessen. Als sie aus dem Schlitten ausstieg und auf die vereiste Auffahrt trat, wusste sie gar nicht, wohin sie zuerst blicken sollte. Die Fahrt vom Bahnhof durch das verschneite Dorf war eine der romantischsten Erfahrungen, die sie je gemacht hatte. Max hatte ihr seine Heimat in vielen Briefen beschrieben, seit sie sich in der Schweiz Lebewohl gesagt hatten, doch nichts hätte sie wirklich auf den Anblick von Schloss Siegel vorbereiten können. Und nun konnte sie das wunderschöne Gebäude vor ihr bloß mit offenem Mund anstarren.

Ein Weihnachtskranz aus roten Beeren und Efeu hing über der zweiflügeligen weißen Tür des Haupteingangs, dessen schwarz-weiß geflieste Veranda von zwei Säulen flankiert wurde. Warmes Licht drang durch die Bleiglasfenster an beiden Seiten der Tür hinaus in die Dunkelheit.

Isabelle legte ihre behandschuhte Hand in Max’, als sie die Treppe zur Tür hinaufstieg. Oben wandte sie sich um und betrachtete das Wunderland vor dem Schloss. Das verschneite Gelände erstreckte sich bis zu der Steinmauer, die den Park umgab. Jeder Baum schien sich unter der Last des Schnees und der Eiszapfen zu biegen, und in all dem Weiß war kaum etwas von den dunklen Stämmen zu sehen.

Max’ Kammerdiener Hans überwachte die Lakaien, die wie durch Zauberhand erschienen waren, um den Schlitten zu entladen. Er gab Anweisungen auf Deutsch und nickte Isabelle zu. Der prüfende Blick, mit dem er sie musterte, war vielleicht nicht unbedingt despektierlich, aber Isabelle fragte sich unwillkürlich, ob er wohl wusste, was zwischen Max und ihr bestand. Vielleicht war er ja jemand, dem Max sich anvertraute.

Einer der Diener stieß die Eingangstür mit großer Geste auf, sodass sich Licht in den halb dunklen Nachmittag ergoss und die Männer auf der Veranda beleuchtete.

Max, der Isabelle auf die Wange geküsst und die Treppe hinaufgeführt hatte, trat zur Seite, damit Virginia und sie eintreten konnten. Obwohl Isabelle an Marthes ganz besondere Art von Prunk gewohnt war, erzeugte die Pracht, die sich ihr hier bot, beinahe Ehrfurcht in ihr. Ein grau-weißer Marmorboden erstreckte sich durch das weitläufige Vestibül, das durch einen goldgefassten Marmortisch mit einem Strauß prachtvoller Gewächshausblumen aufgelockert wurde.

Ein Dienstmädchen erschien und kniete sich vor Isabelle und Virginia, um ihnen die fellgefütterten Überschuhe auszuziehen, die man ihnen für die Schlittenfahrt gegeben hatte.

»Wir nennen sie Elefantenfüße«, sagte Max lächelnd, als Isabelle zu ihm aufblickte. »Drinnen braucht man sie natürlich nicht.«

Während das uniformierte Mädchen die warmen Überschuhe wegbrachte, nutzte Isabelle die Gelegenheit, um sich staunend umzusehen. Vor ihr flankierten zwei riesige Vasen eine weitere Doppeltür, die die Gestaltung der Eingangstür wiederaufnahm. Die weißen Flügel waren zu einem Saal von höchst vornehmen Proportionen geöffnet, bei dem es sich um den Musiksalon handeln musste. Max hatte ihr in seinen Briefen alles genau beschrieben und ihre Sehnsucht nach ihm und seiner Heimat noch geschürt.

Links von dieser Doppeltür schwang sich eine breite Treppe in einem Bogen zu den oberen Stockwerken empor. Plötzlich stutzte Isabelle und machte große Augen.

Ihr Blick war dem der Frau auf der Treppe begegnet, aber es war nicht Nadjas Gesicht, das Isabelles Aufmerksamkeit weckte – es war das, was sie trug. Das blutrote Kleid war nach der neuesten Mode geschnitten und schmiegte sich eng an Nadjas schlanke Figur. Ihr blondes Haar war zu einem eleganten Chignon aufgesteckt, und eine Perlenkette zierte ihren Hals.

Von Anfang an war das Verhältnis zwischen Max’ Schwester und ihr unterkühlt gewesen. Isabelle hatte in der Schweiz immer wieder versucht, sich ihr zu nähern, aber Nadja war ihr ausgewichen; entweder hatte sie den Anschein gemacht, tief in Gedanken zu sein, oder sich gerade eingehend mit jemand anderem unterhalten.

In diesem Augenblick kam draußen ein weiterer Schlitten an, und Isabelle wandte sich um.

»Vati und Mutti«, sagte Max. Er nahm Isabelles Arm und führte sie zurück zum Eingang.

Die Diener hasteten hinaus, um Max’ Eltern zu empfangen.

»Sie werden begeistert von dir sein«, flüsterte Max ihr ins Ohr.

Isabelle wappnete sich innerlich und betete im Stillen, dass Max’ Mutter keine Erkundigungen über sie eingezogen hatte. Und wie viel wusste sie über ihre Beziehung zu Max? Sie hatte ihn in ihren Briefen nicht danach fragen wollen. Was mochten sie von ihr denken?

Als Max’ Mutter mit wehendem Pelzmantel eintrat, schienen alle Habachtstellung einzunehmen – alle außer Didi und Jo, die – schön wie zwei Adonisse – am Treppengeländer lehnten. Isabelle spürte, wie sie sie anerkennend musterten, ehe sie ihre Blicke auf Virginia richteten. In den drei Monaten, die seit dem Urlaub in der Schweiz vergangen waren, war ihre Jungenhaftigkeit so gut wie verschwunden. Sie trugen jene lässige Arroganz zur Schau, die sich nur die Jugend leisten durfte.

Virginia schien die Ruhe selbst zu sein. Mit ausgestreckter Hand trat sie auf Max’ Mutter zu und schenkte der Älteren ein strahlendes Lächeln. »Ich freue mich sehr, Sie kennenzulernen, Frau Albrecht«, sagte sie. »Max hat uns schon so viel von Ihnen erzählt.«

Isabelle war fasziniert von Virginias Talent, mit dem Einsatz von – aufrichtig gemeinten – Schmeicheleien jedwede gesellschaftliche Situation im Griff zu haben.

Max’ Mutter setzte die Pelzkappe ab und reichte sie mit dem Mantel einem Dienstmädchen. Plötzlich wirkte diese elegante blonde Frau weit weniger einschüchternd. Isabelle wusste, dass von allen Beziehungen dieser Welt die eines Mannes und seiner Mutter besonders schwierig sein konnte, und die Anspannung ihrer Schultern ließ ein wenig nach.

Max’ Mutter nahm Virginias Hand und murmelte einen Willkommensgruß, und als sie sich Isabelle zuwandte, lächelte sie. In ihrem Blick lag nichts Berechnendes, ihre Miene war nicht angespannt, und Isabelle konnte keinerlei Reaktionen auf den Namen de Florian erkennen.

Als Max’ Stimme hinter Isabelle ertönte, wandte sie sich lächelnd zu ihm um. »Mein Vater ist draußen mit den Dienstboten, freut sich aber schon darauf, dich kennenzulernen«, sagte er. Mit einem Hauch spöttischem Vergnügen sah er zu, wie Virginia zur Begrüßung auf Didi und Jo zuging, die inzwischen mindestens einen Kopf größer waren als sie und mit ihrer direkten Art weitaus souveräner umzugehen wussten als noch drei Monate zuvor.

Max’ Vater wirkte auf Isabelle wie jemand, der wusste, was er wollte. Er reichte seinem Diener den Hut, zog seine Handschuhe aus und streifte den Mantel mit der Selbstverständlichkeit von Menschen ab, die es gewohnt waren, dienstbare Geister um sich zu haben.

»Vati«, sagte Max, »das ist Isabelle de Florian.«

Hinter ihnen erklang Virginias Lachen.

»Isabelle«, sagte Max’ Vater, »ich freue mich, Sie kennenzulernen.« Er sprach akzentfreies Englisch. »Fühlen Sie sich wie zu Hause. Wir unterhalten uns später beim Abendessen eingehender.«

Isabelle lächelte und sah ihm in die Augen, die genauso blau waren wie die von Max.

»Sehr erfreut«, erwiderte sie ebenfalls auf Englisch.

»Die beiden jungen Damen wollen sich sicher etwas frisch machen«, sagte Frau Albrecht. »Bertha zeigt Ihnen Ihre Zimmer.«

Ein junges Dienstmädchen trat vor und deutete mit einer Geste zur Treppe.

Virginia schob ihren Arm durch Isabelles. »Komm, Liebes«, sagte sie. »Ich kann es kaum erwarten, mich umzusehen. Was werden wir hier für einen Spaß haben!«

Schloss Siegel, 2010

Annas Stiefel knirschten auf dem eingetrockneten Schmutz vor dem Haupteingang. Als sie ihren Fuß auf die unterste Stufe der Treppe setzte, rümpfte sie beim Anblick des zweckmäßigen Geländers, das offenbar nach dem Krieg angebracht worden war, die Nase. Vom Boden der Veranda hatten nur einzelne hartnäckige Fliesen dem Aufmarsch der Truppen, der Besatzer und anderer ungeladener Besucher getrotzt; die meisten waren gesplittert und geborsten, und von einigen waren gar nur noch die Umrisse im Zement geblieben.

Vorsichtig bahnte Anna sich ihren Weg zur Tür, deren ehemals weiße Farbe stumpf und verwittert war. Große Risse zogen sich durchs Holz, und um die schlichten Klinken hatte sich der Schmutz der Benutzung abgelagert. Noch waren die Umrisse der einst prächtigen Beschläge zu sehen, und eine runde Aussparung im Lack ließ darauf schließen, dass es hier einmal einen Türklopfer gegeben hatte.

Wil war dicht hinter ihr. Er hielt den Schlüssel in der Hand.

»Ich warne Sie besser vor«, sagte er. »Ich weiß nicht, was Sie erwarten, aber es könnte anders aussehen.«

Anna nickte.

Er drehte den Schlüssel im Schloss und drückte die Tür auf. Dann trat er zur Seite und ließ Anna den Vortritt.

Als sie in der Eingangshalle stehen blieb und ihr Blick hin und her ging wie Suchscheinwerfer im Dunkeln, kam ihr alles, was sie wahrnahm, zunächst einmal auf merkwürdige Art richtig vor – die vielen Jahre, die verstrichen, die vielen Menschen, die ein- und ausgegangen waren, hatten in dieser großartigen Halle ihre Spuren hinterlassen.

Doch das Wichtigste hatte überlebt. Die Essenz, die Seele dieses Hauses war noch immer präsent.

Kein General, kein Politiker, kein Vertreter eines politischen Regimes, der in den vergangenen Jahrzehnten auf der Suche nach einer Lösung für jedes mögliche gesellschaftliche Problem hier durchmarschiert war, hatte es geschafft, die Vision des ursprünglichen Architekten zu vernichten.

Die Vergangenheit lag in der Luft. Es spielte keine Rolle, dass der Boden in der Eingangshalle unter einer Linoleumschicht verborgen war, auf dem sich Schmutz und trockene Blätter gesammelt hatten. Anna hatte keine Schwierigkeiten, den Mäusekot und die einzelne Glühbirne, die in der Zugluft der offenen Tür sanft pendelte, auszublenden.

Sie wanderte zu der geschlossenen Doppeltür, die – wie sie wusste – zum Musiksalon führte.

Wil war immer noch hinter ihr.

Sie legte ihre Hand auf die verchromten Beschläge – auch hier keine Originale mehr – und wandte sich zu ihm um. »Würde es Ihnen etwas ausmachen, wenn ich mich umsehe, ehe ich nach oben gehe und …?« Ihre Stimme verklang.

»Machen Sie ruhig«, gab er zurück. »Ich weiß, dass es schwer ist. Es hat keine Eile. Lassen Sie sich Zeit.«

Sie nickte und öffnete die Tür.

Schloss Siegel, Dezember 1934

Als Bertha zügig vor ihnen die Treppe hinaufging, verspürte Isabelle das Bedürfnis, sich umzublicken und die wunderschöne Eingangshalle von oben zu bewundern. Virginia hatte Hut und Handschuhe ausgezogen und stieg die Stufen hinauf, als sei sie in einer solchen Umgebung groß geworden. Im ersten Stock angekommen, blieben sie auf dem Treppenabsatz stehen, von dem sich nach links und rechts scheinbar endlose Korridore erstreckten. Die Wände, an denen Gemälde hingen, waren in einem zarten Türkiston gestrichen, und dicke persische Teppiche dämpften die Schritte. Bertha wandte sich nach rechts und führte sie über den Mitteltrakt hinaus an einer Reihe geschlossener Türen vorbei, bis sich der Flur ein wenig verengte und in einen anderen Abschnitt überging.

Während Bertha vor ihnen herging, beugte sich Virginia zu Isabelle. »Die Eltern scheinen ja ein absoluter Traum zu sein«, flüsterte sie ihr zu.

»Ich glaube auch.« Isabelle lächelte. Max schien sich in ihrer Gegenwart jedenfalls sehr wohlzufühlen.

»Max’ Vater hat so eine Art – ich weiß auch nicht – Chuzpe!«, sagte Virginia und lachte. »Er sieht aus wie ein Adeliger aus einem Hollywoodfilm, und sie könnte ohne Weiteres einem Modemagazin entsprungen sein. Und dabei ist sie auch noch nett!«

»Oh, Virginia.« Isabelle stimmte in ihr Lachen ein. »Du und deine Sprüche.«

Das Dienstmädchen hatte angehalten und trat zur Seite. »Das ist Ihr Zimmer, Fräulein.«

Isabelle trat, eifrig wie ein Kind auf dem Jahrmarkt, ein. Ihre Bleibe war ein Traum: ein Himmelbett voller blauer Seidenkissen, ein glänzender Frisiertisch, ein großer Schrank und ein edler Teppich auf polierten Bodendielen. In der Ecke stand ein wunderschöner blau-weißer Herd.

»Der Kachelofen«, erklärte Bertha. »Er sorgt für eine angenehme Wärme in Ihrem Zimmer. Und damit es hier nicht zu trocken wird, stellen wir immer einen Krug Wasser darauf.« Das Mädchen sprach zögernd, aber verständlich Englisch.

Bertha zog eine Klappe am Ofen auf. »Hier kommen Wärmflaschen hinein, die Sie nachts mit ins Bett nehmen können.«

»Wie herrlich«, bemerkte Virginia.

Isabelle trat ans Fenster, das von bodenlangen hellen Samtvorhängen eingefasst war. Es ging auf den gefrorenen See hinaus. Von ihrem erhöhten Aussichtspunkt aus konnte man den Wald sehen, der sich zwar dicht, aber nun kahl hinter dem See erstreckte.

»Und Ihr Zimmer ist hier, Fräulein«, sagte Bertha und öffnete für Virginia eine Tür zum Nachbarzimmer.

Isabelle blickte noch einen Moment hinaus.

Ihr war, als wäre sie nach Hause gekommen.

Schloss Siegel, 2010

Anna stand am Fenster eines der oberen Zimmer und blickte auf den See hinaus. Max’ ehemaliges Zimmer war nebenan, und sie war sich überdeutlich bewusst, dass Wil bald nach Berlin zur Arbeit zurückfahren musste. Sie wollte ihm seine Freundlichkeit nicht damit vergelten, dass sie ihn aufhielt. Sie hatte die verfallenen Räumlichkeiten so zügig durchschritten, wie es ihr möglich gewesen war, hatte Fotos gemacht und jeden Anflug von Trauer oder Verstimmung mit der Entschlossenheit unterdrückt, in der sie es im Laufe der Jahre zur Meisterschaft gebracht hatte.

Was sie allerdings umtrieb, war die Frage, was sie Max erzählen sollte.

Jedes Zimmer schien ein schwacher Abklatsch von dem zu sein, was es einst gewesen war. In jedem Raum war Linoleum ausgelegt worden, nur nicht in den Fluren, deren Holzböden bloß, staubig und stellenweise verrottet waren. Reste der Beleuchtung baumelten von der Decke. Die Fenster, ob mit Zeitungspapier verklebt oder nicht, waren frei von Vorhängen oder Jalousien. Licht strömte herein, wo immer es konnte, und ließ den Staub tanzen oder malte Muster auf die fleckigen Wände.

Anna war es unmöglich, ihre Fantasie im Zaum zu halten; unaufhörlich überlegte sie, wie diese Zimmer einst ausgesehen haben mussten. Hatte Max auch alle Fotos von seinem Zuhause vernichtet?

Es war Annas amerikanische Großmutter Jean gewesen, die ihr erzählt hatte, dass die Albrechts, als sie vor der Ankunft der Russen hatten fliehen müssen, nur einen alten Schubkarren gehabt hatten, um zu transportieren, was immer sie noch hatten zusammenraffen können.

Schließlich betrat Anna Max’ ehemaliges Zimmer. Ein mit Brettern vernagelter Kamin war in die rechte Wand eingelassen, darüber hinaus war der Raum leer. Obwohl Anna es versuchte, konnte sie hier keinen Hauch von Max’ Präsenz spüren.

Aber schließlich musste sie sich auch auf etwas anderes konzentrieren. Der Ring! Doch nachdem sie sich drei Fingernägel bei dem Versuch abgebrochen hatte, das Linoleum vom Boden zu lösen, stieg Ärger in ihr auf. Sie würde Wil fragen müssen, ob er eine Idee hatte, wie man die Holzbohlen anheben konnte.

Er hatte sich mit seinem Laptop an einem alten Holztisch in der Eingangshalle eingerichtet. Als Anna herunterkam und auf der untersten Stufe stehen blieb, blickte er auf und klappte den Rechner zu.

»Kein Glück?«, fragte er. Sein Blick huschte zu ihren leeren Händen.

Sie schüttelte den Kopf, und plötzlich war sie peinlich berührt. Was hatte sie sich nur gedacht? Wieso in aller Welt hatte sie geglaubt, man könne einen Boden mit bloßen Händen aufreißen? »Ich nehme nicht an, dass Sie einen Werkzeugkasten im Auto haben?«

Er grinste. »Sehe ich aus wie der Typ Mann, der einen Werkzeugkasten mit sich herumschleppt? Allerdings hätte ich dran denken können.«

»Ich hänge ein wenig fest. Der Boden … ähm, hängt irgendwie fest.« Anna presste die Lippen zusammen.

»Wir müssen den Besitzer um Erlaubnis fragen, ehe wir das Linoleum entfernen«, sagte Wil.

»Ob ihn das kümmert?«

Wil lachte leise. »Und ob sie das kümmert.«

»Eine Sie? Ich dachte, das Schloss gehört einer Firma.«

In Wils Kiefer zuckte ein Muskel. »Eine Geschäftsfrau hat es gekauft. Es war schlicht eine Investition. Ihr gehört ein großes Unternehmen, und Siegel ist lediglich ein Teil ihres Vermögens.«

»Aber warum lässt sie es dann verfallen?«

»Wir sind nicht hier, um darüber zu diskutieren, Anna. Sie können ohnehin nichts daran ändern.«

Anna seufzte. Sie musste sich auf Max’ Ring konzentrieren.

»Moment mal«, sagte sie.

»Ja?«

»Ihrer Mandantin gehört aber nicht zufällig auch der größte Teil des Dorfes, oder?«

Wil begann, die Treppe hinaufzugehen.

Anna folgte ihm.

»Ich darf die Interessen meiner Mandantin nicht mit Ihnen besprechen, Anna, das muss Ihnen klar sein.«

Anna schüttelte den Kopf. Ein Vogel stieß im Park einen Ruf aus, und der einzelne Ton hing einen Moment lang in der Luft, nachdem seine Stimme verklungen war. Auf einmal war sie sich der Stille in diesem Haus überdeutlich bewusst.

Etwas war falsch daran.

»Aber das hier ist die Vergangenheit meiner Familie«, wandte sie ein. »Und das Schloss hat eine Zukunft verdient.«

Wil blieb stehen und zuckte die Achseln.

Was genau bedeutete das Achselzucken? Akzeptanz? Der Unwille, sich weiter damit auseinanderzusetzen?

Anna trat ans Fenster und blickte in den Park hinaus. Wenn sie Wil dazu bewegen wollte, ihr zu helfen …

Er versuchte sich ebenfalls am Linoleum. »Bewegt sich nicht«, sagte er schließlich.

»Besteht die Chance, dass Sie diese … diese Besitzerin wegen des Rings fragen würden? Dass sie es vielleicht versteht?«

»Fangen wir nicht wieder davon an, Anna.« Er schwieg einen Moment. Schien abzuwägen. Dann: »Es tut mir wirklich leid, aber ich muss bald zurück. Ein Mandant hat sich gemeldet … er muss mich noch heute sprechen.«

»Klar«, murmelte Anna.

»Heute Abend –«, setzte Wil an, doch Anna hörte nicht zu. Wie sollte sie die Verantwortlichen bloß davon überzeugen, dass hier etwas getan werden musste?

»Was?«

Er schüttelte den Kopf, und plötzlich war wieder dieses Grinsen da, das sie bereits gestern bei ihrer ersten Begegnung gesehen hatte. »Sie waren gerade in Wolkenkuckucksheim.«

Anna musste lächeln. »Das ist ja ein lustiger Ausdruck.«

»Jedenfalls wollte ich Sie nicht stören.«

Anna versuchte, wieder ernst zu blicken.

»Also – was denken Sie?«, fragte er.

»Worüber?«

Er gluckste. »Dachte ich’s mir doch. Über das, was ich gerade gesagt habe.«

Anna lauschte einen Moment lang dem Klang der Stille. »Und, ähm, was –«

»Habe ich gesagt?«

Sie musste kichern. »Genau.«

»Na ja, ich sagte, ich könnte Sie um acht Uhr zum Essen abholen, und wir überlegen uns, wie wir die Sache vielleicht anders angehen können. Tut mir leid, aber ich muss jetzt wirklich nach Berlin zurück.«

Anna fiel die Kinnlade herab. Sie hatte erwartet, dass er ihr sagen würde, es gäbe nichts mehr, was sie tun konnten.

»Oh«, sagte sie. Zum Essen? Sie konnte Cass’ Stimme in ihrem Kopf hören. Warum nicht? Warum in aller Welt denn nicht? Immerhin ging es ja um nichts anderes – nur ein Essen. So attraktiv dieser Mann auch war. Er wollte schließlich nur über Max’ Ring reden. Er bot ihr seine Hilfe an. Sie abzulehnen wäre dumm gewesen. Eine andere Option hatte sie nicht.

»Anna.« Seine Stimme drang wieder durch den Dunst ihrer Gedanken. »Müssen Sie eigentlich alles analysieren?«

»Was?«

»Ich kann Ihre Gedanken praktisch sehen.«

»Nein. Nein!«

»Ich muss jetzt gehen.« Er wandte sich zur Tür.

»Okay.«

Er blieb stehen und sah sie an. »Okay?«

»Ja. Danke. Es wäre toll, wenn uns etwas einfiele, um an den Ring zu kommen. Und heute Abend passt mir gut.«

»Wunderbar. Können Sie mir Ihre Handynummer und die Adresse Ihres Hotels schicken?« Er reichte ihr seine Visitenkarte.

»Klar.« Annas Stimme klang ein wenig rauchig, als sie die Karte nahm.

»Fein. Dann lassen Sie uns fahren.«

»Okay. Vielen Dank.«

Als sie ihm die Treppe hinunterfolgte, verstand sie, warum Max nie über das Schloss hatte reden wollen. Der Verlust musste zu schmerzhaft sein.