7. Kapitel

Schloss Siegel, Dezember 1934

Didi und Jo waren am Nachmittag mit Virginia zum Schlittenhügel gegangen. Offenbar hatten die Jungen beschlossen, Isabelles Freundin zu adoptieren, und Virginia hatte keine Probleme damit, sich auf die beiden Halbwüchsigen einzulassen.

Isabelle befand sich mit Max in der Bibliothek. Sie warteten auf den Nachmittagskaffee, den Max geordert hatte. Draußen vor den großen Fenstern tanzten Schneeflocken. Auf der Terrasse lag eine dicke weiße Decke, und die großen Blumentöpfe waren zum Schutz vor dem kalten Winter verhüllt.

»Ich kann mir kaum vorstellen, wie es sein muss, in solch einer Naturschönheit aufzuwachsen«, sagte Isabelle. Sie wandte sich vom Fenster ab.

Max lehnte an einem Ledersessel vor den Bücherregalen, die vom Boden bis zur Decke reichten. Er gesellte sich zu ihr. »Ich wünschte, ich hätte die Zuversicht, das alles hier bewahren zu können.«

Isabelle wandte sich zur Tür, als ein Dienstmädchen mit einem Wägelchen eintrat und Kuchen und Gebäck auf den Tisch stellte.

Sobald sie wieder gegangen war, schenkte Isabelle Kaffee ein.

»Du musst einen von diesen hier probieren. Man nennt sie Berliner Pfannkuchen«, sagte Max und deutete auf ein Gepäck. »Er ist mit Pflaumenmus gefüllt.«

»Pfannkuchen? Darunter stelle ich mir etwas anderes vor.« Isabelle lächelte, als er ihr das zuckrige runde Ding auf den Teller legte. Als sie einen Bissen probierte, hielt sie seinen Blick fest. Es schmeckte köstlich. »Bitte sag mir, dass diesem Anwesen nichts passieren kann.«

»Das kann ich nicht, denn ich weiß es nicht. Wir müssen in der Lage sein, das Dorf zu unterstützen. Und für Arbeit zu sorgen.« Max rührte seinen Kaffee und blickte einen Moment lang nachdenklich ins Leere. »Nürnberg war seltsam.«

»Danach wollte ich dich schon fragen«, sagte Isabelle. Er hatte in seinen Briefen nichts von den Parteitagen erwähnt, aber das Thema stand unausgesprochen zwischen ihnen.

»Es war beinahe mystisch«, sagte er schließlich. »Der Prunk, die Farben … und Tausende von Menschen in der Luitpoldhalle.«

»Und wie hast du es empfunden?« Im Herbst hatte sie sich alles, was es über die Nationalsozialisten zu wissen gab, angelesen. Falls Max sich auf ihre Seite schlagen wollte, musste sie vermutlich auch Stellung beziehen. Jeder Instinkt in ihr sagte nur eins: Nein!

Doch Max war immer noch weit weg. »Bei Hitlers Auftritt wurde der Badenweiler Marsch gespielt. Er ging durch den Mittelgang, während wir Zuschauer grüßten. Die Beleuchtung war sehr stimmungsvoll. Dann spielte das Orchester Beethoven, die Egmont-Ouvertüre. Und wann immer Hitler sprach, war es beinahe wie eine Botschaft von ganz oben.«

Isabelle schwieg.

»Hitler hat uns angewiesen, die Botschaft – seine Botschaft! – zu verbreiten.«

Isabelles Unbehagen wuchs. Sie hatte gelesen, dass die Regierung die Schulen in nationalsozialistischem Sinn umstrukturierte und nur noch eine Religion in Deutschland erlaubt war.

Max erhob sich. »Hitler behauptet noch immer, dass es lediglich dann in Europa Krieg geben wird, wenn die Kommunisten Unruhe stiften. Auf der anderen Seite erstarkt er Deutschland, indem er mit den im Versailler Vertrag erlaubten Mitteln aufrüstet.«

»Eure Jugend marschiert im Stechschritt.« Isabelle bemühte sich um einen sanften Tonfall, aber die Bilder, die sie in den Zeitungen gesehen hatte, bereiteten ihr Übelkeit. Was empfand Max wirklich? Wenn man Pflicht, Ehre, Familie und Vaterland wegließ – was wollte er?

Isabelle wusste, wie schwer es ihm fiel, diese Begriffe von sich selbst zu trennen. Wie vieles davon war ihm in Fleisch und Blut übergegangen? Was gehört zu ihm, was war aufoktroyiert?

Er schenkte ihr ein Lächeln. »Meine Eltern wollen, dass ich die Regierung unterstütze, und habe ich denn eine Wahl? Ich kann doch nicht einfach alles im Stich lassen, was mir lieb und teuer ist. Im Gegenteil: Ich muss alles tun, um es zu schützen.«

Sie stand auf und ging auf ihn zu.

Er hob seine Hand an ihr Gesicht und strich federleicht mit den Fingern über ihre Lippen. »Was immer auch geschieht – ich bete dich an«, flüsterte er.

Isabelle sog unwillkürlich scharf die Luft ein. Was meinte er damit?

Doch sein Blick suchte ihren, und sie war verloren.

Berlin, 2010

Als Wil am Abend die Lobby von Annas Hotel betrat, ging spürbar ein wohliger Schauder durch das weibliche Personal. Aber Anna dachte ja gar nicht daran, den Grund dafür anzuerkennen. Streng rief sie sich in Erinnerung, dass es sich hier um eine geschäftliche Beziehung handelte. Schließlich ging sie bloß mit Wil essen, um Max zu helfen.

Wil ging zielstrebig auf sie zu; die Blicke der anderen schien er nicht wahrzunehmen. »Hey, Anna«, sagte er. »Wollen wir los?«

Er machte weder eine Bemerkung zu dem, was sie trug – ein klassisches schwarzes Kleid, Pumps und ihren schwarzen Lieblingstrenchcoat –, noch schien er sie überhaupt ansehen zu wollen, was Anna nur recht war. Oder? Nun, sie hatte einen professionellen Look angestrebt, denn sie würden zu einem Arbeitsessen gehen. Sonst nichts.

Wil ging zu seinem Wagen, öffnete die Tür für sie und wartete, bis sie auf dem Beifahrersitz Platz genommen hatte.

Als er neben ihr einstieg, kam ihr das Auto plötzlich ein wenig eng vor – enger als am Nachmittag noch. Vielleicht weil es dunkel war und lediglich das Licht der Laternen von draußen hereinfiel. Anna holte tief Luft und ignorierte, was sie fühlte. Es war ärgerlich, aber es würde vorbeigehen. Seit Jahren hatte sie das Gefühl nicht mehr gehabt, und sie würde sich nicht ausgerechnet jetzt davon beeinträchtigen lassen.

»So«, sagte sie aufgesetzt munter.

»Ich wollte mit Ihnen in ein Restaurant außerhalb von Berlin fahren«, sagte Wil, als er den Zündschlüssel drehte. »Falls das für Sie in Ordnung ist.«

Anna blickte aus dem Fenster. Die Gehwege waren voll mit warm eingepackten Leuten, die zum Essen gingen oder einen Schaufensterbummel machten. »Klar«, erwiderte sie. »Ich nehme an, jemand in Ihrer Position kann es sich nicht leisten, wegen Mordes angeklagt zu werden, also warum nicht?«

»Ich hätte bereits heute Morgen jede Gelegenheit gehabt, Sie zu ermorden«, gab er zurück. »Und doch habe ich mich dagegen entschieden.«

Anna musste lächeln, blickte allerdings weiterhin geradeaus.

Wil streckte die Hand nach dem Autoradio aus, nachdem er auf dieselbe Straße eingeschert war, die sie heute Morgen genommen hatten. »Was für Musik mögen Sie?«, fragte er.

»Oh, ich bin da sehr vielseitig«, entgegnete sie. »Jazz. Klassisch und Modern.«

Er lachte leise. »Danke, sehr hilfreich.«

Er schaltete einen unaufgeregten Jazz an, was genau der Stil war, den Anna am liebsten hatte. Sie setzte sich zurück und genoss die weichen Klänge des Kontrabass.

Wil blieb den größten Teil der Strecke schweigsam. Er schien zufrieden, einfach nur zu fahren, und Anna war es recht. Nach einer guten Dreiviertelstunde bog er ab und fuhr durch prächtige Tore auf eine gut beleuchtete Allee, deren Bäume noch kahl waren.

»Schon wieder ein Schloss?«, fragte Anna. Es wäre interessant zu wissen, wie viele dieser alten, einst prächtigen Bauten dem Verfall preisgegeben waren. Bestimmt würde eine Recherche zeigen, dass –; streng rief sie sich zur Ordnung. Sie tat es wieder! Ihre nervösen Gedanken nahmen automatisch Zuflucht zu den verlässlichen Zahlen.

»Ja, wieder ein Schloss«, antwortete Wil.

Doch nun jagten Annas Gedanken hierhin und dorthin. Worüber würden sie beim Essen reden? Tagsüber hatte sie sich solche Fragen nicht stellen müssen – sie hatten ein Ziel und eine Aufgabe gehabt. Aber was, wenn die Unterhaltung versickerte, sobald sie wussten, wie sie wegen Max’ Ring vorgehen würden? Anna schüttelte den Kopf. Das war doch albern. Sie konnte Wil schließlich immer noch nach seiner Arbeit fragen, ein Standardthema für Small Talk.

Als die Auffahrt sich zu einem Vorplatz öffnete, musste Anna lachen. »Das könnte sich wohl nicht stärker von Schloss Siegel unterscheiden«, bemerkte sie.

Wil sagte nichts, während sie den Anblick in sich aufnahm. Scheinwerfer strahlten die zartgelben Mauern des erhabenen Bauwerks an. Die Fassade war durchsetzt von symmetrischen Reihen großer, von Vorhängen eingefasster Fenster, die zum größten Teil erleuchtet waren. Direkt vor dem Eingang parkten schicke, auf Hochglanz polierte Wagen.

Wil steuerte den Parkplatz zur Rechten an.

»Tja«, bemerkte Anna, »wenn das nicht ein gutes Beispiel dafür ist, was mit alten Gemäuern geschehen kann!«

Wil fing ihren Blick ein, und seine Stimme war sanft, als er schließlich zum Reden ansetzte. »Das war einmal das Schloss meiner Familie.«

Schloss Siegel, Dezember 1934

Jeden Abend um acht Uhr gab es im Salon einen Umtrunk, und heute waren zum Abendessen Gäste geladen. Isabelle saß vor dem Spiegel in ihrem Zimmer. Draußen regnete es, aber hier drinnen war es gemütlich. Virginia hockte auf der Bettkante, während Bertha Isabelles Frisur den letzten Schliff gab.

Sobald Isabelle zufrieden mit ihrem Äußeren war, raffte sie den unteren Teil ihres bodenlangen Abendkleids und folgte Virginia zur Treppe. Aus dem Salon erklangen Stimmen und Kammermusik; eigens zu diesem Anlass war eine kleine Gruppe Musiker von der Berliner Philharmonie gekommen.

»Schubert«, überlegte Isabelle.

»Keine Ahnung«, sagte Virginia, raffte ebenfalls ihr Kleid mit einer Hand und legte die andere aufs Geländer. »Jedenfalls habe ich mich schon längst in den Lebensstil hier verliebt.«

Isabelle zögerte an der obersten Stufe. Es war so verlockend, Max’ politisches Dilemma mit Virginia zu besprechen. Aber nun war nicht der richtige Zeitpunkt, eine tiefergehende Diskussion zu führen. Isabelle folgte ihrer Freundin die Treppe hinunter und in den warmen Salon, wo die Gäste vor den großen französischen Fenstern standen und plauderten. Die Terrasse draußen war beleuchtet, und die Szenerie war in ihrer kargen Schönheit märchenhaft.

Junge Offiziere standen mit der Familie und Freunden des Hauses in Grüppchen zusammen; sie kamen aus Eberswalde, wo sich ein Regimentshauptquartier befand. Unter den Gästen waren auch einige junge Frauen – zweifellos Töchter von befreundeten Familien –, doch alle Köpfe wandten sich um, als Isabelle und Virginia eintraten.

Max erschien sofort an Isabelles Seite. Er legte ihr eine Hand auf den unteren Rücken, und ein Diener kam und bot den jungen Damen Getränke an. Zwei Offiziere setzten sich sofort in Bewegung, als sie den Salon durchquerten; offenbar hatten sie erkannt, dass Isabelle zwar durch Max belegt, Virginia aber ohne Begleitung war.

Max, der längst wusste, dass Virginia bestens in der Lage war, sich um sich selbst zu kümmern, führte Isabelle zu den Fenstern.

»Es ist heute eine ziemlich formelle Angelegenheit, fürchte ich«, sagte er.

Isabelle blickte sich um. »Es ist herrlich.« Sie schenkte ihm ein Lächeln.

»Mutti pflegt unsere Bekanntschaften sehr gewissenhaft. Andersfalls findet sie das Landleben zu langweilig.«

Um halb neun erschien der Butler in der Tür und verkündete, dass man sich zu Tisch begeben möge. Max bot ihr mit einem Lächeln seinen Arm. Isabelle bemerkte, dass er dabei einen raschen Blick zu Virginia warf, womit er sich ohne Zweifel vergewissern wollte, dass auch sie jemanden hatte, der sie zu Tisch geleitete. Erneut war Isabelle entzückt über seine Fürsorglichkeit. Wäre sie nicht schon bis über beide Ohren verliebt gewesen, wäre es spätestens jetzt gänzlich um sie geschehen gewesen.

Max führte sie durch das angrenzende Speisezimmer, auf dessen Tapete farbenfrohe Vögel vor dunklem Blattwerk prangten. Lampen verbreiteten ein weiches Licht, und die langen weißen Kerzen in den silbernen Haltern auf dem Tisch waren entzündet.

»Das ist ein so gemütlicher Raum«, sagte Isabelle. »Ich muss immer daran denken, dass meine Großmutter hiervon bestimmt begeistert wäre.«

»Das kleine Speisezimmer ist auch einer meiner liebsten Räume hier«, gab Max zurück. »Hoffentlich kommt uns deine Großmutter bald besuchen.«

Isabelle kaute auf ihrer Unterlippe, während sie sich auf die nächste Doppeltür zubewegten, die zum großen Speisesaal führte. Der Gedanke daran, dass Marthe nach Schloss Siegel kommen würde, versetzte ihr einen Stich. Sie konnte die Wahrheit über ihre Großmutter nicht viel länger für sich behalten – es war auch Marthe gegenüber nicht fair. Doch je länger Isabelle es herauszögerte, umso schwerer fiel es ihr.

Beim Essen unterhielt sich Isabelle gezwungenermaßen mit den Offizieren, die links und rechts neben ihr saßen und sich recht passabel auf Englisch ausdrücken konnten. Mit wenig Appetit stocherte sie in ihrem Essen herum: Klößchen in einer cremigen Sauce, Rumpsteak mit Röstzwiebeln und Blaubeerpfannkuchen sowie Fliederbeersuppe mit Eischneenocken. Erst zwei Stunden später konnte sie sich in Max’ Armen beim Tanzen im Salon wieder entspannen.

Nach einigen Runden durch den Saal entdeckte Isabelle Virginia, die von einer Gruppe junger Männer umringt war und eine Grimasse schnitt, als sie Isabelles Blick begegnete. Isabelle erkannte Virginias Gesichtsausdruck und bat Max, sie kurz zu entschuldigen, sie müsse mit Virginia reden.

»Virginia, verzeih, dass ich störe, aber kannst du dich einen Moment lang loseisen?«, fragte Isabelle und setzte ein strahlendes Lächeln auf. »Ich brauche dich dringend.«

»Oh, wirklich, Darling?«, gab Virginia in bester Südstaatenmanier zurück.

»Ja, wirklich.« Isabelle gab alles, um sich das Grinsen zu verkneifen. »Ich habe ein ganz schreckliches Problem.«

Die jungen Männer blickten so niedergeschlagen, wie nur junge Burschen blicken konnten, die der Meinung gewesen waren, eine reelle Chance zu haben.

»Vielleicht können wir ja auch helfen«, sagte einer der Offiziere in gebrochenem Englisch eifrig. »Bleiben Sie doch einfach. Und reden mit uns.«

»Wir sollten uns lieber zurückziehen«, sagte Virginia. »Ihr Jungs schafft das schon ein Weilchen ohne uns.«

»Aber Sie kommen wieder, oder?«, sagte ein anderer flehend.

Virginia tätschelte ihn mit ihrer behandschuhten Hand. »Aber natürlich kommen wir wieder«, versicherte sie ihm. Dann hakte sie sich bei Isabelle ein und ließ sich davonführen.

»Gott sei Dank, dass du mich gerettet hast«, sagte sie, als sie außer Hörweite waren. Sie hatten das Vestibül erreicht, und Virginia steuerte auf die Treppe zu, ging daran vorbei und bog in einen Korridor ein, in dem sie noch nie gewesen waren. »Komm, hier entlang.«

Isabelle hielt sie zurück. »Nicht. Da können wir nicht hingehen.«

»Ach, komm schon. Sehen wir uns um. Sei nicht so langweilig.«

Isabelle blieb stehen. »Ich bin nicht langweilig«, sagte sie bestimmt. Sie war an die Direktheit ihrer Freundin gewöhnt, aber sie hatte sie noch nie herablassend behandelt.

»Nein, bist du natürlich nicht, Liebes«, antwortete Virginia in einem Tonfall, den man eher bei einem empörten Kind anwenden würde. Doch ihre Augen blitzten herausfordernd.

»Na gut«, willigte Isabelle mit einem letzten Blick in Richtung Salon ein. »Gehen wir.«

Als ein Diener am anderen Ende des Korridors erschien, zog Virginia Isabelle hastig ins nächste Zimmer. Zierliche Sofas standen Lehnsesseln gegenüber, und Porzellangeschirr war in Vitrinen ausgestellt.

»Ich habe gehört, dass Max in Nürnberg gewesen ist. Auf einem Reichsparteitag«, sagte Virginia, als der Diener vorbeigegangen war.

»Ja«, antwortete Isabelle.

»Was hat er gesagt?«

»Nicht viel.«

»Na ja, jedenfalls haben diese Offiziere kein anderes Thema. Ich baue darauf, dass Max nicht allzu stark in Hitlers Richtung tendiert. Wie siehst du das?«

Isabelle verschränkte die Arme vor der Brust. Irgendwie kam ihr das hübsche Zimmer plötzlich beengt vor. Es war still in diesem Flügel, als seien sie momentan die Einzigen, die sich hier aufhielten. »Er will nur das Richtige tun.«

»Was soll das heißen?«

»Es ist eben nicht so einfach, wie es scheint. Er muss an seine Familie denken, an den Besitz, die Leute, die für ihn arbeiten – er ist sich bewusst, dass die Nazis Arbeitsplätze schaffen und wirtschaftliche Stabilität erreichen können.«

»Diese Jungs da draußen meinen, er sei nicht so engagiert, wie er es sein sollte.«

Isabelle blickte zu Boden und betrachtete das Muster des Parketts. Mit der Schuhspitze fuhr sie an der Kante des hellrosa Teppichs entlang. »Wir sollten nicht hier sein.«

»Verdammt«, sagte Virginia. »Du kannst dieses Thema nicht ignorieren. Dadurch geht es nicht weg.«

»Ich ignoriere das Thema nicht.« Isabelle verspürte ein seltsames Ziehen in der Magengegend. Sie hatte noch nie mit Virginia gestritten. »Ich denke, dass er nur versucht, sich zu informieren. Sein Land braucht dringend eine Perspektive.«

»Sie könnten es auch auf dich absehen, falls sie glauben, dass sie Max auf ihre Seite ziehen können.«

Isabelle lachte. »Max würde mich doch nie in Gefahr bringen. Außerdem bin ich Französin.«

Virginia streckte ihr die Hand entgegen. »Wenn diese Leute den Verdacht haben, dass du Max von seiner Parteitreue abbringen könntest, dann ist es keineswegs abwegig, dass du in Gefahr bist. Vergiss nicht, dass in diesem Land kein Recht auf freie Meinungsäußerung herrscht und überall Spitzel die Ohren offen halten. Jedenfalls demzufolge, was ich gelesen habe.«

»Ich kann mir nicht vorstellen, dass Max etwas zu befürchten hat. Für ihn haben seine Familie und die Leute, die für ihn arbeiten, oberste Priorität. Und er verspürt eine Verantwortung der Zukunft seines Landes gegenüber. Nie würde er sich in etwas Fragwürdiges hineinziehen lassen.«

Virginia legte den Kopf schief. »Ich verstehe. Aber der Punkt ist doch: Wird er zusehen, wenn … bestimmte Dinge geschehen?«

»Max meint, das sind nur Gerüchte.«

Virginia schüttelte den Kopf. »Die Offiziere erzählten etwas von einem Ball in Berlin. Sie finden es gut, dass er hingeht.«

Isabelle kaute auf ihrer Unterlippe. Er hatte gefragt, ob sie mit ihm ginge. »Ja«, sagte sie.

»Organisiert von –«

»Der NSDAP«, flüsterte Isabelle. »Es ist aber doch nur ein Ball.«

»Ach, verdammt.« Virginia strich Isabelle über den Arm. »Mir gefällt das alles nicht.«

Isabelle sah ihrer Freundin in die Augen. »Mach dir keine Sorgen. Einer Sache bin ich mir absolut sicher. Max würde nie etwas tun, was jemanden, der ihm am Herzen liegt, gefährdet.«

Wieder neigte Virginia den Kopf zur Seite.

»Gehen wir zurück«, sagte Isabelle. »Max wird sich schon fragen, wo wir bleiben.« Diesmal nahm sie Virginias Hand in ihre. Es hatte gutgetan, ihre Ansicht zu äußern. Falls es etwas bewirkt hatte, dann, dass sie überraschenderweise noch mehr Vertrauen in Max hatte als zuvor.

Virginia blieb stehen, ehe sie erneut den hell erleuchteten Saal betraten. Ihre Freundin schien ihre Gedanken gelesen zu haben. »Du magst Max vertrauen«, murmelte sie, »aber vertraust du auch Hitler?«