9. Kapitel

Schloss Siegel, 2010

Anna hatte zwei Möglichkeiten, und keine von beiden war besonders vielversprechend. Sie konnte entweder Max anrufen und ihn fragen, ob er sich an die genaue Stelle des Verstecks erinnerte, oder den Boden Brett für Brett aufhebeln. Max anzurufen hatte zumindest im Augenblick keinen Zweck, denn er würde schlafen. Nicht zum ersten Mal hätte Anna sich am liebsten getreten, dass sie nicht versucht hatte, ihm weitere Einzelheiten zu entlocken – wie zum Beispiel die Kleinigkeit, wo in diesem riesigen Zimmer sich ein Ring befand.

Was die zweite Möglichkeit betraf: Es stand ihr nicht zu, etwas in diesem Haus zu zerstören. Außerdem dauerte es bestimmt Stunden, bis man einen Boden entfernte, ganz abgesehen von der Tatsache, dass eine solche Arbeit Annas Fähigkeiten überstieg – und Wils wahrscheinlich ebenfalls.

Wil wühlte in einem Karton, den er mitgebracht hatte, nachdem die Handwerker gegangen waren. Sie hatten das Linoleum abgelöst, den Boden inspiziert und Wil und Anna darüber informiert, dass – wie erwartet – alles vollkommen in Ordnung war.

»Okay, Anna«, sagte er. »Wir sollten wie Profis an das Ganze rangehen.«

Anna blickte auf. »Aha?«, fragte sie, ohne sich das Lächeln verkneifen zu können. Wil blickte mit gerunzelter Stirn und todernster Miene auf die Werkzeuge, die er eins nach dem anderen aus dem Karton holte. Anna musste sich auf die Lippen beißen, um nicht zu kichern.

»Ich habe mir von einem Freund ein paar Sachen geliehen«, erklärte er.

»Wie praktisch«, bemerkte Anna grinsend.

Schließlich fischte Wil ein paar Schutzhandschuhe, einen Zimmermannshammer und ein schwarzes Kästchen heraus. »Ein Scanner«, sagte er und klang selbst beeindruckt.

»Und was scannen wir?«

»Wir fahren damit am Boden entlang, um Rohre und Kabel aufzuspüren.« Jetzt grinste auch er.

»Ach, klar. Entschuldigung.«

»Und dann haben wir noch das hier«, setzte er hinzu und schwenkte den Hammer.

»Gut.«

»Und ein Nageleisen.« Er zeigte ihr etwas, was wie eine kleine Brechstange aussah.

»Man sieht, dass Sie sich mit diesem … diesem Kram bestens auskennen.« Annas Lippen zuckten.

Wil hielt inne und blickte zu ihr auf. »Handwerklich bin ich durchaus begabt.«

Anna gluckste. »Ich würde nicht wagen, etwas anderes zu behaupten. Wo fangen wir an?«

»Hören Sie, ich habe schon all die Werkzeuge mitgebracht. Das Denken werden wohl Sie übernehmen müssen.«

Anna hatte keine Ahnung. Sie betrachtete den Boden. Nirgendwo gab es einen Hinweis darauf, wo sie ansetzen sollten.

»Nun«, sagte sie, »wenn Max nicht irgendwo ein Quader aus dem Boden geschnitten hat, was ja offensichtlich nicht der Fall war, wird er den Ring wohl dort versteckt haben, wo er am leichtesten Zugriff hatte.«

»Hervorragend«, sagte Wil. »Sehen Sie? Darum sind Sie hier.« Das zur Hälfte mit Zeitungspapier beklebte Fenster, an dem er lehnte, rahmte ihn regelrecht ein, und das Licht, das durch die obere Hälfte eindrang, betonte seine attraktiven Gesichtszüge.

»Also.« Anna schaute hastig zur Seite. Er hatte schließlich nicht zu ihrem Vergnügen eine solch verführerische Haltung eingenommen, nicht wahr? Sie hatten zu tun. Langsam ging Anna durch das Zimmer, den Blick auf den Boden gerichtet. »Wir sollten mit den kürzeren Dielen beginnen«, sagte sie. »Schauen Sie mal. Einige sind in der Mitte durchtrennt. Wäre es nicht logisch, dass Max es eher hier versucht hat?«

»Logisch ist auch, dass das Zimmer damals ungefähr in der Mitte einen Teppich gehabt hat. Am besten fangen wir am Rand an.«

Wil fuhr mit dem Ortungsgerät über die kurze Bodendiele, die ihm am nächsten war. Das Kästchen blieb still. Es bestand keine Gefahr, eine wichtige Leitung zu beschädigen.

»Legen wir los«, sagte Anna. »Dennoch ist es eine Schande, diesen schönen Holzboden aufzubrechen. Und eins noch.«

Wil verharrte mit dem Gerät direkt über dem Holz. »Nur eins?«, fragte er, und seine Augen funkelten.

Anna ging zum Fenster. Was würde passieren, wenn sie den Ring gefunden hatten – falls sie ihn denn fanden? Max würde sich vermutlich freuen, aber die Probleme im Dorf lösten sich dadurch nicht. Der Zustand des Herrenhauses und seiner Umgebung behagte ihr nicht, aber was konnte sie schon unternehmen?

»Und?«, hakte er nach, als sie schwieg.

»Vielleicht liegt es nur daran, dass Max im Krankenhaus liegt. Vermutlich macht es alles nur schlimmer«, sagte Anna, eher zu sich selbst denn als Antwort auf seine Frage. »Machen Sie weiter. Tut mir leid, dass ich Sie aufgehalten habe.«

»Nein. Sagen Sie schon.«

Anna schüttelte den Kopf.

»Na los.«

Sie blickte hinaus auf den verwahrlosten Garten. »Na ja, mir erscheint alles bloß so falsch. Das Schloss wird nicht ewig so bleiben. Es wird vollständig verfallen. Dann ist es nicht mehr einfach nur verlassen, sondern –«

»Eine Ruine«, schloss Wil.

Anna nickte. »Noch ist es nicht zu spät, es zu retten, aber in ein paar Jahren vielleicht schon. Und in ein paar Jahren wird Max vermutlich auch nicht mehr da sein, daher …«

»Okay.« Er legte die Brechstange weg. »Ich weiß, dass es schwer ist, aber ich persönlich würde Ihnen nicht dazu raten, einen Rettungsversuch zu starten. Sie vergeuden Ihre Zeit, denn Sie können tatsächlich nichts tun. Mein Großvater hat alles versucht, was möglich war, und ist dennoch gescheitert. Es hat ihn fertiggemacht, also bitte tun Sie sich das nicht auch an.«

Anna stieß einen Seufzer aus. »Ich glaube, ich könnte es auch nicht ertragen.«

»Anna«, sagte er, »wie wär’s, wenn wir heute einfach nur den Ring suchen? Wir können später noch über das Schloss reden, wenn Sie wollen, aber … aber Sie sollten realistisch bleiben.«

Anna schlang die Arme um ihren Oberkörper. Was sollte sie darauf sagen? Realismus war ihr zweiter Vorname! Was war bloß mit ihr los? Sie nahm die Dinge hin, wie sie kamen. Das lag in ihrer Natur. Warum war sie jetzt – hier! – so unruhig? Es war ja nicht so, als hätte sie in ihrem Leben nicht bereits einige Schicksalsschläge hinter sich.

»Ach, ich weiß auch nicht. Anscheinend nimmt mich die Sache mehr mit, als ich dachte«, brachte sie hervor.

Wil fing ihren Blick ein, dann sah er wieder zu Boden. Er hob das kurze Brett mit der Stange an; es löste sich leicht. Anna kam und stellte sich neben ihn. Als sie in den staubigen Hohlraum darunter blickte, geschah etwas Seltsames. Aus irgendeinem Grund tauchte ein anderer Gedanke, ein Gefühl in ihr auf, das genauso stark war wie das zuvor.

Das war Max’ Zimmer gewesen.

Wie viele Geheimnisse, Erinnerungen lauerten unter diesen Bodenbrettern? Und wie oft hatte Max in den vergangenen siebzig Jahren die Augen geschlossen und von ebendiesem Zimmer hier geträumt? Er würde nie zurückkommen. Es nie wiedersehen. Er hatte seine Chance vertan. Das Leben, das er einst für sich geplant hatte, und das, das er dann schließlich gelebt hatte, hätten sich nicht stärker voneinander unterscheiden können. Er hatte sich dazu entschieden, nicht zurückzukehren. Er hatte eine Wahl getroffen. Wieso? Was genau war es, was er bereute?

Wie plötzlich Max’ Kindheit ausgelöscht worden war! Und doch war alles hier. Das Schloss, durchsetzt mit Geschichte, Zeuge der Geschehnisse. Was mochte der Grund dafür sein, dass er gegangen war und allem Vertrauten den Rücken gekehrt hatte? Was war geschehen? Und warum?

»Alles in Ordnung mit Ihnen?«

»Ja«, sagte Anna leise. Sie sah sich erneut im Zimmer um.

»Ich denke, wir sollten einfach weitermachen.« Wil rückte ein Stück weiter und ging erneut mit dem Ortungsgerät über den Boden.

Nachdem er sich eine Weile damit beschäftigt hatte, setzte er sich auf seine Fersen zurück, als warte er auf ihre Anweisungen. Eines war sicher: Sie wollte das Schloss heute nicht ohne Max’ Ring verlassen. Gleichzeitig war sie sich bewusst, dass Wils Zeit kostbar war.

»Ich will Ihnen nicht den kompletten Tag stehlen«, sagte sie schließlich. Die Worte kamen sanfter heraus, als sie es vorgehabt hatte, und schwebten einen Moment lang in der unheimlichen Leere des Raumes. Die Stille in diesem alten Palast schien sich alles zu eigen zu machen. Längst vergangene Empfindungen und Gefühle drifteten wie Gespenster in der reglosen Atmosphäre.

Lag es daran, dass das Schloss vom Flüstern des Waldes umgeben war? Oder war es die Tatsache, dass das einst vermutlich so lebhafte Haus aufgegeben worden war? Anna wusste es nicht, doch das Gefühl, dass sich etwas zusammenbraute, wurde mit jeder Minute stärker.

Es war, als würde Schloss Siegel warten.

Und Anna hatte das unheimliche Gefühl, dass es auf sie wartete.

»Sie stehlen mir nicht den Tag«, sagte Wil kopfschüttelnd. »Machen wir weiter.«

Anne nickte. »Okay. Und danke.«

»Oh, ich bin in meinem Element.« Wil grinste und begann erneut, mit dem Scanner zu arbeiten. Stück für Stück arbeiteten sie sich vor – er hob die Bodenbretter an, sie untersuchte den Hohlraum darunter –, und nach einer Weile hatten sie die Hälfte des Raums geschafft.

Die Zeit verging wie im Flug, und bald warf die tief stehende Sonne lange Schatten auf den Boden. Anna war so versunken in ihre Aufgabe, dass sie nichts anderes mehr wahrnahm, doch zum Glück war auch Wil mit Herz und Seele dabei. Kein einziges Mal mahnte er die Zeit an, kein einziges Mal machte er eine Bemerkung dazu, Max könnte den Ring vielleicht so gut versteckt haben, dass sie ihn niemals finden würden – oder dass jemand anderes es längst getan hatte.

Kurz nach vier Uhr nachmittags setzte er sich erneut zurück auf die Fersen. »Anna«, sagte er leise.

Sie beugte sich über den letzten Hohlraum, den er geöffnet hatte. Sie glaubte etwas gesehen zu haben, als sie das Brett wieder zurückdrücken wollte, und tastete durch den Dreck. Immer wieder hoffte sie, dass ihre Finger etwas erspüren würden, aber stets gab es nichts außer Staub, Schmutz und Steinchen.

Als er sie rief, sah sie auf. Er war aufgestanden, sagte jedoch nichts mehr, und Anna erhob sich und ging zu ihm.

»Machen Sie es«, sagte er und trat ein kleines Stück zur Seite, sodass sie sich über die Stelle beugen konnte, die er soeben frei gemacht hatte.

Und da war es. Ein Samtkästchen – Samt, der einst dunkelblau gewesen sein musste, nun aber durch das Alter und den Staub grau geworden war. Das Material war an einigen Stellen fadenscheinig geworden, sodass blasses, aber unversehrtes Holz zu sehen war.

Anna griff in das Loch. Obwohl ihre Hände ruhig waren, bebte sie innerlich und jubelte zu einer Melodie, die nichts mit ihr, aber umso mehr mit Max und seiner großen Liebe zu tun hatte.

Schloss Siegel, Weihnachten 1934

Am Weihnachtsmorgen stand Max neben Isabelle, als sie sich von den Köstlichkeiten bedienten, die zum Frühstück aufgetischt worden waren.

»Was hast du heute vor?«, fragte er.

Isabelle lachte. »Was ich vorhabe? Ich glaube, ich habe heute Zeit.«

Er stand so dicht bei ihr, dass sie ihren Kopf an seine Schulter hätte legen können. »Was war denn gestern Abend?«, fragte er.

Sie hatte beschlossen, ihm nichts von ihrem beunruhigenden Gespräch mit Nadja zu sagen. »Nichts Besonderes.«

Max schwieg eine Weile, und Isabelle begriff, dass sie ihn nicht getäuscht hatte, doch er wechselte das Thema. »Ich habe nachgedacht«, sagte er. »In letzter Zeit war ich viel zu sehr mit mir selbst beschäftigt, dabei bist du extra aus Frankreich gekommen. Verzeih mir.«

»Unsinn – sei nicht albern«, sagte sie lachend. »Ich amüsiere mich prächtig.«

»Hast du Lust auf eine Schlittenfahrt heute Morgen? Nur wir zwei?«

Isabelle fühlte sich, als hätte er ihr angeboten, sie zum Cocktail an die französische Riviera zu fliegen. »Das klingt gut«, antwortete sie und konnte nichts gegen das Lächeln tun, das sich auf ihrem Gesicht ausbreitete.

Eine Stunde später half ihr eine Kammerdienerin, die Überschuhe anzuziehen, und sie hielt sich an Max fest, als sie durch die Eingangstür hinaustraten, wo der Schlitten am Fuß der Treppe auf sie wartete. Es war still draußen, und die Sonne schien mit einer Klarheit, die den verschneiten Garten zum Glitzern brachte.

Als Isabelle, in Decken gehüllt und die Hände in Fäustlingen, auf dem Schlitten saß und Max neben ihr Platz nahm, ließ zum ersten Mal seit Tagen die Anspannung nach, derer sie sich erst jetzt richtig bewusst wurde. Die winterliche Landschaft um sie herum war nicht nur still, sondern auch friedlich.

Max fuhr sie durch den Park zum zugefrorenen See, wo das schneebedeckte Boot vertäut lag, an der Orangerie vorbei und auf einem Pfad in den Wald hinein, den er – wie er ihr erzählte – im Sommer zu Pferd entlangritt.

Es war leicht, sich hier draußen Elfen und andere Fabelwesen vorzustellen.

Max lachte laut, als Isabelle ihre Gedanken aussprach. »Du bist lustig«, sagte er.

»Komm schon, ich bin bestimmt nicht die Erste, die so denkt.«

»Nein, da hast du recht.« Auf einer Lichtung hielt er an. »Ich wollte dir etwas zeigen.« Er half ihr vom Schlitten herunter und hielt sie am Ellenbogen, als er sie in den Wald hineinführte.

Der Wald war dicht, und erst, als sie ein paar Schritte gegangen waren, entdeckte sie, was von der Lichtung aus nicht zu sehen gewesen war. Ein Häuschen mit verspielten Erkern und Türmchen und einer kleinen, halbrund abschließenden Tür erhob sich aus dem Schnee.

»Oh, jetzt willst du mich auf den Arm nehmen«, sagte Isabelle und streckte die Hand aus, um die steinerne Mauer der schrulligen Hütte zu berühren. »Das könnte aus einem Märchenbuch stammen.«

»Mein Großvater hat es gebaut«, erklärte er. »Für meine Großmutter, die er abgöttisch geliebt hat. Sie war Engländerin – und sie haben sich in Paris kennengelernt.«

»Oh.« Isabelle wandte sich zu Max um.

»Im Sommer danach brachte er sie hierher«, fuhr er fort und strich ihr sanft über die Wange. »Und bat sie, ihn zu heiraten. Sofort und ohne Bedingungen.«

Und ohne Hitler, dachte Isabelle, verdrängte diesen störenden Gedanken aber, als habe er überhaupt keine Berechtigung. Wäre er doch vollkommen unsinnig, wäre er doch die Illusion, nicht diese wunderschöne, vermeintlich heile Welt!

Max beugte sich zu ihr herab und küsste sie so sanft auf die Lippen, dass Isabelle glaubte, sterben zu müssen, wenn er je wieder aufhörte.

»Wir machen besser kehrt«, flüsterte er nach einem Augenblick, ohne den Bann zu brechen.

Es würde immer noch die herrliche Fahrt an seiner Seite zurück zum Schloss geben. Der Tag war noch nicht vorüber, die Woche genauso wenig.

»Die Köchin wird bald den Gong zum Mittagessen schlagen«, fügte Max hinzu und zog die Klappen an ihrer Fellmütze herab, sodass sie die Ohren wärmten. »Sie kriegt schlechte Laune, wenn jemand zu spät kommt.«

»Oje«, erwiderte Isabelle lächelnd. »Dann lassen wir sie besser nicht warten.«

»Dennoch wünschte ich es mir«, murmelte er, während er ihre Hand nahm und sie zum Schlitten zurückkehrten. »Dennoch wünschte ich, wir hätten mehr Zeit miteinander.«

»Nun, für eine kleine Weile geht ja keiner von uns beiden irgendwohin«, sagte Isabelle und stieg in den Schlitten.

Etwas huschte über Max’ Miene, und der Schatten eines schweren, knorrigen Astes warf einen merkwürdigen Umriss auf seine Gestalt, als er ebenfalls einstieg. Doch sobald sie sich in Bewegung setzten, war der Schatten fort, und die Sonne schien wieder auf den Pfad, der sie durch den verschneiten stillen Wald hinaus aufs Feld führte.

Zwei Tage später stieg Isabelle in Berlin aus Max’ Außenlenker. Sie war in Paris schon auf mehr Bällen gewesen, als sie zählen konnte, obwohl sie sich stets als Außenseiterin gefühlt hatte. Hier in Berlin in dem prächtigen, luxuriösen Adlon, einem der berühmtesten Hotels Europas, war die Situation eine ganz andere. Sie war sich jedoch bewusst, dass sie es hauptsächlich anders empfand, weil sie mit Max hier war.

Ihr Seidenkleid saß oben eng auf Figur und fiel gerade bis zu den Füßen hinab. Als sie ihren Pelzmantel auszog, legte Max ihr eine Hand auf den Rücken. Noch nie in ihrem Leben hatte sie sich so lebendig gefühlt.

Die Menschenmenge bestand vor allem aus Würdenträgern und ausländischen Pressesprechern, die sich in einem prachtvollen Saal mit viel Gold und unzähligen Blumen mischten. Die Gäste wirkten kultiviert und bewegten sich mit größter Selbstverständlichkeit in der eleganten Umgebung, und zum ersten Mal konnte Isabelle nachvollziehen, wie Marthe sich gefühlt haben musste, nachdem sie in die höchsten Ränge der Pariser Gesellschaft aufgestiegen war – zwar endlich als dazugehörig akzeptiert, aber dennoch stets ein wenig am Rand.

Max repräsentierte seine Familie. Als größter Landbesitzer Preußens war Otto Albrecht eingeladen worden, doch er hatte die Einladung an seinen ältesten Sohn weitergegeben.

Später am Abend wurde Max von einem amerikanischen Journalisten in ein Gespräch verwickelt; der Mann wollte wissen, wie Max sich die Zukunft seiner Familie in einem von Hitler regierten Deutschland vorstellte. Max hielt Isabelles Hand; sie unterhielt sich wiederum mit dem Mann auf ihrer Seite, einem charmanten Schweizer Reporter. Sie hatte nach dem Essen, das an einer Tafel für zweihundert Gäste stattgefunden hatte, mit ihm getanzt.

Doch es geschah erst etwas später, dass Isabelle schwer ums Herz wurde. Ein Mann in Uniform gesellte sich zu Max und begann ein Gespräch mit ihm, und Isabelle packte ein ungutes Gefühl. Max war eindeutig interessiert an dem, was der NSDAP-Mann zu sagen hatte, und als es Isabelle gelang, Max’ Blick einzufangen, wandte er ihn rasch ab. Am Schluss schüttelten die beiden sich die Hände, und Isabelle hörte, dass Max versprach, sich morgen zum Dienst zu melden.

Isabelle fröstelte. Plötzlich wollte sie nach Hause.

Am folgenden Morgen stellte die Dienerschaft sich an der langen Auffahrt auf, um Max zu verabschieden. Am liebsten hätte Isabelle ihm die Arme um den Nacken geschlungen und nie wieder losgelassen, aber ihren Gefühlen freien Lauf zu lassen war undenkbar, und es kostete sie bereits alles, was sie an Kraft aufbringen konnte, um nicht in Tränen auszubrechen.

Max hatte ihr auf der Heimfahrt von Berlin in den frühen Morgenstunden erzählt, dass Hitler vorhatte, die allgemeine Wehrpflicht wiedereinzuführen. Es gab Gerüchte über eine Zwangsverpflichtung, sodass er vermutlich ohnehin über kurz oder lang eingezogen worden wäre.

Vorher hatte er sich lange mit seinen Eltern unterhalten. Sie betrachteten es als seine Pflicht, der Armee beizutreten und sie nicht zu enttäuschen, und erwarteten von ihm, dass er für Deutschland, ihre Familie, das Dorf, ihre Traditionen und ihren Wohlstand eintrat und ihre Heimat beschützte. Max sollte sich mit seinem Dienst am Vaterland in die Reihe der aufrechten Vorfahren einreihen und wie sie, seinen Vater eingeschlossen, in den Krieg ziehen.

Nun war Otto Albrecht, der wohlhabende Landbesitzer, still, während seine Frau Elsa ihrem Sohn die Hand auf die Schulter legte. Dann stellte sie sich auf die Zehenspitzen und küsste seine noch glatte, jugendliche Wange.

Als Max zu Isabelle kam, um sich offiziell zu verabschieden, machte er es kurz. Nach dem Frühstück hatte er sie auf der Treppe abgefangen und sie in die Arme gezogen. Isabelle hatte in der Nacht zuvor kaum geschlafen, doch als sie nach ihrem Abschied von Max in den Spiegel gesehen hatte, waren ihre Augen weit offen gewesen. Hellwach. Und auf ungute Art wachsam.

Er beugte sich zu ihr herab und küsste sie auf die Wange. Sie atmete den vertrauten Duft seines Rasierwassers ein, speicherte die Erinnerung daran und schloss die Augen.

»Mein Liebling, ich hoffe, dass es nicht lange dauert«, sagte er.

Isabelle nahm seine Hand und strich ein letztes Mal mit den Fingern über seine Handfläche. Sie konnte nur nicken, ihr fehlten die Worte. Wieso war es so schlimm, von ihm getrennt zu sein? Darauf hatte sie keine vernünftige Antwort – genauso wenig wie auf die Fragen, warum sie ihn liebte, was in aller Welt nun geschehen sollte oder wann sie ihn wiedersehen würde.

Berlin, 2010

Wil hielt vor Annas Hotel an. Die Fahrt von Schloss Siegel zurück nach Berlin war schnell verstrichen. Anna hielt das Schmuckkästchen in ihren Händen. Wil und sie hatten sich über Belanglosigkeiten unterhalten, doch das Unausgesprochene hing zwischen ihnen wie die kaputte Glühbirne in der Eingangshalle von Schloss Siegel. Eingeschaltet und funktionstüchtig würde sie alles ausleuchten – die Risse in ihrer Unterhaltung, den nicht gekehrten Staub ihrer beider Vergangenheit und all das, was sich zwischen ihnen zu verdichten schien, sobald sie einander begegneten.

Durch die Drehtür kamen und gingen Menschen, die meisten davon mit einem Stadtplan in der Hand. Berlin-Touristen.

»Tja, ich denke, Sie haben, weswegen Sie gekommen sind«, sagte Wil. Seine Stimme wurde leiser, als er den Motor abdrehte. Er schwieg einen Moment, ehe er wieder ansetzte. »Anna, ich weiß, dass Sie über das Schloss reden wollten. Aber ich würde Ihnen empfehlen, es gut sein zu lassen. Kehren Sie zu Ihrem Leben in den USA zurück. Vergessen Sie die Vergangenheit.«

»Das kann ich nicht.« Sie hätte sich nie träumen lassen, dass sie das Schicksal des alten Herrenhauses so mitnehmen würde. Normalerweise war sie sehr sachlich; eher beklagten andere sich, dass sie zu praktisch dachte. Doch würde sie nun zurückkehren, Max seinen Ring geben und einfach weiterzumachen versuchen, würde sie sich nur selbst belügen.

Wils Augen schienen zu lächeln. »Kümmern Sie sich um Ihren Großvater. Offenbar haben Sie ein schönes Leben in San Francisco. Setzen Sie nicht alles aufs Spiel, bloß um Geister der Vergangenheit zu jagen. Sie können hier nichts ändern.«

Anna drehte das verblasste Kästchen in ihren Händen. Sie drückte auf den kleinen silbernen Knopf, der den Verschluss öffnete, klappte den Deckel hoch und betrachtete den Ring, der in dem fadenscheinigen Seidenfutter steckte.

Der Ring selbst war erstaunlich gut erhalten. Natürlich war er mit der Zeit angelaufen, doch auch siebzig Jahre Dunkelheit hatten seiner ihm eigenen Schönheit nichts anhaben können. Er war das Symbol eines Traums, der niemals wahr geworden war. Aber warum? Was war geschehen? Was hatte Max daran gehindert, mit der Frau zusammen zu sein, die er geliebt hatte? Warum bereute er so bitter? Und was war der Grund dafür, das alles siebzig Jahre lang geheim zu halten?

Wils Hand lag auf dem Lenkrad, doch sein Blick fixierte den Ring. Ein einzelner Diamant auf einem Weißgoldband, in das ein feines Art-déco-Muster eingraviert war.

»Es kommt mir vor wie ein umgekehrtes Märchen«, flüsterte Anna.

»Wieso?« Seine Stimme klang nachsichtig.

»Max’ Geschichte. Glücklich bis an ihr Lebensende hat nicht geklappt … aber er hat sich in der neuen Welt ein eigenes Es war einmal erschaffen.«

Sie war froh, dass er nicht lachte.

»Ich gehe jetzt besser«, sagte Anna, klappte das Kästchen zu und löste den Sicherheitsgurt. »Vielen Dank. Ich weiß, wie dankbar auch Max sein wird.«

»Es war mir ein Vergnügen«, gab Wil zurück. »Kein gewöhnlicher Fall. Es war wirklich interessant.«

Dass Wil die Sache als »Fall« bezeichnete, versetzte ihr einen Stich. Doch sie unterdrückte das Gefühl. »Sie brauchen noch eine Adresse für die Rechnung.«

»Seien Sie nicht albern.«

Anna wandte sich ihm zu, und ihre Blicke begegneten sich.

Er fuhr sich mit der Hand über die Bartstoppeln am Kinn. »Tun Sie das nicht«, sagte er mit einem Kopfschütteln und öffnete die Autotür.

Plötzlich geriet in Anna etwas in Bewegung. Sie konnte es nicht dabei belassen. Sie musste etwas sagen, und zwar jetzt sofort.

»Wil, ich kann einfach nicht nach Hause fahren und Siegel dem Schicksal überlassen. Ich muss etwas tun. Was auch immer Sie davon halten.«

»Es ist sinnlos. Sie werden nicht weit kommen.«

»Ich weiß ja, dass Ihr Großvater es versucht hat und gescheitert ist. Was ihn schwer getroffen hat. Ich kann das nachvollziehen. Aber wenn ich nichts tue, wird mich das mein ganzes Leben verfolgen.«

»Sie vergeuden nur Ihre Zeit.«

»Ich habe mir auf der Rückfahrt etwas überlegt.«

Wil schüttelte den Kopf, doch Anna erkannte Anteilnahme in seinen Zügen.

»Zuerst muss ich rausfinden, was genau passiert ist. Warum das Dorf, die Umgebung und das Schloss so heruntergekommen sind. Dann rede ich mit der neuen Besitzerin und versuche sie zu überreden, etwas zu unternehmen. Ich werde nicht versuchen, das Schloss zu kaufen, insofern ist die Situation eine andere als bei Ihrem Großvater, doch es wäre ein Verbrechen, nicht alles zu tun, um den Verfall aufzuhalten.«

»Aber Sie sind keine Deutsche. Sie leben nicht einmal hier. Wie wollen Sie denn überhaupt vorgehen?«

»Ich bin zu einem Viertel Deutsche. Die Heimat meiner Vorfahren liegt mir also im Blut.«

Wil stützte sich auf das Lenkrad. »Sie werden das schon öfter gehört haben, aber ein Außenseiter kann unmöglich begreifen, was sich hier zugetragen hat. Es ist verdammt komplex. Sie können nicht einfach herkommen und –«

»Aber jemand muss es doch probieren.«

»Man wird Ihnen vorwerfen, sich in Dinge einzumischen, die Sie nichts angehen. Das Schloss gehört jetzt jemand anderem, es liegt also nicht in Ihrer Hand. Tut mir leid, dass ich so direkt bin, doch Sie müssen die Sache vergessen. Lassen Sie es.«

»Ich würde mich furchtbar fühlen, wenn ich es nicht wenigstens versuche.«

Ein ironischer Ausdruck huschte über Wils Züge. »Sind Sie sich sicher, dass Sie nicht eigentlich Anwältin sind? Anna, die Kunst liegt in der Wahl. Sich in ein Projekt zu stürzen, von dem man tief im Inneren weiß, dass es einen fertigmachen wird, ist selbstzerstörerisch. Wie ich bereits sagte –«

»Wie Sie bereits sagten, ist es eine Frage der Wahl. Und die treffe ich selbst.«

Wil zog die Brauen hoch.

»Auf jeden Fall muss ich zuerst etwas mehr … recherchieren. Würde es Ihnen etwas ausmachen, wenn ich Sie kontaktiere, falls ich Hilfe brauche?«

Wil lehnte sich in seinem Sitz zurück. »Ich habe Sie gewarnt.«

Ärger keimte in Anna auf, aber sie brauchte Wil, wenn sie mit der Frau reden wollte, die Schloss Siegel gekauft hatte.

»Übrigens hat es keinen Sinn, im Grundbuch zu suchen«, sagte Wil beinahe fröhlich. »Das Schloss ist auf eine Investmentgesellschaft eingetragen, und der Name bedeutet nichts und lässt keine Rückschlüsse zu. Sie werden darüber also nichts herausfinden. Nur für den Fall, dass Sie daran gedacht haben.«

»Aha.«

Anna konnte verstehen, dass Wil nicht tatenlos zusehen wollte, wie jemand jahrelang Energie und Mittel in etwas steckte, was seinen Großvater zugrunde gerichtet hatte. Wenn sie ihn aber auf ihre Seite ziehen konnte, mochte er ihr eine große Hilfe sein. Im Grunde genommen war er genau der, den sie brauchte: Er sprach Deutsch, kannte sich in der Gegend aus, wusste über ihre Familiengeschichte Bescheid und vertrat die neue Besitzerin.

Anna legte die Hand auf den Türgriff.

»Anna …«, begann Wil.

»Danke noch mal für Ihre Hilfe.« Sie würde ihn mit Höflichkeit erschlagen. »Das weiß ich wirklich zu schätzen.« Sie streckte ihm die Hand entgegen.

Wil schien sich ein Grinsen zu verkneifen. »War mir ein Vergnügen«, antwortete er. »Passen Sie auf sich auf. Und lassen Sie es sich in San Francisco gut gehen.«

Anna nickte und stieg aus dem Wagen.

Als sie wieder in ihrem Zimmer war, rief sie als Erstes Max an. Während sie wartete, dass sie durchgestellt wurde, lehnte sie sich auf ihrem Bett zurück und blickte auf das Gebäude dem Hotel gegenüber – einer der vielen nagelneuen Bürokomplexe im ehemaligen Osten.

»Oh, mein liebes Kind«, sagte Max, als Anna ihm erzählt hatte, dass sie den Ring gefunden hatte. Sie ließ die meisten Einzelheiten aus und berichtete nur, wie es sich angefühlt hatte, in seinem ehemaligen Zimmer zu stehen, und dass die Aussicht auf den See vermutlich noch so war wie früher.

»Vielen, vielen Dank«, sagte er. »Wirklich. Du kannst es dir nicht vorstellen. Allein den Ring wiederzusehen …«

In seiner Stimme schwang jedoch eine Müdigkeit mit, die Anna Sorgen machte. Sie beschloss, ihm noch nichts von ihrem Plan zu sagen, mehr über das Schloss herauszufinden.

»Großvater«, fuhr sie fort, »würde es dir etwas ausmachen, wenn ich noch eine Weile in Deutschland bleibe?«

Max lachte leise. »Es würde mich freuen. Ein kleiner Urlaub tut dir bestimmt gut.«

»Danke.« Sie würde versuchen, sich nicht allzu viel Zeit zu lassen.

»Ich werde hier tadellos umsorgt«, fügte er hinzu, als könne er ihre Gedanken lesen. »Es ist genau der richtige Zeitpunkt für dich, dich von all der Arbeit zu erholen. Du kümmerst dich seit Jahren um mich, aber jetzt bin ich im Krankenhaus, wo man rund um die Uhr auf mich aufpasst. Und die Schwestern hier sind wirklich entzückend.«

Er hatte ja recht. Und falls es doch nötig wurde, konnte Anna jederzeit zurückfliegen.

Außerdem betrafen ihre Nachforschungen ja nicht nur die Vergangenheit. Sie betrafen die Zukunft, ein Erbe, Schönheit und – am wichtigsten – Menschen, denn es ging auch darum, das Dorf Siegel wieder zum Leben zu erwecken, die jungen Leute in der Gegend zu halten. Schließlich war der Ort nur eine gute Autostunde von einer der quirligsten Städte Europas entfernt. Irgendetwas konnte bestimmt getan werden. Wenn sie Investoren finden konnte, Leute, die den neuen Besitzern unter die Arme greifen würden …

»Sag mir nicht, dass du eine bestimmte Absicht verfolgst«, holte Max’ Stimme sie aus ihren Grübeleien. Er hatte schon immer ihre Gedanken lesen können.

»Nein, nein«, sagte sie, erhob sich, trat an den schicken Schreibtisch des Zimmers und klappte ihren Laptop auf. »Ich habe einfach nur Lust, mich umzusehen, das ist alles. Es ist eine interessante Gegend.«

Einen Moment lang herrschte Stille. Sie bezweifelte, dass sie ihn überzeugt hatte. »Nun ja«, sagte er schließlich. »Vielleicht hast du ja auch jemanden kennengelernt, der –«

»Sei nicht albern«, unterbrach Anna ihn. Sie rief die Suchmaschine auf. »So, wie es ist, ist es ganz wunderbar, vielen Dank.«

»Ach, meine Kleine …« Max’ Stimme verebbte. Er klang wirklich müde. Es war gut gewesen, ihn nicht jetzt schon mit ihren Plänen zu belasten.

Sie würde allein tun, was immer sie konnte. Sie würde Max erst hinzuziehen, wenn sie etwas Handfestes hatte.