Paris, 1936
Paris war immer für Zerstreuung gut. Heute war es eine Einladung von Elsa Maxwell, einer amerikanischen Klatschkolumnistin, die regelmäßig bei sich zu Hause Partys veranstaltete. Während Isabelle ihre langen Handschuhe überstreifte und ihr seidenes Abendkleid glatt strich, versicherte sie sich selbst zum ungefähr tausendsten Mal, das alles in Ordnung war. Die Trompetenärmel wehten hinter ihr her, als sie entschlossen auf den Salon zumarschierte. So tun, als ob. Marthe hatte es immer getan. Sie hatte es zur Kunstform erhoben. Isabelle konnte das auch.
Es war nicht so schwer, sich nach außen hin nichts anmerken zu lassen. Isabelle plauderte mit den Leuten auf dem Ball, als würde sie nichts belasten. Mit der Finesse einer erfahrenen Expertin verbarg sie, wie sehr sie litt. Niemand unter den Gästen konnte ahnen, dass sie seit Monaten nichts mehr von Max gehört hatte. Sie posierte mit Virginia für Man Ray, während die Reporter von Excelsior Modes und Harper’s Bazaar im Saal herumtänzelten wie Ballerinen.
Die vergangenen Monate hatten ihr gezeigt, dass die Liebe ein zweischneidiges Schwert war.
Als der Abend zu Ende war, plapperte Isabelle mit Virginia im Wagen, als seien sie ganz normale sorglose junge Frauen, die in Paris ausgingen. Sie hatte mit mehreren jungen Männern getanzt und so getan, als sei sie an dem, was sie erzählten, interessiert, doch tatsächlich hatte sie selbst kaum etwas gesagt.
In der Wohnung sagte sie Marthe Gute Nacht, die aufgeblieben war, um auf sie zu warten, und ging mit einer gewissen Erleichterung zu Bett. Virginia war bereits in einen ihrer amerikanischen Romane vertieft. Isabelle wollte ebenfalls nach einem Buch greifen, mit dem sie sich vielleicht ablenken konnte, verharrte jedoch plötzlich, als sie den Brief sah, der auf ihrem Nachttischchen lag. Ihr Herz setzte einen Schlag aus. Es war Max’ Handschrift, und die Briefmarke war in Berlin abgestempelt.
Berlin, 2010
Am Morgen nach ihrem Telefonat mit Max wanderte Anna stundenlang durch Berlin. In jedem Viertel, an jeder Ecke waren Überbleibsel sowohl der Nazi- als auch der kommunistischen Zeit zu finden: Checkpoint Charlie, das Brandenburger Tor, der zerbombte Turm der Kaiser-Wilhelm-Gedächtniskirche, Symbole der Macht, der Zerstörung und des Wiederaufbaus. Bis zu dieser Reise war Anna nicht klar gewesen, wie sehr die Geschichte dieses Landes auch ihre war. Es kam ihr vor, als wäre eine Saat in ihr aufgegangen, von deren Existenz sie nichts geahnt hatte. Die Wiederentdeckung einer verlassenen Pariser Wohnung hatte einen Quell ihr unbekannter Gefühle zum Sprudeln gebracht. Was wäre gewesen, wenn man sie nicht gefunden hätte?
Anna schlang den Mantel fester um sich, als sie über den Potsdamer Platz ging und an einem Café hielt, um sich einen Kaffee im Pappbecher zu kaufen. Während sie auf die Überreste der Berliner Mauer blickte, versuchte sie sich nicht vorzustellen, wie Max und seine Familie von Siegel geflohen waren – die Gesichter vermutlich starre Masken, um die Angst, die sie bis ins Mark erschüttert hatte, vor den Augen anderer zu verbergen.
Max hatte diese Maske nie wieder abgenommen. Warum nicht?
Obwohl sie mehr über die Flucht von Schloss Siegel, über den Verbleib der restlichen Familie und über Max’ große Liebe erfahren wollte, musste sie sich auch auf die Gegenwart konzentrieren. Offenbar litt das Dorf darunter, dass sich niemand um das Anwesen kümmerte – und die Vergangenheit war ohnehin nicht mehr zu ändern.
Sie konnte sich nicht vorstellen, dass die Einwohner von Siegel ihr gegenüber auskunftsfreudig sein würden. Kaum einer, dem sie begegnet war, schien erfreut darüber zu sein, dass ein Nachkomme der Albrechts plötzlich wiederaufgetaucht war. Musste es nicht irgendwo Unterlagen über einen derart prominenten Landbesitzer geben? Anna würde es nicht allein herausfinden, aber das Problem war, dass jeder Weg, den sie einschlagen konnte, bei Wil vorbeiführte. Er war der Einzige, der ihr helfen konnte. Und er war der Einzige, den sie nicht fragen wollte.
Anna blieb stehen und warf den leeren Kaffeebecher in den Müll. Als sie zu ihrem Hotel zurückging, klingelte ihr Telefon.
Die amerikanische Stimme klang meilenweit weg und doch erstaunlich nah. Es war das Krankenhaus in San Francisco.
Die Schwester redete nicht um den heißen Brei herum.
Max war tot.
Anna blieb stehen.
Sie befand sich neben dem Holocaust-Mahnmal und nahm die Menschen zwischen den Stelen aus den Augenwinkeln als schattenhafte Gestalten wahr; die Fläche in ihrer Gesamtheit war eine der ergreifendsten Gedenkstätten, die Anna je gesehen hatte. Der Lärm der Kinder, die durch die Gänge tobten und spielten, hallte in der Luft wider, als würde die Zukunft auf den Schatten der Vergangenheit tanzen.
Die gesichtslose Stimme erzählte ihr, dass Max friedlich gestorben war. Er hatte gefrühstückt, und als die Krankenschwester der Vormittagsschicht das Tablett holen wollte, war er schon tot. In den letzten Stunden hatte er ruhig, fast zufrieden gewirkt.
Anna tastete nach dem Schmuckkästchen, das in ihrer Manteltasche steckte. Sie umfasste den Samt und rieb ihn mit den Fingern, als könnte er ihr eine Art Antwort verschaffen. Sie dankte der Schwester, legte auf und ließ sich auf einer Bank nieder.
Als das Telefon erneut klingelte, nahm sie das Gespräch ohne nachzudenken an und bereute es in der gleichen Sekunde.
Doch es war Wil.
»Anna.«
Annas Hand schien ein Eigenleben entwickelt zu haben – ein zittriges. Sie ließ sich einfach nicht stoppen, sosehr Anna es auch versuchte.
»Anna?«, wiederholte Wil. »Ist die Verbindung schlecht?«
»Nein«, antwortete sie. Sie spürte, wie sich ihre Kehle zuziehen wollte, und holte tief Luft.
»Ich habe nachgedacht …«
Anna wollte einen zustimmenden Laut von sich geben, aber es klang wie ein Grunzen, also nickte sie unsinnigerweise dazu.
»Ich möchte einfach nicht, dass jemand anderes unter unserer Geschichte zu leiden hat – vor allem Sie nicht«, sagte er.
Anna konnte Schritte hören und stellte sich vor, wie er in seinem schicken Büro auf und ab ging.
Ein anders Bild tauchte in ihrem Bewusstsein auf. Max, der von einem weißen Tuch zugedeckt und ins Leichenschauhaus transportiert wurde. Anna schloss die Augen.
»Verstehen Sie, was ich meine?«, fragte Wil.
Anna wurde das Atmen schwer.
Wieder Schritte. »Jedenfalls würde ich mir dennoch gerne Ihre Ideen anhören, falls Ihnen das weiterhilft.«
»Ich weiß im Moment nicht, was ich sagen soll.« Anna erhob sich und sackte fast augenblicklich wieder auf die Bank zurück.
»Hören Sie.« Wil machte eine kurze Pause. »Wie wär’s, wenn ich Sie um acht am Hotel abhole? Wenn Sie das wirklich machen wollen, und davon gehe ich inzwischen aus, müssten wir –«
»Max ist tot«, sagte Anna. Sie musste aufstehen. Sich bewegen. Sie ging los. Gehen tat gut. »Das Krankenhaus hat mich kurz vor Ihnen angerufen.«
»Wo sind Sie?«, fragte Wil, plötzlich äußerst besorgt.
»Am Brandenburger Tor«, brachte sie hervor und sah zu besagtem Bauwerk auf. »Aber mir geht’s gut. Sie haben bestimmt genug damit zu tun, die Arbeit von gestern nachzuholen.«
»Bleiben Sie, wo Sie sind«, sagte er. »Nicht weggehen.«
»Nein, lassen Sie ruhig. Sie müssen arbeiten.«
»Das kann warten. Ich bin schon unterwegs.« Sie hörte, wie sich eine Tür schloss.
»Ich kann zum Hotel zurückgehen.« Sie hätte bei Max sein sollen, als er gestorben war. Er war allein gewesen. Wie schrecklich.
Wils Stimme klang sehr ruhig. »Wir müssen Ihnen schnell einen Heimflug buchen. Ich bin auf dem Weg und so schnell ich kann bei Ihnen. Legen Sie nicht auf.«
Anna sah aufs Telefon, als habe es ein Eigenleben angenommen.
Eine junge Familie tauchte am Fuß des Brandenburger Tors auf. Die Frau hatte einen Reiseführer in der Hand, und ihre beiden Kinder hörten ihren Erklärungen zu, fragten nach, deuteten hierhin und dorthin. Beide Kinder trugen orangefarbene Kappen, einen Vater gab es auch. Alle vier wirkten … glücklich. Wie eine gut funktionierende Familie. War das wirklich so? Gab es wirklich Menschen, die ein solches Leben führten? Ja, wahrscheinlich. Aber hätte sie an ihrem eigenen Leben etwas ändern wollen?
Bilder von Max zogen durch ihr Bewusstsein. Um nichts in der Welt hätte sie das, was er ihr bedeutet hatte, eingetauscht. Seit sie zwölf gewesen war, hatte er die Rolle von Vater und Mutter zugleich übernommen.
Auf einmal sah sie Wil mit großen Schritten auf sich zukommen. Er trug einen dunklen Mantel und sah ihr ernst entgegen. »Kommen Sie. Sie frieren ja. Sie brauchen Bewegung.«
»Okay.« Anna nickte.
Wil nahm ihren Arm und hakte ihn durch seinen. »Gehen wir.«
Ja, dachte Anna. Nur wohin?
Wil ging mit ihr in den Tiergarten, Berlins berühmtesten Park. Während sie an den Bänken vorbeigingen, die abseits der Wege zwischen Bäumen und den ersten Frühlingsblühern standen, wusste Anna nicht, ob sie sich setzen, weitergehen, zusammenbrechen, sich aufgesetzt stoisch verhalten oder einfach ins Leere starren sollte. Das war absolut untypisch für sie – normalerweise hatte sie immer einen Plan, normalerweise hatte sie sich immer unter Kontrolle.
Hätte Wil nicht die wunderbare Fähigkeit besessen, das Gespräch in Gang zu halten, wenn sie reden wollte, und den Mund zu halten, wenn ihr alles zu viel wurde, hätte sie nicht gewusst, wie sie die ersten Stunden hätte überstehen sollen.
»Am See gibt es ein Café, wenn Sie sich setzen wollen«, sagte er, nachdem sie etwa eine halbe Stunde gegangen waren. »Vielleicht können Sie auch einen Kaffee vertragen?«
»Kaffee ist eine gute Idee, danke.« Anna spürte, wie trotz allem der Hauch eines Lächelns über ihre Lippen huschte. Der Park tat ihr gut. Die Geschichte dieser Anlage schien sie zu umarmen und vor der Realität zu schützen. Dies war Max’ Heimat. Sein Abschiedsgeschenk an sie war die Verbindung zu seiner Vergangenheit gewesen – und indem er sie ihr zugänglich gemacht hatte, hatte sie auch ein Stück ihrer eigenen hinzugewonnen. Er hatte ihr einen Hinweis darauf gegeben, was sie wissen musste, und ihr war inzwischen klar geworden, dass sie alles wissen wollte.
Anna gab sich Mühe, etwas von dem Kuchen zu essen, den Wil bestellt hatte. Anschließend hatte sie wieder genug Kraft, um zum Hotel zurückzukehren und zu packen, während Wil ihr einen Flug nach Hause buchte. Erst als er sie zum Flughafen gefahren hatte, sie voneinander Abschied genommen hatten und sie in der Maschine saß und sich auf ihrem Platz zurücklehnte, erlaubte sie sich, die Augen zu schließen und auf sich einströmen zu lassen, was geschehen war.
Drei Tage später stand Anna an Max’ Grab in San Francisco. Ein Meer aus Leuten scharte sich um den Sarg, und doch fühlte Anna sich in ihrer Trauer wie in einem Kokon. Die Überzeugung, dass Max bei ihr sein würde, was immer auch geschah, spendete ihr Trost. Ihr Vater, Peter, stand an ihrer Seite. Seine neue Familie – drei Kinder und eine junge Frau – sorgte für einige Ablenkung.
Und dann die ganzen Blumen. Annas Haus quoll über vor Blumen. Max war beliebt gewesen; er hatte ein langes Leben gehabt, und die Leute wollten ihm die letzte Ehre erweisen. Aber keiner hatte ihn wirklich gekannt. Niemand außer Anna, so schien es, hatte auch nur eine Ahnung von seiner Vergangenheit. Und irgendwie wollte sie, dass das auch so blieb – weniger für sich als für ihn.
Nachdem die Zeremonie vorbei war und diejenigen, die Max am nächsten gestanden hatten, eine Rose auf den Sarg gelegt hatten, kamen viele Gäste noch mit zu Anna nach Hause.
Die Leute plauderten, lachten sogar, während Anna sich wie in Trance bewegte und ihrem Personal aus dem Café half, die Gäste zu bewirten. Obwohl sie mit einigen von Max’ Bekannten sprach, fühlte sie sich wie ferngesteuert. Redete sie mit seinen Freunden tatsächlich über den Max, den sie gekannt hatte? Es kam ihr nicht so vor.
Die Gedanken an Schloss Siegel waren immer präsent. Sie musste etwas tun. Sie konnte nicht zulassen, dass das Anwesen verfiel. Max hätte das nicht gewollt. Inzwischen war sie überzeugt, dass durch die Entdeckung der Pariser Wohnung all die Träume wiedererweckt worden waren, die er verloren geglaubt hatte. Er war vor seinem Tod regelrecht fixiert darauf gewesen, diesen Ring zurückzubekommen, und Anna vermutete, dass dies nur der erste Schritt zu einem weiterreichenden Vorhaben gewesen war. Deshalb war alles, was sie in Bezug auf seinen ehemaligen Familienbesitz unternehmen würde, für ihn. Er hatte eine Art Reise begonnen, ehe er starb, und da er nun nicht mehr weitermachen konnte, würde Anna übernehmen.
Als die Gäste fort waren, beschloss Anna, dass sie sich ein wenig Ruhe verdient hatte. Doch als sie den Flur betrat, um zu ihrem Schlafzimmer zu gehen, stellte sie fest, dass noch nicht alle gegangen waren.
Eine Frau stand in ihrem Korridor. Sie hatte Anna den Rücken zugekehrt, aber Anna konnte sehen, was sie in ihrer Hand hielt: Annas Lieblingsfoto von Max. Die Frau stand ganz still da. Sie war etwas kleiner als Anna, hatte ihr Haar zu einem ordentlichen Knoten zusammengefasst und trug ein marineblaues Kostüm und ein grünes Seidentuch um den Hals. Als sie sich umdrehte, hielt Anna den Atem an, wenn sie auch selbst nicht verstand, warum.
»Guten Tag«, sagte die Frau.
Daran war nun wirklich nichts auszusetzen.
Die Frau musste Mitte sechzig sein. Ihre Augen waren blau, und ein paar Strähnchen ihres noch blonden Haares fielen ihr ins Gesicht. Anna hatte sie den ganzen Tag nicht bemerkt, aber schließlich waren auf der Beerdigung über dreihundert Leute gewesen und gute hundert hatten sich später hier gedrängt, sodass das nicht weiter verwunderlich war. Nicht zum ersten Mal an diesem Tag wünschte Anna sich, Max wäre bei ihr gewesen.
»Kann ich etwas für Sie tun?«, fragte sie.
Die Frau stellte das Foto zurück auf das Tischchen. Das Klacken des Rahmens schien die präzisen Bewegungen der Älteren zu unterstreichen. »Sie haben mich ertappt.«
Durch Anna lief eine kleine Schockwelle.
Der Akzent. Ein deutscher Akzent.
Die Frau fuhr sich mit einer Hand über das Haar. »Wil Jager hat mir erzählt, dass Max gestorben ist«, sagte sie.
»Wil?« Anna hörte selbst, dass ihre Stimme seltsam klang.
»Er sagte außerdem, Sie interessierten sich für –«
»Schloss Siegel.« Eine absolute Gewissheit überkam Anna.
»So ist es.« Der Akzent der Frau verstärkte die Knappheit der Worte.
Anna nickte. Ihre Gedanken hatten zu rasen begonnen. Sie hatte Schwierigkeiten, den Strom zu stoppen.
»Ich heiße Ingrid Hermann.« Die Frau streckte ihr ihre manikürte Hand hin. An den Fingern prangten stattliche Ringe.
Anna schüttelte ihr die Hand. »Anna Young.«
»Ich weiß.«
»Kann ich Ihnen einen Kaffee anbieten?«, fragte Anna.
Ingrid schüttelte den Kopf. »Ich durfte Ihren ausgezeichneten Kaffee bereits genießen«, antwortete sie. »Ich möchte nur eine Sache sagen, dann gehe ich.«
»Kommen Sie mit ins Wohnzimmer.« Anna machte kehrt und setzte sich in Bewegung in der Hoffnung, dass die andere ihr folgte.
Doch sie blieb, wo sie war. »Ich muss gleich los«, sagte sie hinter Anna. »Aber es gibt einen Grund, warum ich hier bin. Ich bin mit Ihnen verwandt. Und ich bin außerdem die Besitzerin von Schloss Siegel. Bitte gehen Sie dort nicht mehr hin.«
Anna fuhr herum. Die Frau hatte ihre schmale Wildlederhandtasche mit beiden Händen gefasst und sah sie direkt an.
Ihr Blick war keinesfalls herzlich.
Und ausnahmsweise war Anna sprachlos.