Paris, 1936
Marthe wanderte in ihrem Zimmer auf und ab – wenn auch langsam. Ihre Knie peinigten sie, und sie hatte sich in den vergangenen Monaten angewöhnt, einen Stock zu benutzen. Doch obwohl Marthes schwindende Kraft beunruhigend war, fand Isabelle es in diesem Moment bedenklicher, wie sie mit ihrem Stock nach Art eines Dirigenten in der Luft herumfuchtelte.
»Ich begreife es einfach nicht«, sagte Marthe. »Du hast die Chance, mit einem anständigen jungen Mann auszugehen, und sitzt doch nur hier, starrst ins Leere und denkst über weiß Gott was nach. Der nette junge Herr kreuzt auf deiner Türschwelle auf, um dir seine Gefühle für dich zu gestehen – was genau die romantische Ouvertüre ist, die du dir, wie ich dachte, immer gewünscht hast –, aber du schickst ihn weg! Erklär mir das!«
Isabelle sank auf Marthes Bett. Dann griff sie nach einem der dunkelroten Kissen, drückte es sich unwillkürlich an die Brust und blickte auf Marthes Porträt, das dem Bett gegenüber hing. Als junge Frau hatte Marthe bestimmt verstanden, wie wichtig es war, eigene Entscheidungen zu treffen. Warum also machte sie es ihr nun so schwer?
Das Letzte, was Isabelle wollte, war, mit diesem Langweiler auszugehen, den Marthe so begehrenswert zu finden schien. Einer der vielen Verehrer, die nichts Interessantes zu sagen wussten und nicht mehr in ihr sahen als eine hübsche Begleitung.
Isabelle wusste genau, was sie wollte: eine Familie, Liebe, Stabilität. Doch sich mit irgendjemandem zufriedenzugeben kam nicht infrage. Sie hatte bereits erfahren, wie es sein konnte.
»Ich verstehe dich einfach nicht«, wiederholte Marthe. »Virginia ist just in diesem Moment mit einem charmanten jungen Burschen unterwegs.«
»Aber er bedeutet ihr nichts«, wandte Isabelle ein. »Sie spielt nur ein bisschen mit ihm.«
»Das mag ja sein.« Marthe legte sich eine Hand an die Stirn. »Könntest du nicht auch ein kleines bisschen spielen? Wäre das nicht besser, als die ganze Zeit hier herumzusitzen und Trübsal zu blasen? Vielleicht wirst du überrascht. Ich sage ja nicht, dass du dich verlieben sollst, aber geh raus und amüsiere dich anständig, anstatt bloß so zu tun als ob. Ich sehe doch, dass du nicht glücklich bist. Mach etwas aus deinem Leben. Nimm es in die Hand.«
»Ich blase kein Trübsal«, protestierte Isabelle. Sie hatte Marthe nach wie vor nicht gestanden, wie stark ihre Gefühle für Max waren. Zum Teil fürchtete sie, dass Marthe, falls sie es wüsste, wiederum fürchten würde, Isabelle könnte nach Deutschland ziehen, wodurch Marthe ihre Enkelin kaum noch sehen würde – vielleicht sogar nie wieder. Marthe hatte eine sehr dezidierte Meinung zu Hitlers Rheinlandbesetzung und Frankreichs zurückhaltende militärische Reaktion darauf.
Gleichzeitig hatte Isabelle Max – und dadurch seiner Familie – noch immer nichts von Marthes früherem Leben als Kurtisane erzählt.
Sie jonglierte mit zwei verschiedenen Existenzen, und ihre Kollision mochte zur Folge haben, dass ihre Chance verwirkt war, je von den Albrechts akzeptiert zu werden. Oder aber, dass Marthe auf ihre alten Tage allein sein würde. Wie viel länger noch konnte sie die beiden Menschen, die sie auf dieser Welt am meisten liebte, voneinander fernhalten?
Max’ Telegramm steckte in der Tasche ihres Kleids.
Marthe blieb in der Tür stehen. Isabelle konterte ihren harten Blick mit einem zögernden Lächeln. Schließlich schüttelte Marthe den Kopf und ging hinaus.
»Camille!«, hörte Isabelle sie rufen. »Wo bleibt mein Mittagessen, Herrgott noch mal?«
Ein paar Stunden später betrat Isabelle den Garten des Ritz. Sie hatte sich mehrmals umgezogen, ehe sie sich endlich für ein hellblaues Teekleid entschieden hatte, das – wie Camille ihr versichert hatte – ihre olivfarbene Haut zur Geltung brachte. Isabelle hatte schon so oft von diesem Augenblick geträumt – endlich würde sie Max wiedersehen. Er hatte zwei Tage Urlaub und war nach Paris gekommen. Doch warum fühlte es sich irgendwie nicht richtig an?
Ein Kellner führte sie zu einem Korbstuhl. Kübelpflanzen konkurrierten mit Statuen um die beste Position in dieser wunderschönen Szenerie, die wie eine Oase inmitten der turbulenten Stadt lag.
»Du passt perfekt in die Umgebung«, erklang Max’ Stimme hinter ihr. Er legte ihr eine Hand auf die Schulter, und sie umfasste sie einen Moment lang, ehe er sie fortzog, um sich auf den Platz ihr gegenüber zu setzen.
Doch sobald er saß, blickte er sich nervös um.
Isabelle lachte. »Ich glaube kaum, dass uns hier jemand angreift.«
»Ich muss dir etwas sagen«, begann er. »Ich muss für eine gewisse Zeit … auf Reisen gehen und kann mich deshalb vielleicht eine Weile nicht bei dir melden.«
Isabelle nippte an ihrer Tasse und beäugte die exquisite pâtisserie zwischen ihnen. Plötzlich wusste sie, dass sie nichts runterkriegen würde.
»Und ich muss heute Nachmittag hier in Paris etwas erledigen«, fuhr er fort, während er sich erneut umsah. Seine Hand lag jedoch immer noch in ihrer.
»Du hast hier in Paris etwas zu erledigen?«, fragte Isabelle beinahe im Flüsterton.
Er nickte, erneut mit nervösem Blick durch den Garten.
Isabelle hätte es ihm fast nachgetan. Ihr Herz hämmerte inzwischen heftig. Was gab es hier in Paris für ihn zu tun? Etwas für die Nationalsozialisten? Dass er kaum davon sprach, seiner Mutter neue Ohrringe von Van Cleef & Arpels zu kaufen, stand wohl fest.
Isabelle wusste, dass Hitler seinen Wunsch nach einer freundschaftlichen Beziehung mit Frankreich ausgedrückt hatte, doch Max’ Nervosität beunruhigte sie mehr, als sie sich selbst eingestehen mochte. Dennoch mochte er etwas ganz anderes im Kopf haben, seine Familie, die Dorfbewohner, es musste nicht die Partei sein. Isabelle würde sich nicht verrückt machen, so gut sie ihn auch zu kennen glaubte, sosehr ihr das Herz auch blutete.
»Sollen wir uns heute Abend treffen – sagen wir um neun?«, fragte Max auf einmal. »Wie wär’s mit La Coupole? Kannst du dir ein Taxi nehmen? Vielleicht bin ich bis dahin eingespannt.«
»Natürlich. Das mach ich«, antwortete Isabelle. »Soll ich Virginia mitbringen?«
»Tu das.« Er stand auf und wartete, bis sie es ihm nachtat, doch sein Blick schweifte zum Ausgang.
»Also gut.« Isabelle streifte ihre Handschuhe über und rückte ihren Hut zurecht.
Max schien es eilig zu haben, das Hotel zu verlassen. Er ließ ihr den Vortritt, aber als sie ihm einen verstohlenen Blick zuwarf, sah er sich erneut nervös um.
Später im La Coupole war es nicht besser. Virginia hatte Freunden Bescheid gesagt, und da der Abend so warm war, saßen sie alle draußen auf der überfüllten Terrasse. Ab und zu stand ein Pärchen aus ihrer Gruppe auf und ging zum Tanzen hinein.
»Ist das nicht herrlich?«, sagte Isabelle. »Ich liebe Paris im Sommer.« Sie versuchte, Max’ Blick einzufangen, aber es wollte ihr nicht gelingen.
»Herrlich«, sagte er geistesabwesend.
Was war los? Obwohl seine Hand noch in ihrer lag, schien er meilenweit entfernt.
»Max –«, setzte sie mit leiser Stimme an.
Virginia war außer Hörweite; sie plauderte mit einem jungen Franzosen, den sie heute erst kennengelernt hatte.
»Mach dir bitte keine Sorgen«, sagte Max, jedoch ohne sie anzusehen.
In diesem Moment erschien Virginia wieder an ihrem Tisch. Ihr Gesicht war erhitzt, und als sie sich setzte, griff sie nach einer Serviette, um sich damit Luft zuzufächeln. »Oh, es ist großartig da drinnen. Es macht solchen Spaß.« Sie packte Isabelles Arm. »Komm mit tanzen.«
»Max …« Isabelle legte den Kopf schief. »Forderst du mich jetzt endlich auf, oder muss ich dich auffordern?«
»Geh, und tanz mit Virginia, Liebling«, sagte er. »Ich bleibe hier.«
Virginia sprang schon wieder auf und zog Isabelle an der Menge vorbei auf die geschwungene weiße Treppe zu. Zigarettenqualm hatte sich in der Luft gesammelt und hüllte das gesamte Etablissement in einen gräulichen Dunst.
Isabelle hielt oben an der Treppe an und trat ans Geländer, um auf den Saal hinabzuschauen. Wer in Paris ausgehen wollte, durfte sich das La Coupole nicht entgehen lassen. Jeder, der etwas auf sich hielt, war hier. Max konnte sich unmöglich langweilen. Und er benahm sich ihr gegenüber auch nicht kühl – eher zerstreut. Was hatte das zu bedeuten?
Virginia zog Isabelle in die Menge und begann zu tanzen. Isabelle schalt sich innerlich. Sie benahm sich wie ein verunsichertes junges Ding! Sie musste aufhören, alles zu hinterfragen und das Schlimmste anzunehmen. Isabelle blickte zur Band, die nur aus Frauen bestand. Die Musik war mitreißend. Sie würde tanzen.
»Wer braucht schon Männer?«, rief Virginia ihr ins Ohr.
Trotz allem musste Isabelle lächeln. Virginia sagte verlässlich immer das Richtige. Jetzt war nicht der Moment, um über Politik nachzudenken. Stattdessen begann sie sich im Rhythmus zu bewegen.
Max stand auf, als sie an den Tisch zurückkamen. Er beugte sich zu Isabelles Ohr. »Ich muss gehen«, sagte er.
Es durchfuhr sie wie ein Stich. »Jetzt schon?«, fragt sie und zog den Kopf zurück, um ihm in die Augen zu sehen.
»Es tut mir leid«, erwiderte er. »Es ist nichts, womit ich dich belästigen möchte.«
Er legte ihr eine Hand an die Taille, neigte den Kopf und küsste sie auf die Stirn.
»Leb wohl«, sagte er. Dann nickte er und ging.
»Ist alles in Ordnung?«, fragte Virginia.
Isabelle sah Max nach, wie er sich durch die Menge zum Ausgang drängte. Er hatte nichts von einem Wiedersehen gesagt. »Ehrlich gesagt weiß ich es nicht«, antwortete sie leise. »Ich weiß es einfach nicht.«
»Oh, Liebes«, sagte Virginia und hakte sich bei ihr ein. »Am besten kommst du mit mir zurück auf die Tanzfläche. Das tut dir gut, glaub mir.«
Aber Isabelle schüttelte den Kopf und setzte sich. Wohin war Max unterwegs? Was hatte er vor? Hatte er ihr heute eigentlich ein einziges nettes Wort gesagt? Sollte sie ignorieren, was das bedeuten konnte – oder nicht?
Der unaufhörliche Gesang, die Stimmen und die Musik vermischten sich mit dem Qualm und den Ausdünstungen vieler Menschen zu einer Kakophonie aus Lärm und Geruch. Isabelle fühlte sich plötzlich verwirrt, naiv und fehl am Platz, und verzweifelt versuchte sie das Gefühl abzuschütteln, dass sie es mit etwas zu tun hatte, was sich nicht beherrschen ließ.
Blieb nur zu hoffen, dass es nicht Max beherrschte.
San Francisco, 2010
Anna stand in Max’ leerem Wohnzimmer. Im vergangenen Monat hatte sie alles zusammengepackt und die Wohnung ausgeräumt, und nun würde sie verkauft werden. Das Mobiliar war bereits versteigert worden; sie hatte nur behalten, was ihr kostbar war. Doch von Max’ Vergangenheit war nichts zu finden gewesen – weder über sein Verhältnis zu der Besitzerin der Pariser Wohnung noch über das Schicksal seiner Familie.
Nachdem Ingrid Hermann nach ihren etwas theatralischen Worten gegangen war, hatte Anna die Welt nicht mehr verstanden. Ingrid hatte betont, dass sie nur geschäftlich in San Francisco sei und keine weiteren Gespräche suche, sie wolle lediglich, dass Anna sich von Schloss Siegel fernhielte. Die Vergangenheit sei vergangen. Sie habe alles unter Kontrolle.
Nun, das hatte Anna wahrhaftig nicht.
Die ersten Tage nach der Beerdigung hatte sich Anna in einem zombieartigen Zustand befunden – sie hatte nicht viel schlafen können, war dauernd erschöpft gewesen und hatte keinen Appetit gehabt, sich aber gezwungen, wenigstens etwas zu sich zu nehmen. Sie war arbeiten gegangen, ohne sich konzentrieren zu können. In ihrer Freizeit hatte sie wie ferngesteuert Max’ Sachen aussortiert.
Und nun gab es nichts mehr zu tun, als zu ihrem alten Leben zurückzukehren und wieder zu arbeiten. Was sonst?
Sie gab sich Mühe, wie früher auch zum Café zu fahren, ihren Job zu machen und abends nach Hause zurückzukehren, obwohl die Lücke, die sich dort auftat, wo sie bei Max vorbeigeschaut hatte, immer stärker aufklaffte. Ihr war nicht bewusst gewesen, was für ein wichtiger Fixpunkt diese täglichen Besuche gewesen waren. Sie hatte gedacht, dass sie ihn um seinetwillen besuchte, doch nun dämmerte ihr, dass vor allem sie es nötig gehabt hatte. Wenn sie jetzt abends ohne Umwege in ihr stilles Haus zurückkehrte, wanderten ihre Gedanken nur immer wieder nach Deutschland.
Um das zu vermeiden, gab sie alles, um sich nach Feierabend zu beschäftigen. Aufräumen, umräumen, mit Freundinnen ins Kino gehen. Einmal organisierte Cass ein Essen, zu dem sie ein wahres Bataillon an Junggesellen einlud, aber auch das funktionierte nicht. Anna war nicht bei der Sache.
Sie versuchte, sich abzulenken und zu entspannen, doch ob sie nun unter der Dusche stand, sich ins Bett legte oder den Fernseher einschaltete – nichts half.
Es war, als habe man sie mit einem Fluch belegt. Ihre Gedanken kreisten ständig um das Schloss, Max’ Vergangenheit, ihre Familie und – ja, sie musste es sich eingestehen – Wil.
Annas Leben fand hier in San Francisco statt. An Wil zu denken war albern. Sie kannte ihn kaum – schließlich waren sie sich nur ein paarmal begegnet. Warum fühlte sie sich dann so zu ihm hingezogen? Sie sollte trauern – diese Zeit sollte sich vor allem um Max’ Andenken drehen. Was war mit ihr los?
Deutschland schnellte durch ihren Verstand wie eine Flipperkugel. Das Naheliegende war doch, Wil anzurufen, um ihm zu erzählen, dass sie Ingrid kennengelernt hatte. Anna konnte die Sache nicht auf sich beruhen lassen. Ganz gleich, was Ingrid davon hielt. Ganz gleich, dass Wil ihr wahrscheinlich nicht helfen würde. Und ganz gleich sogar, dass Max nun nicht mehr lebte.
Wil musste seiner Mandantin gegenüber loyal bleiben, das stand fest. Dennoch konnte Anna die Sache nicht ad acta legen.
Sie schaltete die Nachttischlampe wieder an und griff nach dem Telefon. Einen Moment starrte sie es an, fragte sich, ob sie jetzt den Verstand verloren hatte, und kam zu dem Schluss, dass es keine Rolle spielte. Sie würde anrufen. In Berlin war es elf Uhr am Vormittag.
Wil nahm das Gespräch beim ersten Klingeln an.
»Anna«, sagte er, »wieso sind Sie um diese Zeit wach?«
»Hallo.«
»Hi. Ich hoffe, es geht Ihnen gut.«
Anna war Expertin für solche Fragen. Sie stand auf und wanderte in den Flur hinaus. »Ach, Sie wissen schon. Es ist alles erledigt.«
»Ja, aber wie geht’s Ihnen?«
»Ganz gut.« Anna nahm ein Foto von Max in die Hand. Dumme Idee. Sie runzelte die Stirn, stellte es weg und tappte in die Küche.
»Lassen Sie es eine Weile ruhig angehen.« Er war nett. Wie immer.
Anna hatte nett langsam satt. Sie seufzte.
»Sie klingen ein bisschen –«, setzte er an.
»Gut. Nein, mir geht’s gut.« Anna steuerte auf den Kühlschrank zu und öffnete ihn, um nachzusehen, ob sie genug zu essen hatte. Das hatte sie immer, aber sich zu vergewissern beruhigte sie jedes Mal.
Wil gab einen zustimmenden Laut von sich und hörte sich plötzlich ganz nah an.
Anna schloss die Kühlschranktür und ließ sich auf einen Küchenstuhl fallen. »Übrigens habe ich die Eigentümerin kennengelernt. Sie –«
»Hat Sie besucht. Ja.« Er machte eine Pause. »Ich konnte Ihnen keinen Namen nennen. Ingrid musste das selbst entscheiden.« Wieder schien seine Stimme so nah, fast intim.
Anna beschloss, auf die sachliche Ebene zurückzukehren. »Können Sie mir überhaupt irgendwas sagen?«
»Bevor Sie sich Ihnen vorgestellt hat, hat sie mich gefragt, warum ich einen Parkettboden aufstemme.« Wieder machte Wil eine kleine Pause. »Anlügen wollte ich sie nicht. Also habe ich ihr die Wahrheit gesagt.«
Anna kehrte ins Schlafzimmer zurück und setzte sich im Schneidersitz aufs Bett. »Haben Sie eine Ahnung, was sie vorhat?«
»Ich weiß, dass sie Häuser, Ländereien, Fabriken und sogar ganze Dörfer kauft. Sie schließt die Unternehmen, legt die Fabriken still und kümmert sich nicht mehr darum. Sie lässt sie verfallen.«
»Aber wieso?«
»Es ist eine Investition. Ohne Geld hineinzustecken, wartet sie in Ruhe ab, bis der Wert so weit gestiegen ist, dass sie das Land oder die Immobilie mit Gewinn verkaufen kann.«
»Aber wieso tut sie das auch mit dem Besitz ihrer Familie?«
»Tja, sagen Sie’s mir.« Wil hörte sich inzwischen so an, als würde er gleich in ihr Haus marschieren.
Anna wagte kaum, sich einzugestehen, dass ihr das Gefühl der Nähe gefiel. »Aber das ist nicht die einzige Frage, die sich mir stellt.«
»Ich sagte ja schon, Sie hätte Anwältin werden sollen.«
Ein Lächeln huschte über ihre Lippen, doch sie fuhr fort. »Ich kann einfach nicht vergessen, was mein Großvater mir über diese Frau in Paris erzählt hat. Er hat sie geliebt. Aber wer war sie? Lebt sie vielleicht noch? Vielleicht weiß sie ja etwas. Und außerdem – hat Ingrid noch Kontakt zu anderen Mitgliedern meiner Familie? Denn nun, da Max tot ist, habe ich keine Verwandtschaft mehr außer meinem Vater, und den sehe ich praktisch nie. Und sollte ich nicht wenigstens versuchen, mit Ingrid über das Schloss zu sprechen? Um sie vielleicht zu überreden, ihren Standpunkt wenigstens in Bezug auf diese eine Immobilie zu ändern?«
»Das sind ziemlich viele Fragen.« Wil klang amüsiert.
Anna war tief erleichtert. Endlich hatte sie alles ausgesprochen. Na ja, nicht alles, wie eine besserwisserische Stimme in ihrem Kopf höhnte. Doch sie verdrängte sie. Das brachte sie nicht weiter.
»Wie spät ist es bei Ihnen?«
»Zwei Uhr nachts.«
»Herrgott, Anna, Sie müssen doch schlafen. Ist das jede Nacht so? Haben Sie jemanden, der sich um Sie kümmert?«
»Und was ich auch immer noch wissen will«, fuhr sie fort. Seine Fragen gingen ihr zu sehr ans Eingemachte. »Warum hat Max den Kontakt zu seiner Verwandtschaft abgebrochen? Warum hat er nie darüber geredet? Was ist damals schiefgelaufen? Denn wenn ich das erst einmal herausgefunden habe, habe ich möglicherweise bessere Chancen bei Ingrid. Ich kann versuchen, ihr Verständnis für ihn zu wecken. Wenn sie weiß, welche Beweggründe er gehabt hat, tut sie vielleicht eher etwas für den Erhalt von Schloss Siegel – und für das Dorf. Ich könnte auch versuchen, den Einheimischen klarzumachen, dass Max nicht der Bösewicht war, damit auch dort ein Umdenken geschehen kann. Es kommt mir so vor, als seien die Fronten im Augenblick total verhärtet – ganz zu schweigen davon, dass es eigentlich gar keine Fronten geben dürfte.«
Einen Moment lang herrschte Stille.
»Anna, hören Sie zu.«
»Das tue ich doch.« Anna stand wieder auf. Vielleicht sollte sie sich etwas Warmes zu trinken machen. Er hatte sie nicht ausgelacht oder ihre Gedanken als albern abgetan. Sie kehrte in die Küche zurück.
Doch als Wil weitersprach, blieb sie wie angewurzelt stehen.
»Ich wollte Sie in Ihrer Trauer nicht damit belästigen, aber ich denke auch, dass Sie mit Ingrid reden sollten, und zwar bald.« Er machte eine Pause, setzte wieder an. »Dazu wäre es allerdings besser, wenn Sie nach Berlin kämen. Um persönlich mit ihr zu sprechen. Ich fürchte nämlich, dass Sie mit einem Anruf nicht weit kämen. Ich unterstütze Sie gerne dabei. Ich hoffe, es stört Sie nicht, aber ich habe schon selbst mit Ingrid gesprochen und sie gefragt, ob sie bereit wäre, mit Ihnen zu reden. Sie hat eingewilligt, doch es hat mich einiges an Überredung gekostet. Ich bin dabei, wenn Sie das wollen – oder eben nicht.«
Anna fuhr sich mit der Hand durchs Haar. Ein Lächeln breitete sich auf ihrem Gesicht aus. Das war verdammt nett von Wil gewesen, und es war nicht selbstverständlich. So etwas tat ein guter Freund.
O ja.
Sie öffnete den Kühlschrank erneut, blickte hinein, schloss ihn wieder. Ging ins Wohnzimmer.
»Wenn Sie nicht herkommen und diese Sache verfolgen, wird es Sie wahrscheinlich nie loslassen. Tun Sie es, und das so bald wie möglich.« Seine Stimme wurde sanfter. »Für mich hat es so ausgesehen, als sei Max sein ganzes Leben niemals zur Ruhe gekommen, weil die Dinge nicht geklärt wurden.«
»So ist es.«
»Soll ich Ingrid anrufen und einen Termin vereinbaren? Wenn wir wissen, wann sie Zeit hat, können wir Ihnen einen Flug buchen. Sie kommen her, reden ausführlich mit ihr und arbeiten einen Plan aus.«
Anna nickte. »Okay. Und vielen Dank.«
»Gerne.«
Wieder Stille. Er musste bestimmt wieder arbeiten.
»Wil?«
»Ja?«
»Verstehen Sie mich nicht falsch, aber … was ist passiert, dass Sie –« Warum hatte er seine Meinung so grundlegend geändert?
»Anna«, sagte er, plötzlich wieder sachlich, »ich habe jetzt eine Besprechung und bin spät dran. Ich muss los.« Doch dann schien er sich zu besinnen. »Was mich noch einmal darüber hat nachdenken lassen, ist die Tatsache, dass hier irgendetwas nicht stimmt. Der liebende und loyale Großvater, den Sie beschreiben, passt ganz und gar nicht zu dem Mann, der seine gesamte Familie hinter sich gelassen hat. Wenn ich helfen kann, da etwas ins richtige Licht zu rücken, dann ist viel erreicht. Ich rede mit Ingrid und rufe Sie wieder an, okay?«
Anna nickte. »Okay. Und noch mal danke.« Es war seltsam, sich auf jemand anderen zu verlassen – normalerweise gefiel ihr dieser Mangel an Gewissheit nicht. Tat sie das Richtige?
»Anna?«, drang Wils Stimme durch ihre Unsicherheit.
»Ja?«
»Sie sollten jetzt ein bisschen schlafen. Wir kriegen das schon hin.«
Anna nickte. »Danke.« Natürlich war ihr erster Impuls, Wil auf Abstand zu halten. Wie sie es bisher mit jedem Mann getan hatte, der nett zu ihr war. Andererseits handelte Wil aus einer anderen Motivation heraus. Und er bot ihr Hilfe an, ohne eine Gegenleistung zu verlangen. Sie seufzte.
Er verabschiedete sich, und sie legten auf.
Anna kehrte ins Bett zurück. Aber sie konnte nicht abschalten und bezweifelte, dass sie würde schlafen können. Doch als sie fünf Stunden später ausgeruht erwachte, war ihr Verstand so klar wie seit Wochen nicht mehr.