Drei Tage später erwachte Anna im ehemaligen Westberlin in einem Hotel, das Wil ihr gebucht hatte. Die kleine Boutique-Herberge, die offenbar in der Nähe seiner Privatadresse lag, war ungleich charmanter als das Haus, das sie beim letzten Mal gebucht hatte. Anna streckte sich und sah sich in dem hübschen Zimmer um. Ein schriller Kronleuchter baumelte über dem Messingbett im Retrostil von der Decke, und das Bad war Luxus pur: Marmor, wohin man auch blickte, und eine Wanne mit Löwenfüßen. Die Sachen, die sie auf dem langen Flug getragen hatte, hatte sie gestern Abend über einen Louis-XV-Stuhl geworfen, der mit Leopardenstoff bezogen war.
Wil wollte sie um neun zum Frühstück treffen. Instinktiv griff sie nach ihrem Telefon. Auf dem Display sah sie eine Nachricht von Wil, über die sie grinsen musste: Er hätte lange darüber gegrübelt, wohin man eine Cafébesitzerin zum Frühstück ausführen könne, aber ihm sei eingefallen, dass sie unbedingt die hiesigen Splitterbrötchen probieren müsse, die sie hoffentlich noch nicht kenne. Es gebe eine Bäckerei, die quasi berühmt für diese Spezialität sei.
Anna hatte keine Ahnung, was sie von der erneuten Begegnung mit Ingrid erwarten konnte – oder sollte. Welchen Zauberspruch kannte Wil, dass er diese Frau, die sich bei ihrer ersten Begegnung derart unterkühlt gegeben hatte, zu einem neuen Treffen bewegt hatte?
Die Bäckerei, die Wil ausgesucht hatte, lag zwischen einem Buchladen und einem Obst- und Gemüsehändler. Sobald Anna eintrat, wusste sie, dass das etwas für sie war. Der Kaffee duftete großartig. Brote aus eigener Herstellung lagen in großen Körben in den Regalen hinter den Angestellten, und in der gläsernen Theke lagen zuckriger Butterkuchen, frische Apfelberliner und Käsekuchenstücke. Das Personal an der Kaffeetheke sah aus, als wüsste es, was es tat, und die Schlange war ähnlich lang wie die in ihrem italienischen Café.
Wil hatte einen Tisch in der Mitte des Raums ausgesucht und sah auf, als Anna eintrat. Als ihre Blicke sich trafen, leuchteten seine Augen warmherzig auf, und sie fühlte sich plötzlich so wohl wie schon lange nicht mehr. Unwillkürlich lächelte sie ihm entgegen, während sie auf den Tisch zuging.
»Ich habe eine gute und eine schlechte Nachricht«, sagte Wil, nachdem er aufgestanden war, um sie zur Begrüßung zu umarmen.
Anna wartete ab.
»Ich dachte, wir fahren heute vielleicht zum Schloss raus und sehen uns ein wenig um. Ich habe uns eine Art Picknick organisiert.« Auf einmal wirkte er sehr verlegen.
Anna biss sich auf die Unterlippe, musste aber lächeln.
»Das war die gute Nachricht. Jetzt die schlechte«, fuhr er fort. »Ingrid hat ganz plötzlich nach Singapur fliegen müssen, kommt aber heute Abend zurück. Sie will uns morgen früh treffen – zum Kaffee. Ich dachte, dass das für dich ohnehin besser passt. Dann hat sich auch der Jetlag gelegt.«
Wil bestellte ihnen beiden Splitterbrötchen, die sich als Gebäck aus gesäuertem Süßteig erwiesen und ein wenig an Croissants erinnerten. Der erste Schluck Kaffee vertrieb jeden Gedanken an einen Jetlag. Aber das war es nicht, was sie überraschte. Während sie sich mit Wil angeregt zu unterhalten begann – sie fragte ihn nach seiner Arbeit und was er sonst so alles gemacht hatte –, geschah etwas, was sie nicht erwartet hatte. War es ein Gedanke? Ein Instinkt? Ein Gefühl? Später war sie sich nicht mehr sicher.
Alles, was sie wusste, war, dass sie sich in diesem Moment entschied, die Zeit zu genießen.
»Du hast noch nichts zu meiner Picknick-Idee gesagt«, bemerkte er, als eine kurze Pause in ihrer Unterhaltung entstand.
Es war noch nicht allzu lange her, dass sie Wil rigoros abgewiesen und sich bei dem Gedanken gesperrt hätte, einen ganzen Tag allein mit ihm zu verbringen. Doch er und sie verstanden sich gut, und sie fühlte sich wohl in seiner Gegenwart – also warum nicht? Wann hatte sie denn zum letzten Mal unbeschwert Spaß gehabt?
Anna vertilgte ihr Splitterbrötchen, das sie mit Butter und Erdbeermarmelade bestrichen hatte. »Sie ist großartig, deine Idee«, sagte sie. »Das wird bestimmt herrlich.«
Wil war sichtlich erfreut »Gut. Ich glaube zwar nicht, dass der Ausflug dich von deinem Wunsch, das Schloss zu retten, abbringt – ganz im Gegenteil, vermute ich –, aber wir können uns zumindest ein bisschen im Park umsehen.«
Anna begegnete seinem Blick. Er wirkte heute relaxter als sonst. Sein gestreiftes Hemd stand am Kragen offen und hing locker über die Chinos, und offenbar hatte er sich heute Morgen nicht rasiert, doch in Annas Augen machte ihn das umso attraktiver. Seine freundlichen grünen Augen sahen sie direkt an, und sein jungenhaftes Grinsen erschien häufig. Schließlich wandte er den Blick ab, nahm den Kassenzettel und ging an die Kasse, um zu zahlen.
Anna hatte angeboten, die Rechnung zu übernehmen, aber er wollte nichts davon wissen. Zufrieden lehnte sie sich auf ihrem Platz zurück. Draußen schien die Sonne, die Leute blieben auf den Wegen stehen, um miteinander zu plaudern, und man hörte Lachen und gut gelaunte Stimmen. Würde in Siegel doch nur eine ähnliche Atmosphäre herrschen! Bestimmt konnte sie etwas tun, um das Dorf zu retten.
Ihr war, als würde Max sie anspornen.
Die Fahrt zum Schloss verging schnell. Wil alberte herum und brachte sie zum Lachen, was Anna seit Max’ Beerdigung nicht mehr getan hatte. Die Landschaft war ihr nun schon vertraut – sie gefiel ihr immer besser. Die Bäume waren saftig grün, und als sie an das Schlosstor kamen und Anna ihr Fenster herunterließ, hörte man aus dem Park Vogelgezwitscher herüberwehen.
Sie stieg aus und bat Wil, das Tor allein öffnen zu dürfen. Er reichte ihr den Schlüssel, und wieder kräuselten sich seine Augenwinkel, wie sie es so liebenswert fand.
Anna drückte die Torflügel auf und lehnte sich in den Wagen, nachdem Wil hindurchgefahren war.
»Ich gehe von hier aus zu Fuß«, sagte sie.
»Kein Problem.« Wil winkte.
Anna zog die schmiedeeisernen Tore wieder zu und blieb einen Moment lang stehen, um die frische, saubere Landluft einzuatmen. Ein leichter Wind bewegte die Baumkronen, und es fühlte sich für sie wie ein Willkommensgruß an. Ihr war, als wollte das Anwesen ihr sagen, dass sie hierhergehörte.
Das hier war ihre Heimat.
Sie hörte, wie Wil am Haus den Motor abstellte. Sie freute sich schon darauf, die Gegend um den See herum zu erkunden.
Anna streckte sich nach der langen Autofahrt und ließ den Kopf rollen. Sie würde jeden Augenblick dieses herrlichen Tages genießen, weil sie genau wusste, dass Max es sich so wünschen würde.
Paris, 1938
Isabelle setzte sich, um den Brief von Max zu lesen. Sie hatte extra damit gewartet, bis Marthe sich zurückzog, um ihr Nachmittagsschläfchen zu halten. Virginia war unterwegs, und Isabelle wollte beim Lesen nicht gestört werden. Bis zu diesem Brief hatte sie seit Monaten nichts mehr von ihm gehört.
Doch ehe sie das dünne Papier mit Max’ verlässlicher Handschrift auffaltete, musste sie sich einen Moment lang sammeln. In diesem Brief mochte sie erfahren, was sie nicht wissen wollte. Sie hatte sich größte Mühe gegeben, sich Max aus dem Kopf zu schlagen, doch es hatte nicht funktioniert. Nach seinem letzten Besuch hatte sie immer wieder infrage gestellt, was sie für ihn empfand, aber wie viele junge Männer Virginia und sie auch kennenlernten, ihre Gedanken kehrten stets zu Max zurück.
Er war und blieb in ihrem Kopf.
Als Isabelle sich endlich durchrang und zu lesen begann, bestand Max’ Brief im Grunde nur aus Nachrichten über Hitlers Pläne. Er schrieb, dass viele Deutschen sich über das Verbot einer Eingliederung Österreichs, wie es im Versailler Vertrag festgelegt worden war, empört hatten, Hitler der Anschluss jedoch ohne Kriegshandlung gelungen sei, was nach Wochen der Anspannung und Unruhe eine große Erleichterung bedeute. Max schrieb außerdem, er habe Hitlers eindrucksvollen Einmarsch in Linz und Wien in der Wochenschau gesehen.
Doch Isabelle hatte in der Zeitung gelesen, dass Hitler von Österreich verlangt hatte, die Nationalsozialisten in die Regierung einzubringen sowie das Parteiverbot aufzuheben, andernfalls würde die Wehrmacht in Österreich einmarschieren. Die London Times hatte das mit dem »Ende Österreichs« betitelt.
Dem waren Berichte gefolgt, nach denen Deutschland plante, alle Deutschen außerhalb der eigenen Grenzen zu beschützen. Was das bedeutete, war erschreckend klar.
Isabelle ließ die Hand mit Max’ Brief sinken und stand auf, um ans Fenster zu treten.
Sie wünschte sich so sehr, sie hätte ihm in die Augen sehen und ihn fragen können, was er wirklich dachte. Sie hatte keine Ahnung, was sie ihm zurückschreiben sollte, und es tat ihr weh, dass sie nicht wusste, wann sie sich wiedersehen würden. Hatten sie sich versprochen, aufeinander zu warten – oder nicht?
Eines Morgens im September erreichte sie dann ein ganz anderer Brief von Max. Normalerweise fanden sich hier und da – wenn auch wirklich nur sporadisch – Andeutungen von persönlichen Bemerkungen in seinen Erzählungen; sie konnte einen Blick auf den Mann erhaschen, den sie für den echten Max hielt. Vermutlich geschah es, wenn er müde war und eher Gefühle zuließ – oder Verunsicherung verspürte.
Aber dieses Mal klang der Brief anders. Dringlicher. Isabelle las ihn in der Abgeschlossenheit ihres Zimmers.
Sobald sie fertig war, stürmte sie hinaus zu Virginia. Ihre Freundin saß am Flügel.
»Wir müssen nach London«, sagte sie leise.
Virginia hielt inne. Sie hatte Debussy gespielt. »Müssen wir das?«
»Verstehst du denn nicht? Ich kann nicht ohne dich gehen.«
Virginia stand auf, nahm Isabelle am Arm, ging mit ihr zurück in ihr Zimmer und schloss die Tür.
»Ich gehe davon aus, dass Max dich in London treffen will?«
Isabelle wich ihrem Blick aus. »Er ist auf Urlaub.«
»Aber das letzte Mal war er … höchst seltsam.« Virginia flüsterte die letzten Worte. »Und das hat dich sehr mitgenommen.«
Isabelle setzte sich an den Frisiertisch und begann, mit ihrem Haar zu spielen. »Ich muss herausfinden, was wirklich mit ihm los ist.«
»Bist du dir sicher, dass du einfach alles stehen und liegen lassen und die Koffer packen solltest?«, fragte Virginia.
War sie sich sicher? Wenn ihr Herz etwas zu sagen hatte – ja, dann war sie sich sicher. Sie wusste jetzt, dass keine Politik dieser Welt an ihren Gefühlen für Max etwas ändern konnte. Und sie musste sich vergewissern, dass er genauso empfand.
Isabelle stand wieder auf und trat ans Fenster. Vor dem Theater auf der anderen Straßenseite hatte sich eine Schlange gebildet. Leute unterhielten sich unter den Bäumen, deren Laub den ersten Hauch herbstlicher Rosttöne aufwies. Isabelle fasste einen Entschluss. Sie musste seine Arme um sich spüren, musste spüren, dass sie ihm immer noch so viel bedeutete wie zuvor, und sie wollte wissen, wie er sich die Zukunft vorstellte.
»Ja«, sagte sie also, »ich bin mir hundertprozentig sicher.« Sie wandte sich zu Virginia um. »Aber ich möchte, dass du mit mir kommst.«
Isabelle betrachtete ihre Freundin, die die Stirn gerunzelt hatte. Eine Weile schwiegen beide.
Dann ergriff Virginia das Wort. »Tja, der einzige Weg, diese Geschichte zu einem guten Ende zu bringen, ist wohl, eine Entscheidung herbeizuführen.«
»Weißt du«, bemerkte Isabelle, »du bist eigentlich gar kein feierwütiges Mädchen, für das alle dich halten.«
Ein reuiger Ausdruck huschte über Virginias Gesicht. »Na ja«, sagte sie, »zweier Dinge bin ich mir sicher. Erstens wirst du dich niemals mit einem dieser oberflächlichen Bürschchen zufriedengeben, und zweitens liebst du Max. Und das könnte das Einzige sein, was zählt.«
Isabelle schlang die Arme um ihre Freundin.
Niemand konnte sagen, was die Zukunft für sie bereithielt – für sie selbst, Virginia, Max, Deutschland oder Frankreich … aber eins stand fest: Wenn sie eine Chance hatte, glücklich zu werden, selbst wenn sie auch noch so gering war, dann würde sie sie ergreifen. Und zwar jetzt.
Schloss Siegel, 2010
Dieses Mal kümmerte Anna sich nicht um den jämmerlichen Zustand der Auffahrt und schenkte auch den Einschusslöchern in der Fassade kaum Beachtung. Hier zu sein fühlte sich einfach richtig an und beinahe so, als sei Max auch hier – als habe sein Geist sich hier niedergelassen. Er hatte den Kreis geschlossen, indem er Anna dorthin schickte, wo alles für ihn begonnen hatte. Aber warum war sein Leben in eine solche Schieflage geraten?
Wil hatte den Wagen vor der Terrasse geparkt. Er stieg aus und blickte über den ehemaligen Garten.
»Wollen wir erst ein wenig spazieren gehen?«, fragte er.
»Sehr gerne«, sagte Anna. »Danke. Auf den Park bin ich schon lange gespannt.« Sie öffnete die Autotür und wechselte die Schuhe; sie hatte noch rasch ein festeres Paar mitgenommen, als sie nach dem Frühstück ins Hotel zurückgekehrt war, um sich frisch zu machen.
Vor dem See befand sich der ehemalige Ziergarten – er war im französischen Stil abgesenkt. Von den Statuen, die einst die Wege verschönt hatten, waren nur noch die Sockel übrig. Eine schäbige Gartenbank stand in einer der natürlichen Nischen, die sich am Wegrand befanden, doch Anna konnte sich vorstellen, dass es früher hier ganz andere Sitzgelegenheiten gegeben hatte.
Als sie das Seeufer erreichten, blickte Anna fasziniert zu dem Gebäude auf der anderen Seite, das teilweise durch die Weiden am Ufer verborgen war.
»Das war die Orangerie«, erklärte Wil. Bisher hatte er wenig gesagt, aber Anna gefiel es, wie er immer dann zu lächeln begann, wenn sie sich ganz offensichtlich in einen neuen Aspekt des Anwesens verliebte. Sie war froh, mit jemandem hier sein zu können, der ihre Gefühle für die Heimat ihrer Vorfahren nachvollziehen konnte.
Anna spähte durch die schmutzigen Glasscheiben in das leere, staubige Gewächshaus, ehe sie sich wieder zu Wil umwandte. »Ich würde gerne einmal um den See herum gehen.«
»Dann tun wir das.«
Sie schlugen den Pfad zurück zum Ufer ein, der durch die Bäume hindurchführte. »Stell dir nur vor, hier aufzuwachsen«, sagte Anna. Wil war direkt hinter ihr.
»Ich weiß«, murmelte er. Dann blieb er stehen und deutete über ihre Schulter. »Schau mal.«
Etwas weiter voraus öffnete sich der Pfad ein Stück und führte zum grasbewachsenen Ufer hinab, wo sich eine kleine Brücke zur Insel befand. Kaum zu glauben, doch da war ein Boot an der Brücke vertäut, die Ruder so säuberlich zusammengelegt, als sei jemand nur rasch ausgestiegen und würde jeden Moment zurückkehren.
Wil näherte sich dem Boot, um es sich genauer anzusehen; Anna blieb stehen, schirmte ihre Augen mit der Hand ab und beobachtete ihn.
»Die Brücke sieht nicht besonders vertrauenserweckend aus«, rief er ihr zu. »Aber das Boot scheint vollkommen intakt. Hast du Lust, zur Insel zu rudern?«
Anna musste lächeln. »Unbedingt. Soll ich das Rudern übernehmen?«
Er erwiderte ihr Lächeln mit dem für ihn typischen Grinsen. »Das kann ich schon, Anna. Es gibt tatsächlich Dinge, die ich kann.«
Anna kam es so vor, als könne er eine ganze Menge Dinge, doch das würde sie jetzt nicht sagen. Sie folgte ihm an den Rand des Sees, wo er das Boot losmachte. Die Ruder steckten an beiden Seiten in den Metallringen und waren mit einem dicken Strick fest zusammengebunden.
»Das ideale Wetter für eine Spritztour«, bemerkte Wil. Erneut überprüfte er das Boot, und Anna inspizierte es ebenfalls. Obwohl es vermutlich spaßig wäre, zurück zum Ufer zu schwimmen, hatten sie beide keine Wechselsachen dabei, und das Wasser sah wenig einladend aus.
»Das klappt«, sagte Wil. Er stieg ins Boot und wandte sich ihr zu, um ihr hineinzuhelfen.
Verlegen nahm sie seine Hand, stieg ebenfalls ein und setzte sich, sobald sie dazu in der Lage war.
»Sollen wir zuerst um den See fahren?«, fragte Wil.
Anna lehnte sich zurück und spürte die Sonnenwärme auf ihrem Gesicht. Die Aufregung darüber, hier zu sein, hatte sie den Jetlag gänzlich vergessen lassen, doch nun überkam sie die Erschöpfung. Sie schloss für einen Moment die Augen.
Wil war still, und sie genoss das beruhigende Geräusch des Wassers, das gegen den Bootsrumpf plätscherte.
Als Anna die Augen wieder aufschlug, fuhren sie auf die Auffahrt und die Tore zu.
»Das ist ja wie ein verstecktes Paradies hier«, sagte Anna. »So idyllisch.«
»Das Land, das zum Schloss gehört, erstreckt sich noch meilenweit in östliche Richtung«, sagte Wil. »Einst war hier viel Nutzfläche und Wald in Privatbesitz, aber in der Ära der DDR wurde es Teil einer Kooperative.«
»Und jetzt ist der größte Teil wieder verkauft, nehme ich an?«
»Ingrid hat einiges zurückgeholt.«
Als das Schloss in Sicht kam, holte Anna ihre Kamera hervor und machte Aufnahmen der romantischen Fassade.
Als sie einmal um den See herum waren, steuerte Wil die Insel an. »Sollen wir dort halten?«, fragte Wil. Er deutete auf seinen Rucksack. »Du hast bestimmt Hunger, oder?«
Anna lachte. »Oh, diese Splitterbrötchen haben mich gut abgefüllt.«
»Diese Splitterbrötchen sind schon eine Ewigkeit her.« Wil begann wieder zu rudern.
Nachdem sie das Boot vertäut hatten und einmal um das kleine Eiland herum gewandert waren, stellte Wil den Rucksack unter einer Rosskastanie ab, unter der es angenehm schattig war. Der Tag war heiß geworden, und der See begann zu flirren. Eine Libelle schwebte über den Binsen im Wasser. Wil lehnte sich an den Stamm, während Anna sich auf die Decke setzte, die er mitgebracht hatte.
Es gab Baguette, Käse, Tomaten und Gurke und zum Nachtisch einen Zitronenkuchen, der von Sirup troff. Dazu hatte er Kaffee und Limonade eingepackt.
»Rosa Limonade.« Anna lächelte, als sie aus der kleinen Flasche trank. »So was habe ich, glaube ich, noch nie getrunken.«
»Ich könnte mir vorstellen, dass man das früher hier auch serviert hat«, sagte Wil in einem trägen Tonfall.
»Bestimmt.« Anna lachte wieder. »Und rosa Gin und Kaviar …«
»Anna?«
»Ja?«
»Eigentlich bin ich erstaunt, dass du dich noch gar nicht nach –«
»Nach Ingrid erkundigt hast?«
»Genau.«
»Na ja.« Anna legte sich auf den Rücken und blickte durch das sich sanft bewegende Blätterdach in den blauen Himmel. »Sie ist deine Mandantin. Ich wollte dich nicht bedrängen.«
»Löblich.«
»Vielleicht will ich sie einfach löchern, wenn ich ihr begegne … und spare mir meine Kräfte auf.«
»Komm schon. Du musst Fragen haben.«
»Warum hat sie letztlich eingewilligt, sich noch einmal mit mir zu treffen?«
Er schwieg einen langen Augenblick. »Ich weiß es nicht«, sagte er schließlich. »Vielleicht lag es an der Beerdigung, vielleicht ist sie sich bewusst geworden, dass Max endgültig fort ist.«
Anna nickte. Sie war beinahe zu müde, um weitere Fragen zu stellen, und sie wagte kaum zu hoffen, dass Ingrid ihr wirklich etwas Neues erzählen würde, aber sie wollte definitiv versuchen, etwas aus ihr herauszubekommen. Doch im Moment war sie zufrieden, sich auf dieser Decke in der Wärme der nachmittäglichen Sonne zu entspannen.
»Ich hätte da noch ein paar Fragen«, sagte Wil.
»Ich kann dir nicht garantieren, dass ich antworte.«
Doch die Stimmung hatte sich verändert. Er ging nicht auf ihre harmlose Provokation ein und konterte auch nicht mit einem Lachen.
»Ich bin neugierig … was dich betrifft.«
Anna spürte ein Flattern in der Magengrube. »Oh, da gibt es nicht viel, was die Neugier lohnt.«
»Ich verstehe, warum du alles stehen und liegen gelassen hast, um hierherzukommen, aber wartet nun abgesehen von deinem Unternehmen noch etwas anderes – ein Mann vielleicht – auf dich?«
Annas Herzschlag hatte an Fahrt aufgenommen. Als sie zum Sprechen ansetzte, schienen die Wörter in ihrer Kehle festzustecken.
»Ich, also, ich …«
»Na komm. Sag’s mir.«
Anna stützte sich auf einen Ellenbogen. »Da gibt es nicht viel zu sagen.«
»Ich wette, schon. Nein. Ich weiß, dass es so ist.« Seine Stimme klang betörend. Anna fühlte sich plötzlich noch träger … als spräche sie mit einem Schlangenbeschwörer. Und irgendetwas war auf einmal anders. Vielleicht lag es an dem Stress der vergangenen Woche, und vielleicht täte es ihr gut zu reden. Wil war vertrauenswürdig, und sie fühlte sich wohl in seiner Gegenwart.
»Also …«, begann sie und brach wieder ab.
»Versuch’s doch einfach.«
Aber vielleicht sollte sie doch nicht offen sprechen. Denn sie entwickelte Gefühle für Wil, die sie beunruhigten. Wenn sie ehrlich war, hatte sie sich noch nie in ihrem Leben derart zu einem Mann hingezogen gefühlt. Keiner hatte sie bisher so interessiert. Allerdings lebte er in Deutschland. Es war unmöglich. Sie durfte sich nicht auf ihn einlassen. Sie musste von sich ablenken. »Leben deine Eltern immer noch hier in der Nähe von Siegel?«, fragte sie mit fester Stimme.
»Nein, in Hamburg. Mein Vater ist in Rente, meine Mutter ist Ärztin und arbeitet noch. Es geht ihnen gut, und sie sind zufrieden. Sie haben wohl etwas richtig gemacht.«
Anna nickte. Etwas richtig machen. Warum war das so schwer? Manche Leute schienen es zur Kunst erhoben zu haben.
»Wenn du reden willst, höre ich dir gerne zu. Ich erzähle nichts weiter, das weißt du. Du musst natürlich nicht, wenn du dich unwohl dabei fühlst, aber ich bin davon überzeugt, dass es guttut, Dinge auszusprechen, um sie loszuwerden.«
Anna setzte sich auf. Ärgerlicherweise brannten mit einem Mal Tränen in ihren Augen. Angestrengt konzentrierte sie sich auf das Flimmern über dem Wasser.
»Okay«, sagte sie schließlich. Offenbar stand sie am Scheideweg. Wenn sie sich Wil gegenüber öffnete und Persönliches von sich erzählte, ging sie ein Risiko ein, das sie lange, lange Zeit tunlichst gemieden hatte. Dennoch wollte sie es. Wäre sie nur im Augenblick nicht so verwirrt, furchtsam und panisch und aufgeregt und beschwingt zugleich.
Es fiel ihr leichter, mit ihm zu reden, wenn sie ihn nicht ansah, wie sie bereits bemerkt hatte. Und warum war das so? Weil noch etwas anderes geschah, und zwar ohne dass sie es verhindern konnte. Und dieses Etwas war das Leben – der Wille, sich auf das Leben in all seiner Pracht einzulassen. Nun erkannte sie, dass Max nicht gewagt hatte, die Möglichkeiten, die das Leben ihm bot, auszuschöpfen, und dass sie selbst sich bisher lediglich risikofreie und daher bedeutungslose Beziehungen mit Männern zugestanden hatte.
Zum ersten Mal seit dem Tod ihrer Mutter und dem Umzug ihres Vaters fühlte sie sich lebendig.